war eine Frage, die Ava erst einmal im Leben gestellt worden war. In Irland hatte eine Nonne Ava in ihr Büro im Armenhaus bestellt und ihr von Benn Norgaard berichtet, einem Bootsbauer aus Norwegen, der sich nach der rothaarigen Frau erkundigt hatte – derjenigen, die eine Schachtel voller Garnrollen über den Hof getragen hatte, als er auf der gepflasterten Straße davorgestanden hatte.
Geschockt über das Angebot, das der Mann ihr gemacht hatte, hatte Ava auf den kleinen goldenen Ring gestarrt, den die Nonne aus einem seiner Taschentücher gewickelt hatte. Trotzdem hatte Ava ihre Armenhauskluft gegen ein abgetragenes Kleid getauscht, das ihr darüber hinaus noch zwei Nummern zu groß gewesen war. In der Tasche dieses Kleides hatte sie den Namen einer Pension gefunden, in der der Fremde ein Zimmer für sie für zwei Wochen im Voraus gemietet hatte. Er selbst war bereits fort – auf ein Schiff zurückgekehrt, das vor der irischen Küste auf Sand gelaufen war und bei dessen Reparatur er helfen musste. Dennoch hatte der Norweger die Nachricht hinterlassen, dass er nach vierzehn Tagen zurückkehren würde, um sie zu ehelichen. Falls das Mädchen bis dahin nicht geflohen wäre. Gerade als Ava ein Pfund zugelegt und die Läuse aus ihren Haaren gewaschen hatte, kehrte der Fremde zurück und hielt sein Versprechen.
Weil der Cousin dieses Mannes nun auf eine Antwort wartete, sagte Ava: „Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich bin in dem Glauben hierhergekommen, Dorothee bei eurer Erziehung unterstützen zu können. Ich hatte erwartet, dass ihr viel jünger wäret. Und natürlich, dass sie noch immer hier wäre.“
Jorgan nickte verständnisvoll. Trotzdem entging Ava der Hauch eines Grinsens nicht. Es schien, als habe Jorgan den Plan verstanden, den seine Tante Dorothee ausgeheckt hatte. Auch Ava meinte mittlerweile, sie durchschaut zu haben.
„Ich habe mir nie besonders viel gewünscht. Was ich möchte, ist eine Aufgabe, um mir ein Bett und eine warme Mahlzeit zu verdienen. Dafür wäre ich sehr dankbar. Dorothee hatte angedeutet, dass ich eine solche Anstellung hier finden könnte“, erklärte sie.
„Sicherlich könnten wir eine Aufgabe für dich finden“, antwortete Jorgan und grinste dann. „Solange du keine harte Arbeit scheust.“
Nicht im Geringsten. „Wäre es …“, Ava hielt inne. Wie sollte sie ausdrücken, was sie dachte? „Wäre es nicht unschicklich, wenn ich hierbleiben würde?“, versuchte sie es.
„Für andere schon“, antwortete Jorgan und blickte über die Schulter zu dem großen Fenster. Mit einem Kopfnicken bat er Ava, ihm die Treppe hinauf zu folgen. Seine tiefe Stimme klang noch genauso freundlich wie zuvor, als er sagte: „Und die Leute verpassen keine Möglichkeit, sich das Maul über andere zu zerreißen.“
Wohl wahr, das taten sie nicht.
Im Flur blieb Jorgan vor Dorothees Zimmer stehen und Ava tat es ihm gleich.
„Vielleicht können wir dem Tratsch irgendwie entgehen. Ich werde mit meinen Brüdern darüber sprechen“, sagte Jorgan und öffnete die Tür. Dicke, geblümte Vorhänge hingen vor dem Fenster, die Jorgan behutsam zur Seite zog. „Bestimmt findest du hier etwas, das du gebrauchen kannst“, sagte er.
Licht durchflutete den Raum und bahnte sich einen Weg zwischen dem tanzenden Staub hindurch. Ava trat ein und lief die nächstbeste Wand entlang. Dort hingen eingerahmte Stickarbeiten, jede mit den Initialen D. N. signiert. Die edlen Blütenblätter und verschlungenen Ranken zeugten von Norwegens eleganter Handwerkskunst.
Neben den Stickarbeiten hingen einige Kinderzeichnungen, die Dorothee an die Wand geheftet hatte. In der Ecke jedes Bildes stand in Dorothees vertraut verschnörkelter Handschrift der Name des Künstlers und das entsprechende Alter. Unter einer wilden Bleistiftkritzelei stand Haakon, 3 Jahre. Unter dem Bild eines großen Wals inmitten einer stürmischen See stand Jorgan, 10 Jahre. Das letzte Bild trug die Unterschrift Thorald, 7 Jahre. Die Bilder konnten also nicht zur gleichen Zeit entstanden sein. Ava beugte sich zu der letzten Zeichnung hinunter, der kindlichen Darstellung einer Familie. Die grob gezeichneten Personen lächelten über die gesamte Breite des Gesichts und jede Figur stand neben einem riesigen Baum, der bis in den Himmel hineinreichte. Vögel flogen über ihre Köpfe hinweg. Vorsichtig berührte Ava die vergilbte Ecke des Bildes.
