hebt die Waffe hoch.
»Hast du noch ein Schießeisen, dann sage es lieber gleich, Dicknase. Es wird sonst schlimm für dich, verstanden?«
»Ich – ich habe keinen«, stottert Charlie und sinkt flach zurück. »Ich schwöre …«
»Gut, hast du gelogen, dann bestelle dir einen Platz auf dem Boot Hill. Ich mag es nicht, wenn jemand von hinten schießt. Kannst du aufstehen oder soll ich dir …«
Er will sagen, ob er ihm helfen soll, aber er verstummt mit einem knappen Räuspern.
Trevor Joslyn hebt den Blick über Charlie hinweg an und sieht nun drüben am Anfang der Straße hinter der Schmiede den Wagen kommen. Er erkennt auch Nat Parker neben dem Wagen, aber der Wagen ist wichtiger als Parker, der augenscheinlich gerade den Wagen überholt hat und nun im Galopp herankommt.
Trevor schließt einen Moment die Augen. Er sieht diese Frau auf dem Bock, ihr blondes Haar und den sanften Schwung ihrer Augenbrauen. Er erinnert sich nicht mehr an die Nase. Er sieht sie nun, und er denkt an jene Tage, an denen er sie – eine alberne Angewohnheit – mitten auf die Nasenspitze geküsst hat.
Mary Anne Sherburn ist erleichtert, aber sie beherrscht sich in der folgenden Sekunde bereits wieder. Die langen schwarzen Handschuhe über ihren schlanken Händen, dieses Kleid, über dem sie einen Spitzenumhang trägt – das alle verrät, dass sie es geschafft hat.
Manche Frauen erreichen alles, denkt Trevor bitter. Sie schaffen es, einen Mann verrückt zu machen, ihn zu locken und schließlich zu ruinieren. Sie hat die oberste Stufe der Leiter erreicht, ihr Lebensziel.
Warum ist sie gekommen?
Er hebt den Kopf, als der Staub vor den Hufen von Parkers Pferd in einem Schwall in die Luft fliegt und ihn und Charlie überschüttet.
»Dieser – dieser verdammte Trickser«, sagt Parker und hat alle Mühe, seine Worte herauszubekommen. »Was hatte ich dir gesagt, Charlie, was, he? Du Bursche, du hast mich getrickst! Ist er auf dich losgegangen, Trevor?«
»Es sieht so aus«, bemerkt Trevor sparsam. »Es ist eine faire Sache gewesen, Nat. Kein Grund, sich aufzuregen!«
»Für dich nicht«, erwidert Parker eingeschnappt. »Für dich ist nichts aufregend genug, aber für mich, mein Freund. Ich hatte diesem Burschen gesagt, dass ich keinen Schießer und keine Schießerei in der Stadt haben will, und er darum verschwinden solle. Und wo ist er jetzt? – Hier! Halunke, steh auf, sonst mache ich dir Beine. Du kommst so schnell ins Jail, dass du es gar nicht glauben wirst. Ich werde dir helfen, mich an der Nase herumzuführen, Charlie. Steh auf!«
Er steigt wütend ab und beugt sich über Charlie. Und es ist niemand da, der seine Wut nicht versteht. Schließlich hat ihn Charlie wirklich an der Nase herumgeführt.
Parker packt Charlie am Kragen, stellt ihn auf die Beine und zwingt ihn zu gehen, sagt aber nach zwei Schritten: »Trevor, beschuldigst du ihn des Mordversuchs?«
»Nein!«
»Was, zum Teufel – nein? Er hat doch versucht …«
»Er ist nicht groß genug dazu gewesen«, erwidert Trevor Joslyn kühl. »Von mir aus kannst du ihn laufen lassen!«
»Laufen …? Trevor, bist du verrückt?«
»Nein, ich denke nicht, Nat. Mach mit ihm was du willst«
»Du bist und bleibst – ein Narr!«
Und damit stößt Parker Charlie hart vor sich her und treibt ihn auf das Office zu.
Jetzt kommen die Leute auf die Straße. Saguaro läuft auf seinen leicht gekrümmten Beinen vom Wagen heran, Tonio folgt ihm.
Doch sie sind nicht eher am Vorbau des Saloons, als der Wagen mit Mary Anne auch dort eintrifft.
