verkohlte Ende eines Streichholzes segelte an seinem Gesicht vorbei. Thor wandte sich zu seinem älteren Bruder um, der seine Aufmerksamkeit verlangte. Jorgan zog an einer frisch angezündeten Pfeife und zeigte dann mit ihr zur Treppe, die der neue Hausgast erst vor ein paar Minuten hinaufgegangen war. Schließlich machte er mit nüchternem Gesicht die Geste für schön, indem er die Fingerspitzen seiner geöffneten Hand vor seinem Kinn zusammenführte.
Thor wandte sich ab. Daran musste er nicht erinnert werden. Er spielte mit dem Deckel seines Glases und drehte ihn auf die Öffnung.
Jorgan stampfte auf, um erneut Thors Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Als die Holzdielen unter seinen Füßen nachgaben, warf Thor seinem Bruder einen Blick zu. Jorgan sprach Worte, die Thor zwar lesen, aber niemals würde hören können: „Du weißt, warum Dorothee sie eingeladen hat.“
Thor schloss die Munitionsschachtel, während seine Augen noch immer auf seinem Bruder ruhten, der ihm mit seinen zweiunddreißig Jahren vier Jahre voraushatte.
„Weil du dich niemals etwas traust“, sagte Jorgan. Niemals Haus verlässt, ergänzte er mit Gesten. Während er die Worte mit den Händen formte, baumelte die Pfeife zwischen seinen Lippen.
Ich verlasse Haus, gestikulierte Thor zurück. Er hielt seinen Daumen und zwei weitere Finger in die Luft für drei. Letzten Sonntag war er in der Kirche gewesen und unter der Woche zweimal am Weiher zum Baden. Für ihn war das viel.
Jorgan gluckste. Thor erkannte das an dem Hauch eines Grinsens und dem schnellen Heben und Senken seiner Brust.
Als Jorgan diesmal sprach, konnte Thor ihn nicht verstehen und er deutete auf die Pfeife zwischen Jorgans Lippen. Er zog sie aus dem Mund und sprach deutlicher: „Du bleibst in der Kirche nur für dich.“ Dann schielte er über seine Schulter in die Richtung, aus der er ein Geräusch gehört haben musste. Jorgan sprach nicht weiter, bis Thor seine sich bewegenden Lippen sehen konnte. Diese ungeschriebene Regel befolgten alle in diesem Haus. Trotzdem konnte Thor seinen Bruder auch dann kaum verstehen, da dessen Bart dringend gestutzt werden musste: „Und am Weiher gibt es keine Frauen.“
Thor rollte mit den Augen und versuchte Ruhe auszustrahlen, während das Thema Ava ihn innerlich aufwühlte. Ida kam die Treppe herunter und nickte bestätigend zu Jorgans Kommentar über Frauen, während sie nach dem Besen griff. Frische Bettlaken hingen zusammengefaltet über ihrem Arm und sie humpelte auffälliger als sonst an diesem Abend.
Thor stieß ein leises Seufzen aus. Da hatte wohl jemand gelauscht. Mit dem Zeigefinger zeigte Thor in Idas Richtung und weil er kein Zeichen zu diesem Wort kannte, musste er es buchstabieren: immer E-I-N-M-I-S-C-H-E-N. Verärgert bewegte er seine Hände schneller als sonst, wodurch die einzelnen Buchstabenzeichen verschwammen.
Ida lächelte bloß. Da Thor sich der zahlenmäßigen Unterlegenheit bewusst war, griff er nach seinem Glas und stürmte in Richtung Treppe. Zwei Stufen auf einmal nehmend hechtete er nach oben. Dann schritt er den Flur entlang. Von den vier Türen passierte er zunächst die von Jorgans Zimmer. Bei der nächsten Tür hielt er den Kopf gesenkt und den Blick starr auf den Boden. Hier hatte man Ava vermutlich untergebracht.
Zwar stand ein Bett in dem Raum, aber als er das Zimmer zuletzt betreten hatte, war es unter einem Haufen alter Felle und zwei Körben voller Einmachglasdeckel begraben gewesen. Den aufgetürmten Fellhaufen und Körben im Flur nach zu urteilen, hatte es sich Ava hier wohl gemütlich gemacht. Die nächste Tür führte in Dorothees altes Zimmer. Merkwürdig, dass Ida nicht dieses Zimmer für Ava hergerichtet hatte. Vielleicht wollte sie die Erinnerung an Dorothee noch ein wenig länger erhalten. Die letzte Tür lag am Ende einer zehnstufigen Wendeltreppe, die zum dritten Stockwerk hinaufführte. In dem ausgebauten Dachboden wohnte Thor seit jeher zusammen mit Haakon. Im Sommer war es sehr heiß hier oben, im Winter kalt. Trotzdem war es nicht so schlimm, dass die beiden nicht dankbar für diesen Ort gewesen wären. Der gesamte Raum war gesäumt mit Fenstern. Thors Lieblingsfenster zeigten westwärts hinaus auf den Abhang, auf dem seine Baldwins mit ihren tiefroten Früchten wuchsen. Die Sonne war bereits untergegangen. Allein ein sanfter, rötlicher Schimmer zog sich noch über den Horizont und spähte durch die knorrigen Äste der Apfelbäume.
