Joanne Bischof

Mein Herz hört deine Worte


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in Virginia.“

      Haakon lachte. „Botetourt County. Nicht weit entfernt von Eagle Rock – einem der schönsten kleinen Orte in dieser Gegend. Jeden zweiten Freitag findet ein Schachturnier im alten Schulgebäude statt. Und du hast nur knapp das monatliche Quilt-Treffen verpasst.“ Er zwinkerte und nahm dann die Zügel in eine Hand. „Und natürlich bist du noch immer auf unserem Land. Nun ja, so gut wie unserem Land.“

      „Wir sind noch immer auf der Plantage?“, fragte Ava. Immerhin waren sie bereits ein ganzes Stück gefahren.

      „Ja. Umfasst gerade etwas über dreihundert Hektar. Ein Drittel der Fläche besteht aus den Plantagenbäumen. Im Osten stehen ein paar Hütten. Die meisten sind ziemlich heruntergekommen, aber im Westen der Farm gibt es ein paar Gebäude, die wir wieder herrichten. Eigentlich nur einen Steinwurf weit vom Haus entfernt. Irgendwann werden wir dir auch die zeigen.“

      Nun deutete er in die entgegengesetzte Richtung. „Da drüben wohnt Cora mit ihrer Familie in einer kleinen Hütte. Ihr Mann hatte sie noch ziemlich schön ausgebaut, bevor er verstorben ist.“

      Haakon zeigte in noch eine andere Richtung. „In dieser Richtung liegt die Sorrel-Farm. Die Männer, die in der einen Nacht da waren.“

      Ava kniff die Augen zusammen, doch bevor sie die entfernten Wälder und Hügel in den Fokus nehmen konnte, deutete Haakon schon wieder in eine neue Richtung. „Wir haben noch andere Nachbarn, mit denen wir im Frieden leben. Hier und dort findest du ein paar Teiche. Ansonsten besteht das Land nur noch aus Feldern und Wäldern.“ Er lehnte sich etwas näher. „Pa hat früher immer erzählt, dass sich vor langer Zeit Thor einen erbitterten Kampf mit drei Giganten geliefert hat. Der Gott Thor, Odins Sohn, nicht mein Bruder. Obwohl ich mir das genauso gut vorstellen könnte.“

      Ava lächelte.

      „Im Laufe der Geschichte stellte sich heraus, dass die drei Giganten vorhatten, das Land und alles, was darauf wuchs und gedieh, zu zerstören.“ Er deutete nach Osten, seine Stimme klang angenehm in Avas Ohren. „Doch Thor kämpfte tapfer und als es zum letzten Kampf kam, schwang Thor seinen Hammer mit solcher Wucht, dass er nicht nur die Giganten besiegte, sondern auch dieses Tal dort formte.“

      „Es ist ganz schön riesig“, meinte Ava.

      „Oh ja. Als Kind wollte ich es einmal durchqueren. Dabei habe ich mich verlaufen und Pa hat mich erst zwei Tage später gefunden. Er hat mich heimgetragen und mich den Rest der Woche einen Brunnen in der Nähe des Flusses graben lassen. Hat gesagt, dass so ein Mann aussieht, der sich zum Narren macht.“

      In seinen blauen Augen lag ein zärtlicher Ausdruck, der Ava sagte, dass die hart gelernte Lektion heute eine wertvolle Erinnerung war. Ava konnte sich den Vater genau vorstellen – bärtig und stolz, wie die starken Norweger eben waren –, der seine Jungs auf den Schoß nahm, um ihnen die alten Geschichten und Legenden zu erzählen, und sie durchs Leben führte, so gut er eben konnte.

      „Und wie ist deine Familie in Virginia gelandet? Dorothee hatte einmal erwähnt, dass sie Norwegen in der Zeit der Hungersnot verließ. Eure Eltern auch?“

      „Nein. Sie kamen irgendwann später, kurz bevor Jorgan geboren wurde. Zu dieser Zeit wohnte Dorothee noch in North Dakota und zog dann hierher, um bei ihnen zu leben. Hat sich um uns Kinder gekümmert und solche Dinge.“

      „Scheint, als hätte sie alle Hände voll damit zu tun gehabt“, meinte Ava.

      Haakon grinste.

      Die Pferde trampelten bergab in ein dichtes Wäldchen. Vögel zwitscherten einander zu, während sie von Ast zu Ast flogen. Der Weg wurde immer schmaler und mit einem Befehl an die Pferde ließ Haakon den Wagen langsamer werden. Als die Räder schließlich stillstanden, hüpfte er vom Wagen und half Ava hinab.

      „Danke“, sagte sie und richtete ihre Röcke.

      Derweil lud Thor die Eimer aus. Seine Brüder eilten ihm zu Hilfe, doch bevor Ava auch nur nach einem Eimer greifen konnte, streckte Thor ihr einen entgegen.