»Du – du, Trevor«, sagt Tonio keuchend. »Trevor, warum hast du ihm eine Chance gelassen? Hast du nicht seine Blicke gesehen? Dieser Bursche vergisst dir das nie. Ich sage dir, du siehst ihn wieder, und dann …«
»Mr Joslyn!«
Diese Stimme ist hinter Trevor, der sich umgedreht hat und zu seinen Leuten blickt, Mary Anne also den Rücken zuwendet. Er hört ihre Stimme und registriert instinktiv, dass diese Stimme etwas härter als früher klingt, nicht mehr so jung und nicht mehr so weich. Er kann sich noch gut erinnern, dass er immer hinten vom Hof aus in den Saloon gekommen ist, kaum einmal von vorn. Niemand in dieser Stadt weiß etwas von dem, was einmal zwischen ihm und Mary Anne war. Und wenn es doch jemand geahnt hat, geredet wird niemals einer haben.
»Ja?«, fragt er langsam und wendet sich zurück. »Hallo, Mrs Sherburn …«
Er studiert die Linien ihres Gesichtes. Er entdeckt keine Falte und muss feststellen, dass sie eher noch schöner geworden ist. Sie schlägt jetzt den Schleier zurück, ihre Augen funkeln einmal, aber dann erlischt dieses Funkeln.
»Mr Joslyn, Sie leiten das Treiben der Sichel-Ranch und der anderen kleinen Leute, hörte ich? Ich muss mit Ihnen reden, Joslyn, die Sache ist wichtig.«
»Ich wüsste nicht – nun gut, Madam.«
Ich werde sie fragen, denkt Trevor, ich werde sie fragen, warum sie gekommen ist, warum sie ihre Pferde gejagt hat und warum sie Angst hatte …? Angst um mich. Wie kühl sie ist, wie ausgefüllt von ihrer Rolle als Frau des reichsten Mannes in dieser Gegend. Nun gut …
»Tonio, wartet auf mich, es wird nicht lange dauern«, sagt er über die Schulter hinweg und geht los, tritt neben den Wagen und bindet die Pferde an den Balken, aus dem das Stück Holz fehlt. Dann geht er zurück neben den Bock und streckt die Hand aus. Die Leute sehen zu. Er hat einen Augenblick die Furcht, dass sich Mary Anne durch irgendeine Bewegung verraten könnte, aber sie bleibt ganz die stolze, hochmütige Besitzerin der größten Ranch in diesem Gebiet. Sie stützt sich nur leicht auf seinen Arm.
Ihr Kleid rauscht einmal, der Ring an ihrem Finger funkelt sogar durch das Netzgewebe ihres Handschuhes. Dann ist Mary Anne Sherburn herabgekommen und geht einen halben Schritt vor ihm auf den Saloon zu.
»Hallo«, sagt sie leicht zu den Männern dort, die sie gaffend betrachten. »Hallo, Hardin – Dutch.«
»Hallo …, Madam!«
Früher haben sie einfach Mary Anne zu ihr gesagt, jetzt wirken sie betreten, irgendwie zurückhaltend, alle jene Männer, die einmal bei ihr am Tresen gestanden haben. Sie ist die Frau des reichsten Mannes dieser Gegend. Die Schranke ist da, aber wahrscheinlich hat sie diese Schranke selbst errichtet. Trevor hat genug davon gehört. Sie kommt selten in diese Stadt und hat den Saloon hier nie wieder betreten.
Schon ist sie durch die Tür, die Marlow, der derzeitige Pächter, vor ihr aufreißt. Nicht einmal dann, als sie den Saloon verpachtete, ist sie in ihre alte Umgebung zurückgekehrt.
»Mr Marlow, ich brauche einen Raum, in dem ich ungestört mit Mr Joslyn reden kann«, sagt Mary Anne Sherburn herrisch und kühl. »Nun?«
»Sofort, Madam. Am besten – oben, das eine Zimmer – es steht noch so, wie Sie es gewollt haben. Ich …«
Gene Marlow stottert, hastet vor ihr her und reißt die Tür zum Gang auf. Die Männer starren Mary Anne Sherburn nach, als sähen sie eine Fremde, deren Erscheinung etwas Unwirkliches an sich hat. Und Trevor, der diese Blicke auffängt, erkennt noch eine Kleinigkeit mehr.
Alle diese Männer fragen sich jetzt, was Mary Anne von ihm will – und wissen die Antwort: Trevor treibt für die kleinen Leute, die von Adam Sherburn über die Schulter angesehen werden. Sherburn hat vor mehr als drei Wochen bei Trevor angefragt und eine Absage bekommen, um Slim Dorlanay einzustellen. Was wird jetzt? Versucht Mary Anne etwa, im Auftrag von Sherburn Trevor Joslyn zu kaufen? Will sie ihn davon abbringen, für die kleinen Leute zu treiben?
Nichts davon, denkt Trevor, gar nichts in dieser Richtung. Sie hat nicht umsonst ihre Pferde so gejagt, sie hat erwartet, mich tot vorzufinden, aber ich lebe noch.
Wer weiß, was sie Adam erzählen wird, Adam, bei dem ich einmal Vormann