Morgen war bereits hereingebrochen und die Sonne ließ ihre goldenen Strahlen in den Raum fallen. Neben Ava lag Thor auf dem Bauch, aber ohne Kissen. Er hatte ein Bein angewinkelt und einer seiner Arme lag vor seinem Gesicht, als wolle er damit den Tag von sich fernhalten. Dem stetig auf und ab sinkenden Rücken nach schlief er tief und fest. Hatte er wirklich die ganze letzte Nacht direkt neben ihr geschlafen? Seine Anwesenheit bestätigte das. Sollte Ava auf der Farm bleiben, dann würde sie lernen müssen, diese Männer als ihre Brüder zu sehen. Wieder ließ sie ihren Blick zu Thor wandern.
Leichter gesagt als getan.
Ava stand auf und ging behutsam in die Küche. Den Tisch hatte man bereits wieder aufgestellt, aber die Scherben einer zersprungenen Vase lagen noch auf dem Boden. Die Luft roch nach verbranntem Holz und ein Blick aus dem Fenster zeigte, dass das Holzlager nicht mehr in Flammen stand. Rauchschwaden zogen von den verkohlten Holzbrettern in den Himmel und verpufften.
Noch war alles still im Haus, darum nahm Ava den weichen Besen und fegte die Scherben zusammen. Nachdem sie die Besenschaufel gefüllt hatte und weil Jorgan darum gebeten hatte, im Haus zu bleiben, holte Ava sich einen Eimer aus der Vorratskammer und füllte die Scherben dort hinein. Gehörte diese Art von Aufstand zum Alltag in dieser Gegend? Nicht zum ersten Mal war sie Zeuge von Auseinandersetzungen gewesen, aber noch nie hatte sie solch ein Ausmaß an Hass erlebt. Wie Soldaten waren diese Männer gewesen. Als ob sie in den Blackbird Mountains Patrouille gehen würden. Irgendwo in unbestimmter Ferne wachten Frauen neben ebendiesen Männern auf, die noch in der Nacht als verhüllte Gestalten hier auf dem Hof unter dem abnehmenden Mond gestanden hatten.
Ava stellte den Eimer zur Seite und eilte ans Fenster. In ihrem Herzen herrschte Krieg. Wie gerne würde sie zu dem Moment in der Hütte zurückkehren und Thor anders behandeln. Doch dieser Wunsch würde nie in Erfüllung gehen, weil die Zeit nicht zurückgedreht und die Taten nicht zurückgenommen werden konnten. Allein die Gnade eines neuen Tages blieb. Und so, wie Cora und Ida eine bessere Welt für sich und ihre Familie verdienten, so wünschten sich diese Frauen sicher auch eine bessere Welt für Thor und seine Art, die ihn von den anderen unterschied. Eine Welt, in der er als Mensch genauso akzeptiert werden würde wie sie.
Bei dem Klang von ungleichmäßigen Schritten drehte Ava sich um und sah Ida die Küche betreten. Kurz darauf band sie sich eine Schürze um. Die gute Frau warf Ava ein müdes Lächeln zu, bevor sie aus der Vorratskammer einige Kartoffeln aus dem Eimer fischte. Ava hängte den Besen und die Schaufel an ihren Ort. Kurz darauf kam Cora in die Küche und schob leise summend eine große Pfanne auf den Herd. Zuletzt schloss Tess sich ihnen in der Küche an und hob Teller aus dem Wandregal. Der Raum war erfüllt von dem sanften Rhythmus aus Zuneigung und Freundlichkeit.
Jede Frau arbeitete im Stillen für sich, als wären ein paar Minuten Stille genau das, was das Haus an diesem Morgen nötig hatte. Ein Haus, das sich für Ava immer mehr wie ein Zuhause anfühlte. Dieses angenehme Gefühl wurde jäh gedämpft, als Avas Blick auf den Boden fiel, auf dem getrocknete Blutstropfen das Dilemma des letzten Abends offenbarten. Auf der Suche nach einem Lappen sah Ava sich um.
Ida hielt sie auf. „Der Boden ist das Letzte, um das wir uns in diesem Moment kümmern müssen. Lass uns lieber eine Salbe für Thors Arm anrühren“, wies ihre freundliche Stimme Ava auf die wichtigen Dinge des Morgens hin. Sie goss dampfendes Wasser aus dem Kessel über dem Feuer in eine Schüssel und gab etwas Salz hinzu, das das Wasser trübte. „Wir verlieren besser keine Zeit.“
„Soll ich ihn holen gehen?“, bot Ava sich an.
„Bitte“, nickte Ida.
Mit einem nervösen Seufzen lief Ava in den Großen Raum hinüber. Thors Schlafplatz war leer. Stattdessen stand er vor den Fenstern und starrte hinauf zu der zerbrochenen Fensterscheibe, als würde ihm die Kraft für irgendetwas anderes fehlen. Mit einer Hand fuhr er sich über den dichten Bart in langsamen, bedächtigen Zügen. Als Ava näher trat, fiel sein Blick in ihre Richtung. Sein schwarzes Haar war so zerzaust wie immer und er warf es sich über die Schulter zurück. Getrocknetes Blut färbte den Verband oberhalb des Ellbogens dunkelrot.
