dass man die Sprache in ihrer ganzen Fülle nachempfinden kann. Bei anderen Passagen wurden nur bestimmte Wörter verwendet, um den Fluss der Erzählung zu gewährleisten. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Beweggründe des gehörlosen Charakters und sein Verständnis von Satzstrukturen genau zum Ausdruck kommen.
Das Ziel dieser Art zu schreiben ist, Gehörlosen und ihrer Sprache Respekt zu erweisen und einem Mann, der weder hörbar sprechen noch hören kann, Gehör zu verschaffen.
Ergänzung des Brunnen Verlags:
Der Verlag ist sich bewusst, dass die politisch korrekte Übersetzung des englischen Wortes „deaf“ im Deutschen das Wort „gehörlos“ oder „hörgeschädigt“ ist. „Taubstumm“ ist keine korrekte Übersetzung, da Gehörlose oder Hörgeschädigte nicht stumm sind – sie können sich u. a. mittels Gebärdensprache sehr gut verständigen. Dennoch wurde entschieden, im Roman das Wort „taubstumm“ oder eine ähnliche Variante zu verwenden, da man diese Begriffe in der Zeit, in der der Roman spielt, unreflektiert so verwendete.
Eins
BLACKBIRD MOUNTAIN, VIRGINIA
27. AUGUST 1890
Ava sah auf den Brief in ihrer Hand hinab. Zum wiederholten Mal las sie die in der Handschrift ihrer Tante Dorothee verfasste Adresse. Dann fiel ihr Blick auf das Holzschild, das vor ihr im Boden steckte. Der Ort stimmte überein, trotzdem hatte Ava plötzlich Schwierigkeiten, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Heiß brannte die Sonne auf sie herab und von den Küsten Norwegens war ihr nur noch die Erinnerung geblieben.
Der einfache Weg, der sich vor Ava erstreckte, unterschied sich kaum von der Straße, auf der sie hergekommen war. Allerdings würde sie die endlosen Waldgebiete hinter sich lassen, die sie den Vormittag über durchquert hatte, und in den Schatten unzähliger Bäume einer Plantage treten können. Den Früchten nach zu urteilen, die von den knorrigen Ästen hingen, musste es sich um eine Apfelfarm handeln. Ein süßer Duft hing in der stickigen Hitze. Ava holte tief Luft, beugte sich näher zu dem Schild und fuhr mit ihrem Finger die grob geschnitzten Buchstaben nach.
Norgaard.
Also dann. Das musste es sein. Das Land, in dem Tante Dorothees Neffen ihr Unwesen trieben. Frei und wild waren die Jungs, zumindest den Geschichten nach. Ava machte das nichts aus. Als sie im Armenhaus gelebt hatte, hatte sie immer wieder zusehen müssen, wie die Waisenkinder dort verwahrlosten. Nachdem sich ihre Umstände so drastisch geändert hatten, war sie nun – in Freiheit – umso begieriger darauf, dieses Haus zu finden. Und ihre dort lebende Familie.
Vor allem aber war sie gespannt auf die Kinder. Ein gleichmäßiges Trommeln auf dem Weg riss Ava aus ihren Gedanken und sie schaute auf. Ein Hund kam auf sie zugerannt. Schwanzwedelnd schnüffelte er an Avas Schuhen und schlug Ava mit seiner Rute gegen das Bein. Lächelnd beugte sie sich hinab und tätschelte den braunen Kopf, den ihr der Hund zur Begrüßung entgegenreckte. „Hallo, du“, sagte sie.
Nachdem das Tier Avas Hand ein paarmal abgeleckt hatte, machte es kehrt und trottete weiter den Weg entlang. Es schien, als wolle der Hund ihr den Weg weisen. Da er sich mit Sicherheit besser in dieser hügeligen Landschaft auskannte als sie, griff Ava rasch nach ihrer abgenutzten Reisetasche.
Während sie weiterlief, klopfte sie sich den Staub von ihrem schwarzen Trauerkleid. Ein Kleid, das sie von nun an nicht mehr brauchen würde. Die zwei Trauerjahre hatten bereits geendet, bevor sie auch nur einen Fuß in diese Gegend namens Blackbird Mountain gesetzt hatte.
Plötzlich knackte ein Ast auf dem Weg vor ihr und Ava schirmte ihre Augen ab. Immer länger wurden jetzt die Schatten in dem Hain, während es allmählich Abend wurde. Die tief stehende Sonne blendete. Ein weiterer Ast brach und ein Mann trat auf den Weg, nicht einmal ein halbes Dutzend Baumreihen von Ava entfernt. Weder konnte sie sein Alter einschätzen, noch konnte sie erkennen, was der Mann dort tat. Er kniete mit dem Rücken zu ihr und schien Äpfel in große Metalleimer zu sammeln. Der Hund umrundete ihn vergnügt. Ava fühlte sich beinahe wie ein Eindringling. Vorsichtig ging sie ein paar Schritte näher heran, um ein Hallo rufen zu können. Doch der Mann reagierte nicht. Erst als Avas Schatten neben ihn fiel, wandte er sich ihr zu. Langsam richtete er sich auf und fuhr sich mit seiner großen, kräftigen Hand durch das ungekämmte Haar. Es war so dunkel wie die Erde unter seinen Stiefeln und hing wirr bis über die Schultern hinab.