Nachdem Thor die Tür hinter sich geschlossen hatte, trat er zum Bett und setzte sich auf die Matratze. Dann griff er unter das Bett und zog eine grob gezimmerte Holzkiste hervor. Es befand sich nichts Wertvolles in dieser Kiste, nur eine Ansammlung von Krimskrams. Ein wunderbares Versteck für die eine Sache, die er dort aufbewahrte, wo sie niemandem auffallen würde.
Thor musste nicht erst in die Kiste greifen und das eingerahmte Hochzeitsbild herausziehen, um Avas kaum nach oben gezogene Mundwinkel vor sich zu sehen. Oder zu wissen, dass die junge Braut an der Seite von Benn Norgaard auf den Monat genau siebzehn Jahre alt war. Dass sie aus ihrem Leben in einem irischen Armenhaus gerissen worden war, um einen Mann zu heiraten, den sie nicht kannte. Trotzdem griff Thor – mit Avas Bild frisch vor Augen – in die Kiste und zog das Foto zwischen zwei Büchern hervor. Beides norwegische Bücher, die ebenso zerlesen waren wie die englischen Titel, die Thors Bücherregal füllten.
Er schaute hinab auf die Fotografie und fuhr sanft mit dem Daumen über den Rahmen. Bei dem Anblick von Avas weit geöffneten Augen und ihrem verunsicherten Blick fühlte Thor einen stechenden Schmerz. Benns stolzer Griff um ihre Hand. Das war es, was Thor an diesem Foto immer schon gestört hatte. Ein paar Monate nach der Hochzeit war es mit der Post gekommen. Das Unbehagen in Avas Blick. Wie jung und einsam und verloren sie aussah. Vielleicht konnte Thor nicht hören, aber ganz gewiss konnte er sehen. Besser als manch anderer. Und schon immer hatte er diesen Herzschmerz in ihrem Gesicht gesehen.
Aber Ava war die Frau eines anderen und darum hatte Thor sich geschworen, die Erinnerungen an das irische Mädchen aus seinen Gedanken zu bannen. Anschließend hatte das Foto als Staubfänger an der Wand gedient – neben vielen anderen Fotografien, die dort hingen. Bis die Neuigkeiten über Benns Tod die Farm erreichten. Da hatte Thor das Bild wieder von der Wand genommen und ein weiteres Mal das Gesicht der jungen Frau studiert, die sich an seinen älteren Cousin gebunden hatte.
Die – nun als Witwe – den Namen Norgaard trug.
Das Bild hatte Thor sicher in seiner Kiste verstaut. Zusammen mit dem kleinen Funken Hoffnung, der sich in seinem fest verschlossenen Herz geformt hatte.
Und nun befand sich Ava nur wenige Meter von ihm entfernt. Sie war ihm so nah, dass Thor nur den Flur hinablaufen und an die Tür klopfen musste, um in diese Augen blicken zu können. Um erneut festzustellen, dass ihre Haare tatsächlich die Farbe von Kupfer hatten und dass ihre Haut wirklich so weiß war wie auf der Schwarz-Weiß-Fotografie in seiner Hand. Er hatte sich die Farbe ihrer Haut wie Buttercreme vorgestellt und genauso seidenweich.
Diese Frau, die erst vor ein paar Stunden in der Plantage auf ihn zugekommen war. Als Thor todmüde dort stand, nur eine Armeslänge von Ava entfernt, konnte er kaum die Fragen beantworten, die sie ihm stellte. Vom ersten Moment an hatte Thor gewusst, dass es Ava war. Sein Herz hatte so schnell in seiner Brust geschlagen, dass Thor für einen Moment lang gefürchtet hatte, es würde versagen. Selbst wenn er gewusst hätte, was er ihr hätte sagen sollen, hätte er es nie im Leben aussprechen können.
Er spürte die Holzdielen vibrieren. Thor ließ das Bild wieder in die Kiste gleiten und schob sie außer Sicht. Gerade als er sich aufrichtete, betrat Haakon das Zimmer. Mit zusammengepressten Fingerspitzen führte Haakon seine Hand mehrmals an den Mund.
Zeit zum Essen. Thor erhob sich. Haakon sagte etwas, aber der Satz verlor sich im Dämmerlicht. Thor hasste die Dunkelheit, weil sie seine Welt zusammenschrumpfen ließ. Mit etwas Abstand zwischen den Handflächen ließ er seine geöffneten Hände vor seiner Brust gegeneinanderkreisen, legte dann die Handflächen aneinander und bewegte sie sanft vor und zurück – Gebärdensprache bitte. Eine Freiheit, die er niemals für selbstverständlich gehalten hatte. Zumindest nicht, seit ein Lehrer ihm die Hände zusammengebunden und von ihm verlangt hatte, wie jedes andere Kind reden zu lernen.
Haakon deutete in den Flur und buchstabierte dann A-V-A. Anschließend fuhr er mit dem Zeigefinger vom Auge runter über die Wange. Sie weinte?
„Nicht laut“,