sie einen fast vollständig verkohlten Schuppen. Um die meisten Gebäude herum stapelten sich haufenweise Holzkisten und mehr Metalleimer, als sie jemals auf einer Farm zu Gesicht bekommen hatte.
Jetzt hielt Avas stummer Begleiter an und verschränkte die Arme vor der Brust. Zögerlich machte Ava genau in dem Moment einen weiteren Schritt auf das Haus zu, als ein zweiter Mann aus diesem heraustrat. Obwohl er genauso groß war wie der erste, war dieser Mann eher drahtig gebaut. Seine Haare waren zwar etwas heller, aber genauso lang – zumindest dem ersten Anschein nach, da dieser Mann das Haar zurückgebunden hatte.
Schwere Stiefel traten die Stufen hinunter. Noch ein Norgaard? Avas Blick huschte umher und suchte nach einem Hinweis auf die Kinder. Doch es war weder auch nur ein Spielzeug zu entdecken, noch hatte eines der Kleidungsstücke an der Wäscheleine annähernd Kindergröße.
Ava betrachtete den Fremden auf der Veranda und widerstand dem Verlangen, den kleinen Anhänger von ihrer Mutter an der Kette um ihren Hals zu berühren. Dies tat sie oft, wenn sie nervös war. „Hallo, Sir“, sagte Ava, trat näher und streckte dem Mann ihre Hand entgegen. Als er sie ergriff, wirkte Avas Hand plötzlich ganz winzig in seiner. „Mein Name ist Ava. Ich war mit Benn verheiratet“, stellte sie sich zum zweiten Mal vor. Obwohl es ihr komisch vorkam, so mit der Tür ins Haus zu fallen, wusste sie nicht, wie sie sich sonst vorstellen sollte. „Ah“, sagte der Mann und studierte sie für einen Moment. „Es ist mir eine Freude, Sie endlich kennenzulernen, Ma’am“, sagte er dann. Nachdem er sich geräuspert hatte, nannte er ihr seinen Namen. Jorgan.
Ava kannte diesen Namen aus vielen von Tante Dorothees Briefen. Darin war Jorgan nicht mehr als ein kleiner Junge gewesen. Doch diese Beschreibung passte nicht im Geringsten zu dem Mann, der vor ihr stand. Definitiv hatte Dorothee die Söhne nicht als Männer dargestellt. Noch bevor sich Ava einen Reim darauf machen konnte, trat ein weiterer Mann aus dem Haus. Obwohl der Charme des dritten Bruders bis ins Detail beschrieben worden war, wurde das Lob seiner Großtante diesem Mann nicht gerecht, der niemand anderes als nur der sehr erwachsene Haakon sein konnte. Seine strahlend blauen Augen nahmen Ava gefangen, und obwohl er glatt rasiert war, zerschlug sein muskulöser Körper jeden Gedanken daran, dass es sich bei den Norgaard-Nachkommen um Kinder handeln könnte.
Als Panik in Ava aufzusteigen drohte, sagte Jorgan: „Und das ist Haakon. Er ist der Jüngste.“ Mit einer Birne in der einen und einem Messer in der anderen Hand schnitt Haakon sich ein Stück ab und führte es auf der flachen Seite des Messers zum Mund. Sein markantes Gesicht spiegelte nichts als Unfug wider. „Wir haben uns schon gefragt, ob Sie auftauchen würden“, fuhr Jorgan fort.
Ava schluckte schwer. Wie hatte sie so falschliegen können? In Gedanken ging sie Dorothees Briefe durch. Immer wieder wurden die männlichen Nachkommen der Norgaards alles andere als Männer dargestellt. Jungen hatte Dorothee sie genannt. Sie hatte Andeutungen über die Abenteuer und den Unfug gemacht, den sie anstellten, und von ihren ungehobelten Manieren und den Bedarf nach einer festen Hand und Leitung erzählt. Selbst von Strafen hatte sie geschrieben. Vor allem, wenn es um Haakon ging. Denselben Haakon, der nun auf Ava herabgrinste und so aussah, als hätte ihm schon seit einiger Zeit keiner mehr so wirklich den Hosenboden versohlt.
Mittlerweile zitterten Avas Hände und sie presste sie gegeneinander. Aus ihrem Versuch, mit fester Stimme zu antworten, wurde nicht mehr als ein leises Flüstern: „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Sirs. Ich vermute, Sie sind … die Brüder? Die Söhne?“
Wessen Söhne, daran konnte Ava sich nicht mehr erinnern. Dorothee hatte nur selten etwas von den verstorbenen Eltern berichtet. Mit einem Mal löste sich der Gedanke an drei verwahrloste Kinder in Luft auf, die Avas Unterstützung nötig gehabt hätten. Oder ihre mütterliche Fürsorge. Tante Dorothees Schilderungen waren wirklich irreführend gewesen. Avas Verlangen, endlich mit ihr sprechen und das Missverständnis aufklären zu können, wurde immer stärker.