Es fühlte sich komisch an, darauf zu vertrauen, dass er sie verstehen konnte, doch Ava sprach trotzdem: „Ida will sich deinen Arm ansehen. Es tut mir wirklich leid, dass ich das getan habe.“
Während sein Blick auf ihren Lippen lag, leckte er sich über die eigenen. Er legte seine flachen Hände übereinander und ließ die rechte über die linke kreisen, während er gleichzeitig mit dem Kopf schüttelte.
War das eines seiner Wörter? „Ich … Ich fürchte, ich verstehe nicht.“
Thor klopfte sich auf die leere Hemdtasche, dann griff er in die Schublade des nebenstehenden Schreibtisches und holte einen kleinen Notizblock und den Stumpf eines Bleistiftes heraus. Die Hand, mit der er schrieb, zitterte. Ava versuchte nicht an den Grund dafür zu denken, während er ihr das Geschriebene reichte.
Nicht entschuldigen.
Ava fuhr mit den Fingerspitzen über die kantigen Buchstaben. Dann sah sie hinauf in sein Gesicht. „Das war dir gegenüber nicht gerecht.“
Seine Stirn legte sich in Falten, als würde er sie nicht verstehen. Er zog ihr den Notizblock aus der Hand und begann einen neuen Text. Der Block versank in seiner riesigen Hand, als er ihn ihr zeigte. Hatte noch nie so würdigen Gegner.
Mit geschürzten Lippen warf sie ihm einen schrägen Blick zu. Thor lächelte. Während er den Block und den Stift in seine Brusttasche gleiten ließ, zitterte seine Hand noch stärker als zuvor. Das hinterließ keinen Zweifel daran, dass er sich nach etwas deutlich Stärkerem sehnte als nach dem Kaffee, der auf dem Herd gebraut wurde. Der Duft danach füllte die Luft und Ava fragte, ob sie ihm eine Tasse füllen sollte. Thor nickte, obwohl er mit seinen Gedanken ganz woanders war. Er berührte seine mit getrocknetem Blut verzierte Armbinde, dann hob er ihr Handgelenk an. Mit der anderen Hand schob er ihren Ärmel zurück. Ihre entblößte Haut war ebenfalls mit rostroten Schrammen übersäht.
Unter seinem Daumen pochte Avas Puls, doch Ava hatte das Gefühl, dass diese Art von Berührung normal für ihn war. Sorgsam achtete sie darauf, nicht zurückzuzucken. Stattdessen studierte sie sein Gesicht. War es das, worauf Ida gestern Abend angespielt hatte?
Mit zusammengezogenen Brauen machte Thor eine schrubbende Bewegung, als ob er sie darum bitten wolle, das Blut von ihrer Haut abzuwaschen. Sein Blick flehte sie an. Betroffen von seiner Sorge um sie nickte Ava. „Ja“, sagte sie mit schwacher Stimme und räusperte sich. Doch schon beim nächsten Wort fiel ihr ein, dass er sie so oder so verstanden hätte. „Aber zuerst kümmern wir uns um deinen Arm.“
Am Tisch sitzend beobachtete Thor, wie Cora den blutigen Verband löste und abnahm. Auf Idas Bitte hin knöpfte er sich das Hemd auf und saß still, während sie vorsichtig an dem verkrusteten Ärmel zupfte. Thor biss die Zähne zusammen. Er schwor sich, keinen Laut von sich zu geben.
Ida streifte den Ärmel von seiner Schulter und schob ihn hinunter, sodass der Arm frei lag. Derweil weichte ihre Schwester ein Tuch ein, wrang es aus und presste es auf die Wunde. Die Wärme tat gut, aber irgendetwas brannte. Salz?
Eine Dampfwolke stieg aus dem Kessel auf und Cora erhob sich rasch. Nachdem sie Ava herangewunken hatte, drückte sie ihr das Tuch in die Hand und eilte an die Feuerstelle. Ava tat, wie ihr geheißen, und übte mit ihrer kleinen Hand sanften Druck auf das Tuch an Thors Oberarm aus. Ihre hellbraunen Augen wanderten über sein Gesicht. Thor senkte den Kopf und sah nicht mehr auf, bis Cora ihm das Knie tätschelte.
„Ich muss mir das genauer ansehen“, sagte sie, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. Thor wagte einen Blick in Avas Richtung, die sich zurückgezogen hatte. Die junge Frau sah aus, als würde sie gleich zu weinen anfangen. Es rumorte in seiner Brust. Zum einen wollte er ihr versichern, dass alles in Ordnung war, zum anderen spürte er Freude in sich aufsteigen. Freude darüber, dass er ihr offensichtlich nicht egal war und sie sich um sein Wohlergehen sorgte. Ein warmes Gefühl. Eines, an das er sich gewöhnen könnte.
Thor zuckte zusammen, als