In diesem Augenblick machte David Jericho, Undertaker, Sargmacher, Posaunenbläser und Marshal von Jerome, den dreißigsten Schritt. Er befand sich sieben Schritte vor der Einmündung der Gasse in die Mainstreet, als der schrille Indianerschrei die friedliche Stille über Jerome zerriß und gleichzeitig Hufschlag lostrommelte. Zudem wieherte jetzt ein Pferd grell. Und dann brüllte jemand lauthals: »Eddie, halt an! Du verdammter Narr, halt an, tue es nicht! Eddie!«
David Jericho Graves fuhr auf der Stelle herum. Das Gebrüll des Mannes übertönte den Hufschlag und das Wiehern des Pferdes. Jemand trieb sein Pferd westlich von Jericho hinter dem Schuppen heraus und kam rasend schnell näher. Der Mann hing auf dem Hals des Gaules, schrie wie ein wilder Apache und war nicht mehr als vierzig Schritte von Jericho entfernt. Er hatte schon vier oder fünf Pferdelängen hinter sich gebracht, als der zweite Reiter auf
einem nervös steigenden und auskeilenden Gaul um die Ecke von
Ben Ritchies Schnapsbrennereischuppen kam. Der Mann brüllte nochmals: »Eddie, du Idiot, halte an!«
David Jericho sah im Herumfahren, daß drüben auf dem Vorbau von Price’ Saloon ein halbes Dutzend Männer wie erstarrt zu dem wie irr heulenden Reiter blickte. Daneben blieb Mrs. Amely Carlton stehen und schien in all ihrer Hagerkeit zur Salzsäule zu werden. Ireen Douglas und der alte Masterson blickten wie gelähmt zu dem Reiter, und der bewegte in diesem Moment den linken Arm.
In der Mittagssonne blinkte der Colt in der Linken des Reiters.
»Du verfluchter Posaunentröter, dir werde ich…«
Das war alles, was David Jericho noch hörte.
Du großer Gott, der meint ja mich, durchfuhr es Jericho erschrocken. Himmel, der wird doch nicht etwa – der schießt, der Narr, der schießt!
David Jericho zauderte keine Sekunde länger. Er flog mit einem Riesensatz los. Dabei riß er die Posaune von der Schulter. Es waren sieben Schritte bis in die Gasse, doch Jericho wußte plötzlich, daß der Mann Eddie, dessen Namen der zweite Reiter ununterbrochen brüllte, schießen würde, ehe er sich in die Gasse retten konnte. Ob der augenscheinlich Verrückte Jericho jedoch aus vollem Galopp treffen konnte, war nicht sicher.
In die Gasse und dann nichts wie über den Bretterzaun von Talbots Hof, dachte Jericho entsetzt. Mein Gott, der schießt, aber warum?
David Jericho kam genau drei Schritte weit. Dann raste das Brüllen des Revolvers auch schon über die Straße.
*
Das Krachen des Schusses hallte wie Kanonendonner über die Main Street. Zugleich packte das Geschoß Jerichos teure Perinet-Posaune und irrte heulend ab. Aus den Augenwinkeln sah Jericho noch, daß Hank Davis seine Eve ins Haus stieß. Durch die Posaune fuhr ein so heftiger Ruck, daß sie Jericho beinahe aus der Hand geschleudert wurde. Jericho wurde etwas nach rechts gerissen, konnte die Posaune jedoch festhalten und schnellte dann dem Eckpfosten des Gehsteigdaches vor dem Generalstore entgegen. Er war knapp an ihm vorbei, als der zweite Schuß krachte.
Die Kugel fetzte einen handlangen Splitter aus dem Pfosten. Danach klatschte sie in die Giebelwand von Davis’ Sattlerei. Keine acht Schritte von der einschlagenden Kugel entfernt stand Angela Davis im schmalen Tor des Hofzaunes. Das Kind schien vor Schreck erstarrt zu sein.
Während Jericho mit einem verzweifelten Satz um Talbots Generalstoreecke fegte, krachte der dritte Schuß. Das Geschoß irrte jaulend als Querschläger an der Ecke ab und klatschte erneut in den Hausgiebel von Davis. Auch diese Kugel hatte Jericho verfehlt. Jericho raste weiter, sah die zu Tode erschrockene Angela Davis und schrie sie an. »Zurück, Angela, hinter das Tor! Mach das Tor zu, Kind, schnell, schnell!«
Der scharfe Anruf löste endlich Angelas Starre.
»Oh, mein Gott!« stammelte Angela verstört, wandte sich um und hastete hinter das Tor. Gleichzeitig sauste Jericho am Storegiebel vorbei. Er erreichte den hohen Bretterzaun von Talbots Hof, griff mit der Linken auf die angespitzten Bretter und warf sich dann aus vollem Lauf hoch. Dabei preßte Jericho seine Posaune mit der Rechten an sich. Wie er über den Zaun kam, wußte er nicht. Er landete einknickend in Talbots Hof. Zugleich steigerte sich das Getrommel der Hufe, und der Widerhall des Hufschlages fing sich an Davis’ Hausgiebel.
