Joanne Bischof

Mein Herz hört deine Worte


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alles andere seinen gewohnten Gang gehen konnte. Eine nie endende Aufgabe, ging es dabei nicht nur um Gebäude, sondern vor allem auch um das Wohlergehen seiner Familie.

      Darüber hinaus behandelten sich die Männer gegenseitig mit Respekt und Umsicht. Ein geknüpftes Band der Bruderschaft, von dem Ava nur wenig verstand.

      Nachdem sie die Feuerstelle gesäubert hatte, wandte Ava sich dem kleinen Schachtisch daneben zu. Die Spielfiguren standen verteilt auf dem Brett herum. Ein Spiel, das noch nicht beendet wurde. Mit dem Lappen in der Hand wischte Ava vorsichtig um das Brett herum und bemerkte runde Abdrücke von Tassen auf dem Holz. Oder von Gläsern …

      Irgendetwas sagte Ava, dass es sich hier um Thors Platz handelte.

      Sie kehrte unter dem Tisch und fegte Pfeifenasche und zwei angekohlte Streichhölzer auf. Ava roch den Duft frisch gebackenen Brotes und weil Ida noch an der Wäscheleine draußen beschäftigt war, ging Ava in die Küche, um nach dem backenden Brot zu sehen. Ida und sie hatten es gemeinsam geknetet. Sie spähte in eine der sechs Formen im Ofen; die Kruste war noch immer ziemlich bleich. Dann schloss sie die eiserne Klappe wieder. Ein paar Minuten würde es noch dauern.

      In Norwegen hatte Farfar Øberg ihr einiges über das Backen beigebracht, während sie in der Wohnung über seinem Geschäft gelebt hatte. Der großväterliche Mann hatte sie immer wieder daran erinnert, das Brot nicht mit dem ständigen Hineinluken zu verderben.

      Ava lächelte.

      Als die Zeit zum Abendessen näherrückte, sah sie nach dem Braten, den sie bereits vor Stunden angesetzt hatte. Das Fleisch war zart und saftig, die Soße blubberte. Vorhin hatte Ida ihr das Quellhaus gezeigt und das zur Verfügung stehende Fleisch. Beides befand sich in der steinernen Hütte, die sich zwischen die Hügel schmiegte. Kaltes Wasser floss aus der Quelle in der Mitte und auf aus Steinen gefertigten Regalen lagerten Butter, Fleisch und besondere Käsesorten. Rindfleisch in Massen. Wurstketten und Schinkenstreifen. Etwas Wildfleisch und die gesprenkelten Eier. Das meiste davon hatte Ida bei einem Nachbarn erstanden. Ebenso wie die Milch.

      Jorgan hatte erwähnt, dass sie im Überfluss lebten. Langsam dämmerte es Ava, was er damit meinte.

      Nachdem die Brotlaibe aus dem Ofen geholt wurden und dampfend auf dem Tisch standen, kam Ida herein. Mit einem Löffel in der Hand verschwand die hinkende Haushälterin auf die Veranda und schlug gegen die dort hängende Triangel. Kurz darauf stapften die hungrigen Männer ins Haus und waren alles andere als glücklich über Idas Befehl, sich vor dem Essen Hände und Gesicht zu waschen.

      Ava stellte sich schnell auf Idas Seite und schlug Haakons schmutzige Hand weg, als dieser sich am duftenden Braten vergreifen wollte. „Das ist das Mindeste, das du für eine warme Mahlzeit tun könntest“, tadelte sie.

      Den Löffel noch immer in der Hand, stand Ida in der Küche und kicherte. „Ich werde es genießen, dich um mich zu haben.“

      Im Gänsemarsch folgten die Brüder einander hinaus zur Pumpe, während Ida bereits die Teller mit gedämpftem Gemüse aus dem Garten und dem zarten Fleisch füllte. Als Erster kehrte Haakon zurück. Er war klitschnass, von den Schultern an aufwärts, als habe er noch nicht gelernt, richtig zu zielen. Als Jorgan eintrat, griff er nach einem Handtuch, um sich Hände und Unterarme abzutrocknen. Zuletzt betrat Thor die Küche. Sein feuchtes Haar war dunkel wie gegerbtes Leder. Auf dem Weg zum Herd warf er es über die Schulter zurück. Unsicher bewegte er sich um Ava herum, als würde er nicht genau wissen, wie er sich in einem Raum mit ihr verhalten sollte.

      Ava wünschte sich, etwas sagen zu können. Aber sie wusste weder was noch wie. Nach ihrem Patzer am Frühstückstisch und seiner harschen Reaktion blieb sie lieber still.

      Die beiden anderen Brüder hatten sich bereits bedient, darum griff Ava nach dem letzten gefüllten Teller. Als sie ihm den Teller reichte, blickte er sie ungläubig an. Dennoch nickte er ihr mit dem Kopf ein stilles Danke zu und nahm den Teller mit einer Hand entgegen. Ava fiel auf, dass sie nicht mehr zitterte. Obwohl es nichts an Thors Manieren auszusetzen gab, wusste Ava, dass er ziemlich viel getrunken haben musste. So hatte es Jorgan vorausgesagt. Er wirkte so anders als an diesem Morgen; sehnte sich nicht mehr so verzweifelt danach. Welch ein trauriger Kompromiss.