„Genau. Ich bin der Älteste“, sagte Jorgan. „Am besten nennen Sie uns einfach beim Vornamen. Immerhin gehören Sie zur Familie und müssten ansonsten ziemlich oft Mr Norgaard sagen. Wie mir scheint, haben Sie Thor bereits getroffen. Er ist der Zweitälteste.“ Mit seinem Finger deutete er hinter Ava auf den dunkelhaarigen Mann, der noch immer ein paar Schritte entfernt stand. Denjenigen, der so stark aussah wie ein Ochse und den Blick noch immer nicht von Ava abgewendet hatte.
Thorald. So war er in den Briefen genannt worden. Es hatte immer so geklungen, als nehme er einen besonderen Platz im Herzen seiner Großtante ein. Aber um nichts in der Welt hätte Ava den Namen mit diesem Mann in Verbindung gebracht. „Richtig“, sagte sie. „Wir … sind uns schon begegnet.“
Jorgan lächelte schief. „Entschuldigen Sie. Thor redet nicht besonders viel.“
Das hatte Ava bereits herausgefunden.
Jorgan schielte an ihr vorbei und ließ dann seinen Blick schweifen, als würde er nach Worten suchen. „Sind Sie vom Bahnhof hierhergelaufen?“, fragte er.
„Ja“, antwortete Ava. Ihre schmerzenden Füße erinnerten sie an jede einzelne Meile von der Stadt bis hierher.
„Entschuldigen Sie, dass wir nicht gekommen sind, um Sie abzuholen. Und mein Beileid wegen Benn.“
„Danke“, erwiderte Ava leise. Sie setzte ihr Gepäck auf dem Boden ab und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Ihr Ehemann – der Cousin der Männer – war tot. Und Ava nun hier in Amerika.
Wieder schnüffelte der Hund an ihren Schuhen und Haakon schnippte mit den Fingern. „Grete!“ Sofort trottete der Hund, der wohl eine Hündin war, an seine Seite.
Ava sah sich um. Nachdem sie nun die Bekanntschaft mit drei Männern gemacht hatte, war sie mehr als bereit, endlich eine Frau zu sehen. „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich Tante Dorothee finden kann?“
Jorgan schielte zu seinen Brüdern hinüber, bevor er sich den Nacken rieb. Mit sorgenvoll zusammengezogenen Brauen wandte er sich schließlich an Ava. „Daraus schließe ich, dass Sie meinen Brief nicht erhalten haben.“
Kopfschüttelnd verneinte Ava.
Jorgan umfasste seinen anderen Arm knapp oberhalb des Ellbogens. „Sie ist … Ich fürchte, Ihnen sagen zu müssen, dass Dorothee … gegangen ist. Vor nun zwei Monaten.“
„Wohin ist sie gegangen?“, fragte Ava. Im selben Moment lief sie rot an. Plötzlich fühlte sich ihr Trauerkleid viel zu eng und zu schwer an.
„In-In den Himmel“, antwortete der älteste der Brüder.
„Höchstwahrscheinlich“, fügte Haakon hinzu und schob sich ein weiteres Birnenstück in den Mund.
Avas Magen verkrampfte sich. Hitze stieg ihr in den Kopf und die Welt um sie herum drehte sich. „Sie ist … verstorben?“, fragte sie atemlos.
Mitfühlend senkte Jorgan seinen Kopf. „Es tut mir leid, es Ihnen auf diese Weise mitteilen zu müssen. Ich habe Ihnen sofort einen Brief geschrieben in der Hoffnung, er würde Sie noch vor Ihrer Abreise erreichen“, erklärte er. Dann betrachtete er ihre vom Wind zerzausten Haare. „Wie ich sehe, war ich zu spät.“
Ava musste sich hinsetzen, aber hier gab es nichts außer dem Staub unter ihren Füßen. Ohne auf ihr Kleid oder ihre Strümpfe zu achten, ließ sie sich auf die Erde nieder. Plötzlich fühlte Ava sich schrecklich klein. Blinzelnd sah sie in den klaren blauen Himmel empor. Er erinnerte sie unverhohlen daran, wie weit entfernt sie von Norwegen war. Oder Irland. Sie war hier in Virginia. An einem Ort namens Blackbird Mountain. Und hier war keine Tante Dorothee.
Obwohl Ava mit dieser Frau keine Blutsverwandtschaft verband und durch den Briefwechsel zwischen ihnen nicht mehr als eine einfache Freundschaft entstanden war, war Benns Großtante alles gewesen, was ihr von einer Familie geblieben war.
„Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie zu sich selbst.
Der älteste Bruder, Jorgan, kam an ihre Seite. Er kniete sich in den Staub und stützte sich mit seinen von der Arbeit rau gewordenen Händen auf dem Boden zwischen ihnen ab. „Miss?“, fragte er.
Zitternd sog Ava die Luft ein