Allmächtiger, der Kerl kommt mir nach, dachte Jericho entsetzt. Wer ist der Bursche, warum hat er auf mich gefeuert? Himmel, der Narr kommt und…
In dieser Sekunde ließ Jericho seine Posaune fallen. Und dann flog er mit zwei Sätzen an das breite Tor, sah den Riegel, hob ihn blitzschnell aus und lugte knapp über das Tor hinweg. Zu seinem Schreck sah er, daß Angela die schmale Tür im Zaun drüben noch immer nicht geschlossen hatte.
»Die Tür zu, Angela!«
Es war das letzte, was Jericho noch rufen konnte. Jericho mußte handeln, ehe der Verrückte ihn entdecken und noch einmal auf ihn schießen konnte. Der Irre raste jetzt im vollen Galopp in die Gasse, und er würde sein Pferd kaum vor diesem breiten Einfahrtstor stoppen können.
David Jericho sah eine Chance, und er war nicht der Mann, der auch nur eine Sekunde zauderte, um diese Chance zu nutzen. Jericho hörte am Hufschlag, daß der Mann in die Gasse raste. Im selben Moment klappte drüben die Tür im Bretterzaun zu.
»Du verfluchter…«
Das war alles, was Jericho den Kerl noch schreien hörte. Das Brüllen des nächsten Schusses raste durch die Gasse. Drüben schrie Angela Davis durchdringend.
Du verdammter Kerl, wenn du das Mädchen getroffen hast, passiert dir etwas, dachte Jericho wütend. Du schießwütiger Narr, zur Hölle mit dir!
David Jericho warf sich mit aller Kraft gegen den schweren Torflügel. Der mächtige Flügel schwang sofort in die Gasse hinein, und indem ihm Jericho losrennend immer mehr Schwung gab, näherte sich das Pferd von rechts. Wenn Jericho etwas wußte, dann war es der Weg, den ein Pferd brauchte, ehe es angehalten werden konnte. Es war ausgeschlossen, daß es jemand schaffen konnte, seinen Gaul jetzt noch zur Seite zu reißen oder ihn zum Sprung über das Tor hochzuziehen. Das Tor kam viel zu schnell. Der Reiter mußte voll gegen diese schweren Bohlen jagen.
Wenn Jericho auch weder den Mann noch den Gaul sah, so hörte er doch durch den Hufschlag genug. Erst in jenem Moment, in dem Jericho dem Tor einen letzten gewaltigen Stoß verpaßte, hörte er den schrillen Entsetzensschrei des Verrückten, dem das trompetenhafte Wiehern des Pferdes folgte.
David Jericho warf sich rasend schnell zur Seite, landete am Boden und schaffte es gerade noch, sich erneut abzustoßen und hinter den Torpfosten zu kommen.
Und dann gab es einen so fürchterlichen Krach, als hätte ein Riese mit seiner Keule gegen das schwere Tor geschlagen. Keine vier Schritte von Jericho entfernt erschien etwas über dem Tor. Eine Riesenfledermaus tauchte jäh über den dicken Bohlen auf, und Jericho kam es vor, als zeichnete sich nichts als das blanke Entsetzen auf ihrem Gesicht ab. Die Riesenfledermaus war jener schießwütige Kerl, der wie aus einer himmelwärts gerichteten Kanone geschossen über das Tor hinwegflog.
Zuerst glaubte Jericho, vor Staunen Mund und Augen aufreißend, daß der Bursche immer weiter fliegen und über den Fellschuppen von Hank Davids hinwegsegeln wollte. Es war der ungeheuerste Flugversuch, den Jericho jemals hatte einen Mann unternehmen sehen. Anscheinend war genau das passiert, was sich David Jericho binnen zwei Sekunden ausgerechnet hatte. Der Gaul mußte voll vor den Torflügel gerast sein. Sein Reiter hatte es nicht einmal mehr geschafft, das Tier hochzuziehen. So mußte ihn der fürchterliche Anprall glatt aus den Steigbügel gefegt haben, und er flog nun wieder dem Boden entgegen. Warum er sich ausgerechnet die Regentonne an der zurückspringenden Ecke von Hanks Fellschuppen als Landeplatz aussuchte, blieb Jericho ein Rätsel.
David Jericho sah den Mann, aus dessen Linker der Colt verschwunden war, wie eine flügellahme Krähe herabkommen. Und dann erst entdeckte Jericho das Wollknäuel hinter der großen Regentonne. Das Wollknäuel wurde »Hunter« genannt, hatte vier zottelhaarige Beine und überhaupt so viel Fell, daß man manchmal nicht wußte, wo sich Kopf und Schwanz dieses riesigen Mischmaschhundes befanden.
Hunter