Nicht weit von ihr entfernt stand Jorgan und schob eine Vase mit vertrockneten Blumen zur Seite, um nach einem Nähkorb zu greifen. „Den solltest du bekommen.“
„Oh, das kann ich auf keinen Fall annehmen“, erwiderte Ava.
„Was für einen Nutzen hat der Korb, wenn er hier herumsteht? Es würde Dorothee stolz machen zu sehen, dass er weiterhin gebraucht wird.“
Also griff Ava nach dem Henkel des Korbes und allein das Gewicht der ganzen Knöpfe, Nadeln und Garne sandte eine Welle der Freude durch den Körper. Ihr eigener Nähkorb war längst fort. Verkauft, um die Überfahrt hierher zu bezahlen.
„Gibt es sonst noch etwas, das du brauchst?“, fragte Jorgan.
„Für den Anfang reicht das aus.“ Und mehr als das. Ava sah sich im Raum um und begutachtete Dorothees kleines Reich. Rosa und elfenbeinfarbene Töne dominierten den großen Quilt, der über das Bett gelegt worden war, und das Kupfer des Kopfbrettes schimmerte im Glanz der Sonne. Farbenfrohe Garnreste ruhten auf dem Nachttisch ebenso wie eine elegante Schere. Es schien beinahe so, als hätte Dorothee bis zur letzten Sekunde an einem Projekt gearbeitet.
„Darf ich fragen, wie Dorothee verstorben ist?“, wollte Ava wissen.
Jorgan trat näher an das Fenster heran und spähte hinaus. „Sie war schon alt – fast neunzig –, ist eines Tages zu Bett gegangen und nie wieder aufgewacht. Sie ist friedlich eingeschlafen. An einem Tag war sie noch da, am nächsten schon nicht mehr. Wir zeigen es vielleicht nicht gerne, aber meine Brüder und ich vermissen sie sehr.“
„Ich wünschte, ich hätte sie kennenlernen können“, murmelte Ava.
Jorgan lächelte traurig, dann sah er sich um. „Sie hat sehr gut von dir gesprochen.“ Er hob ein besticktes Deckchen auf, das auf einem nahe gelegenen Stuhl lag. „Und ich weiß: Sie wollte, dass du dich hier zu Hause fühlst. Also bitte lass es uns wissen, wenn du irgendetwas brauchst. Da du gerne nähst, wirst du bestimmt auch einen Blick in den Verschlag draußen werfen wollen. Da liegen stapelweise Stoffe und Schachteln voll Garn. Ich kann es dir zeigen, wenn du magst.“ Mit diesen Worten reichte Jorgan ihr die Gobelinstickerei. Als hätte er geahnt, dass ihre Reisetasche von solchen Dingen nicht viel in sich barg.
„Vielen Dank“, sagte Ava. Ihre Stickkünste hielten sich in Grenzen, dennoch fielen Ava einige Fehler bei den weißen und rosafarbenen Blüten und Ranken auf dem dunkelblauen Stoff auf. Gerne hätte sie zur Nadel gegriffen und das Werk vollendet. Es schien ihr so, als wäre diese Stickerei nicht anhand einer Vorlage entstanden, sondern direkt aus Dorothees Herz und Sinnen gekommen.
„Solltest du dich jemals nach einer Anstellung sehnen, können wir uns in den umliegenden Städten umhören. Allerdings …“, Jorgan hielt inne und lächelte freundlich. „Allerdings wäre es schade, dich wieder ziehen lassen zu müssen.“
Gerade als Ava ihm ein Danke schenken wollte, durchbrach der laute Donner eines Schusses die Luft. Vor Schreck sprang Ava auf. Ein weiterer Schuss kam aus derselben Richtung. Als alles wieder still war, grinste Jorgan und sagte: „Keine Sorge, das war nur Thor.“
„Was tut er da?“, fragte Ava.
„Verscheucht jemanden von unserem Land. Manchmal fühlen sich unsere Nachbarn zu wohl bei uns. Keine Sorge: Er passt auf, dass er niemanden trifft.“
Ava schluckte hart.
„Damit du Bescheid weißt: Unter der Woche ist Miss Ida die meiste Zeit hier“, fuhr Jorgan fort. Er hob die elegante Schere vom Nachttisch auf und schob sie unter den Deckel in den Korb. „Samstagabends besucht sie ihre Schwester Cora. Du wirst sie noch kennenlernen. Sie ist wirklich freundlich. Lebt auf unserem Land, ein paar Morgen hinter den Plantagen. Das ist ein Grund für die regelmäßigen Streifzüge von Thor und Haakon. Sie wollen sicherstellen, dass niemand sie belästigt.“
Jorgans Blick glitt zum Fenster, dann wieder