      „Du solltest dir besser auch was nehmen“, riss Ida sie aus ihren Gedanken und holte zwei weitere Teller heraus.

      Nachdem Ava genau das getan hatte, trug sie ihren gefüllten Teller in den Großen Raum. Er wurde von der untergehenden Sonne in warmes Licht getaucht. Die Männer hatten sich bereits gesetzt und ihre beschäftigten Gabeln reflektierten die frühe Abendsonne.

      Also aßen sie nicht am Tisch. Oder sprachen ein Gebet vor dem Essen. War es anders gewesen, als Dorothee noch hier gelebt hatte?

      Haakon saß an einem Ende auf dem Sofa und Ava wandte sich zur unbesetzten Hälfte. Ida ließ sich in ihrem Schaukelstuhl nieder. Er knirschte leise, als sie ihn in Bewegung setzte. Während sie aßen, unterhielt sich Haakon mit beiden Frauen. Er unterbrach sich nur, um aufzustehen und sich einen Nachschlag aus der Küche zu holen.

      Auch Thor nahm sich ein zweites Mal und schaufelte sich seinen Teller doppelt so voll, wie Ava es getan hatte. Mit einer Hand hielt er den Teller fest, mit der anderen stieß er die Tür auf und verschwand nach draußen. Ava richtete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrem Essen zu. Es fühlte sich komisch an, so zu essen. Als junges Mädchen war sie mit der Gewohnheit aufgewachsen, allein in dem Zimmer ihrer Mutter zu Abend zu essen. Später hatte das rhythmische Geklapper verbeulter Teller und das Schaben vieler Sitzbänke ihre Mahlzeiten begleitet. Zu Hunderten hatten sie in dem Armenhaus gemeinsam gesessen und verdünnte Suppe und hartes Brot hinuntergeschlungen. Niemals hatte es genug gegeben, um das große Loch in ihren Mägen füllen zu können.

      Jetzt waren die Wände des Armenhauses nur noch eine ferne Erinnerung und Ava genoss langsam ihr reichliches Mahl. Das schlechte Gewissen nagte angesichts dieses reichen Glücks an ihr. Es gab so viel zu Essen für eine einzige Person. Bilder von hohlen Wangen und leeren Augen durchfluteten ihre Gedanken. Sie erinnerte sich vor allem an die vielen Waisenkinder, die dicht gedrängt auf den schmalen Bänken gesessen hatten. Aber Ava konnte ihnen ebenso wenig etwas von ihrem Überfluss abgeben, wie sie jemals in dieses Armenhaus zurückkehren konnte.

      Stattdessen betete sie für diese Gesichter, während sie aß. Für die Kleinen, die sie leiden und sterben gesehen hat. Bis zu dem Moment, als ein Bootsbauer sie von diesem Ort befreit hatte. Benn, der nur Norwegisch sprach, und Ava, die keines seiner Worte verstehen konnte. Aber sie hatte den kleinen goldenen Ring verstanden, den er ihr auf den Finger geschoben hatte. Und die Gewissheit, dass dieser Ring ihre Freiheit bedeutete.

      Ida riss Ava aus ihren Erinnerungen. „Denk gar nicht erst daran, nach dem Essen auch nur einen Teller anzurühren.“ Sie erhob sich aus ihrem Schaukelstuhl. „Du hast dich um dieses leckere Mahl gekümmert und ich kümmere mich um den Rest.“ Idas Schritte waren sicher, wenn auch ungleichmäßig. Schmerz schien sich durch ihr Bein zu ziehen, auch wenn sie kein Wort darüber verlor. Die freundliche Frau griff nach Avas Teller.

      „Bist du sicher?“, fragte Ava.

      „Raus mit dir. Genieße ein bisschen die frische Luft. Der Herr allein weiß, wie viel Staub du heute eingeatmet hast“, gab Ida zur Antwort.

      Eine leichte Sommerbrise wehte von einem der geöffneten Fenster zu ihnen herüber und der Gedanke an einen Abendspaziergang war zu verführerisch, um dieses Angebot abzulehnen. Die Männer hatten sie darum gebeten, in der Nähe des Hauses zu bleiben. Daran würde sich Ava auch halten. Dankend erhob sie sich, griff nach der Laterne von einem Beistelltisch und trug sie hinaus in die beginnende Dämmerung.

      Aus der riesigen Scheune vernahm Ava den Klang eines arbeitenden Mannes. Werkzeug schepperte. Etwas Riesiges wurde über den Boden geschoben. Angeln quietschten. Thor in seiner eigenen Welt, wie Jorgan es ausgedrückt hatte. Mit gesenktem Kopf lief Ava vorbei. Ihr Blick suchte nach der Hütte, die Jorgan ihr gezeigt hatte, und sie wandte sich in deren Richtung. Vorsichtig schob sie die Türe auf und schlüpfte ins Innere.

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      Thor kniete