Der Fremde öffnete leicht seinen Mund. Im Ausdruck seiner Augen lag eine beunruhigende Mischung aus Schmerz und Überraschung. Der Blick, mit dem er Ava bedachte, war so tiefgründig, dass er sogar von den gleichmäßigen Gesichtszügen des Mannes ablenkte. Er sagte kein Wort, bot Ava nur eine Art stumme, entwaffnende Verbundenheit an, als sei diese Welt für sie beide ein ungerechter Ort.
Ava hatte Mühe, ihre Stimme wiederzufinden. „Guten Tag, Sir. Könnten Sie … Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich Dorothee Norgaard finde?“, fragte sie. Obwohl Ava vier Jahre lang eine Norgaard gewesen war, klang der norwegische Name mit ihrem irischen Akzent immer noch nicht richtig. Der Mann schielte auf die Reisetasche in Avas Händen, die sie fest umklammert hielt, und fuhr dann mit seinem Blick von ihren staubigen Schuhen bis hinauf zu ihrem Gesicht.
Auch wenn sich Ava nun noch mulmiger fühlte als zuvor, lockerte sie ihren Griff um den Lederriemen ihrer Tasche und erinnerte sich daran, dass sie das Schild korrekt gelesen hatte. Die Norgaard-Farm. Hier musste sie sein. Ava war einfach zu weit und zu lange gereist, um nicht am richtigen Ort zu sein.
Missmutig schob sich der Mann die Ärmel seines Karohemdes über die Ellbogen und deutete dann mit seinem Daumen über die Schulter. Offensichtlich war der Bursche kein großer Redner. Warum Ava ihn als Bursche bezeichnete, wusste sie nicht. Immerhin wirkte der Fremde deutlich erwachsener als sie mit ihren einundzwanzig Jahren. Stark und robust stand er vor ihr, ähnlich den Bäumen, die das Land säumten. Auch er schien einige Lasten auf seinen breiten Schultern tragen zu müssen.
Endlich gab sein Blick den ihren frei und der Mann wandte sich um und deutete erneut auf den vor Ava liegenden Weg. Also gut. Das bedeutete wohl, dass sie in diese Richtung weiterlaufen sollte. Sie schenkte ihm ein leises Dankeschön, was der Mann mit einem Nicken beantwortete. Als Ava an ihm vorbeiging, spürte sie den Blick seiner braunen Augen auf ihr ruhen.
Nach nur wenigen Schritten hielt Ava inne. Dieser Mann hatte die gleiche Stirn wie ihr Benn. Auch sie zeigte die stolzen Züge nordischer Herkunft. Obwohl sich die Haare des Fremden von Benns hellen Locken unterschieden wie der Tag von der Nacht, entdeckte sie etwas Bekanntes an seinem Auftreten. Dieselbe stramme Haltung und derselbe ernste Blick. „Könnte es sein, dass Sie einer von den Norgaards sind?“, fragte Ava in der Hoffnung, dass ihr irischer Akzent nicht zu unverständlich war. Offensichtlich hatten die meisten Amerikaner ein Problem mit ihrer Aussprache.
Zwei Eimer entfernt von den anderen kniete der Mann wieder auf dem Boden und sammelte Äpfel. In seinem Blick lag diesmal Bedenken. Er hatte etwas Wildes an sich, das – gepaart mit seiner Stille – Avas Unbehagen noch verstärkte. Doch dann nickte er. Ava lächelte ein wenig. Dieser Mann war kein Fremder, sondern gehörte zur Familie. „Ich bin Ava. Benns Witwe“, stellte sie sich vor. Wieder nickte der Mann, als hätte er das bereits geahnt. Vielleicht war er ein Onkel der Kinder. Wieso hatte Dorothee ihn dann nie erwähnt?
„Also“, begann Ava und deutete auf den Weg vor sich. Als ihr eine Strähne ihres rostroten Haares ins Gesicht fiel, wischte sie sie rasch fort. „Ich soll hier entlanggehen?“, fragte sie und wieder nickte der Mann, was Ava erneut ein Lächeln entlockte. „Ich danke Ihnen, Mr Norgaard.“ Sie umfasste den Griff ihrer Reisetasche wieder ein wenig fester und machte sich auf den Weg. Immer noch konnte sie den Blick des Mannes auf sich spüren. Komischer Vogel.
Kurze Zeit später erblickte Ava vor sich ein großes rotes Haus. Ausgeblichen und verwittert wie es war, erinnerte es mehr an eine Scheune als an ein Wohnhaus. Doch mit dem Schaukelstuhl auf der Veranda und der aufgespannten Wäscheleine handelte es sich offensichtlich um Letzteres. Nach einem Blick über ihre Schulter bemerkte Ava, dass der Mann ihr folgte. Immerhin in einigem Abstand, so viel musste sie ihm lassen.
Trotzdem blickte sich Ava im Weitergehen alle paar Baumreihen