      „Fang an, wo du willst“, rief Haakon ihr zu und deutete auf die vielen dornigen Sträucher, die sich in jede Richtung erstreckten.

      Ava zupfte eine Frucht von dem nächstbesten Busch. Sie war so warm und saftig, dass ihr der Saft herabtropfte. Die Versuchung war groß und Ava gab nach: Sofort war die Beere in ihrem Mund verschwunden. Himmel, war das gut. Die nächste Frucht ließ sich genauso gut vom Strauch lösen, doch diesmal legte sie die Beere in den Eimer. Auch die Brüder begannen nun mit dem Pflücken. Eine Handvoll nach der anderen sammelten sie in ihren Eimern. Noch nie hatte Ava Beeren in solcher Fülle und Reife gesehen.

      Bereits nach wenigen Minuten war ihr Eimer bis zum Rand gefüllt. In der stickigen Hitze hob Ava den Saum ihres Kleides an und wedelte damit ihren bestrumpften Beinen Luft zu. Schweiß färbte den Stoff ihres Kleides an der Brust dunkel. Da auch die Männer längst ihre Ärmel zurückgeschoben und die Hemdkragen geöffnet hatten, knöpfte auch Ava sich ihren Kragen auf und wedelte sich Luft zu. Dankbar begrüßte sie die leichte Brise, die durch das Wäldchen fuhr.

      Im Unterholz knackte es, als Thor näher kam. Er arbeitete schnell und effizient, seine langen Finger lösten die Beeren mit Leichtigkeit von den Ranken. Seine Augen waren ganz auf den Strauch vor ihm gerichtet und er atmete lauter als die anderen. Es sah so liebenswert aus, dass Ava lächeln musste.

      Thor hob eine der dornigen Ranken an und löste eine Traube von Früchten ab. Er schien in vollkommenem Einklang mit seiner Arbeit zu sein. Diese Sicherheit und Zufriedenheit. Vielleicht lag es an der Art, wie er die Führung übernahm und seine Brüder ihm gehorchten. Die Männer arbeiteten so gewissenhaft und die Eimer füllten sich so schnell, dass Ava bald realisierte, dass es hierbei nicht um ein normales Brombeerpflücken ging. Zweifelslos würde Thor aus einem großen Teil der Beeren mehr kochen als nur Marmelade.

      Während sie eine Handvoll Beeren auf den Berg von Früchten in ihrem Eimer fallen ließ, versuchte sie die Trauer zu ignorieren, die diese Vorstellung in ihr wachrüttelte. Sie hatte versprochen zu helfen und hier war sie nun. Dennoch überschattete der Gedanke an den Schnaps die Freude an dieser Aufgabe. Vor allem, als Erinnerungen an Benn in ihr wach wurden und sie an die Macht dachte, die eine Flasche solchen Inhalts über ihn gehabt hatte. Das daraus resultierende Leid hatte sich über ihr gemeinsames Leben gelegt.

      Haakon kam mit zwei Eimern angelaufen und überreichte ihr den einen, der bis zur Hälfte gefüllt war. Da Ava in Gedanken noch immer bei ihrem Leben in Norwegen war, war es nicht verwunderlich, dass ihr Danke als „Tusen Takk“ herauskam.

      Haakon sah sie an. „Bitte?“

      Ava richtete sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über die schweißnasse Stirn.

      „Sprichst du kein Norwegisch?“, fragte sie.

      „Nicht wirklich“, antwortete Haakon, während er um sie herumging. Als sich der Saum ihres Kleides in einem Dorn verhedderte, beugte er sich hinab, um ihn zu befreien. „Ich kann unsere Namen so norwegisch aussprechen, als wäre ich dort geboren worden.“ Er richtete sich auf. „Johrgahn“, sagte er statt des englischen Jorgin. „Dann gibt’s da noch den lauten und manchmal etwas tollpatschigen Tohr.“ Dabei rollte er das R. Anschließend sprach er seinen eigenen Namen aus, genauso wie man in Norwegen zu den alten Königen gesagt hatte: „Hohkun. Außerdem kann ich Potetlefse sagen. Das war’s aber auch schon.“

      Ava kannte den Namen für das Kartoffel-Fladenbrot und kicherte.

      „Pa konnte es gut, hat aber fast nie Norwegisch gesprochen. Ich kann mich nur an wenige Gelegenheiten erinnern. Thor kann es lesen und schreiben, aber ich habe mich nie damit beschäftigt. Sah es immer als Zeitverschwendung.“

      „Und was ist mit deiner Mutter?“, fragte Ava. Sie wusste kaum etwas über die Eltern der Männer, abgesehen von den Fotografien, die im Großen Saal hingen. Offensichtlich hatte Haakon die hellen Augen und Locken seines Vaters und Thor die dunklen Haare seiner Mutter geerbt. „Hat sie mit dir Norwegisch gesprochen? Oder norwegische Schlaflieder gesungen oder …“

      „Nicht