Peter Middendorp

Du gehörst mir


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es passiert. Bei den Verhören haben sie mich manchmal gefragt, warum alles so gelaufen ist, wie es gelaufen ist. «Sie hätten mich mehr in Ruhe lassen sollen», sagte ich. «Ob das etwas geändert hätte, weiß ich nicht, aber jedenfalls hätte ich es zu schätzen gewusst.»

      Eines Abends stand Ada plötzlich neben mir. Sie war etwas kleiner als ich, einen halben Kopf, weder schlank noch dick, weder rund noch flach, mit halblangem, fast weißem Haar. Ich kannte sie nicht, ich hatte sie vorher noch nie gesehen, sie käme aus einem Dorf gut zwanzig Kilometer weiter, sagte sie, aber da gäbe es keine Diskothek.

      Eine Weile beobachtete sie zusammen mit mir die Tanzfläche. Sie folgte meinen Augen, als ob sie herausfinden wollte, wo mein Blick die Mädchen traf.

      Dann sagte sie etwas.

      Ich zuckte mit den Schultern, die Musik war zu laut.

      Sie stellte sich auf Zehenspitzen – sie trug halbhohe Stiefeletten – und beugte sich zu meinem Ohr, bevor sie sich wieder auf ihre Absätze sinken ließ, als ob die Aktion sie ein wenig ermüdet hätte, enttäuscht vielleicht.

      Ich betrachtete sie mit neuen Augen, aber ich sah nach wie vor dasselbe Mädchen, dieselbe junge Frau, nicht schön, aber auch keinesfalls hässlich.

      Die ersten Minuten hinter der Sporthalle vergingen eher zäh; Kinder, die gegenseitig vom Eis des anderen kosten und gleichzeitig versuchen, mehr zu nehmen, als zu geben.

      Unterwegs hatte sie nichts gesagt, jetzt sagte sie «warte», schob mich ein Stück von sich weg, zog sich die Hose runter, stieg aus einem Hosenbein und drehte sich zu mir um.

      Hinter der Sporthalle gab es wenig Licht, nur ein bisschen von einer Laterne am Fahrradweg. Ich legte meine Hände auf ihre Hüften und begann vorsichtig suchend; es war meine erste Erfahrung. Dann machte ich weiter, fester, schneller. Vielleicht, dachte ich, konnte man die Hoffnung wieder etwas anfachen, Stoß für Stoß, Funken für Funken.

      Ada stemmte die Hände gegen die Wand.

       2

      MEINE ELTERN HABEN ADA WIE EINE FREMDE EMPFANGEN. Sie beobachteten sie wie seinerzeit auch die ersten Flüchtlinge, als diese, eine oder zwei Haltestellen zu früh aus dem Bus gesetzt, vor unserem Haus vorbei über die Straße zum Dorf zogen, ein bunter Tross farbiger Menschen mit Sack und Pack, der lange Reihen von Kindern hinter sich herzog, die großen Mädchen mit Kopftüchern.

      Sie waren eigens dafür in den Vorgarten gelaufen, zwei von Korsett und künstlichem Bein zusammengehaltene Menschen, die Hände am Zaun und mit hängenden Schultern.

      Meine Eltern konnten sich nicht erinnern, dass irgendwer in die Zeitung gesetzt hätte, wir hier wüssten nicht, wohin mit unserer Gastfreundschaft. Das irgendwer gesagt hätte: «Kommt und nehmt, soviel ihr wollt, sie verludert sonst ohnehin!»

      Es dauerte lange, bis die Asylsuchenden wieder außer Sichtweite waren, meine Eltern seufzten, bevor sie langsam zurück ins Haus gingen.

      Ein Mensch ohne Gastfreundschaft hat fast nichts mehr zu geben. Eigentlich ist so jemand auch schon kein Gastgeber mehr.

      Wir haben sie langsam daran gewöhnt. Am Anfang kam Ada nur samstags vorbei, nach dem Essen, zum Kaffee, und war vor dem Schnaps schon wieder fort. Veränderungen kommen immer ungelegen, sie bringen Unruhe mit sich. Als ob eine zusätzliche Person auf dem Sofa die Abende beleidigte, die wir zu dritt verbracht hatten.

      Aber wir mochten immer noch ein drittes Tässchen, oder ein viertes. Ada backte Torten und Kuchen, die erst spät aus dem Ofen kamen. Wir dehnten die Kaffeezeit aus; langsam, allmählich, immer weiter, und zwar so lange, bis die Kaffeezeit die Schnapszeit allmählich überlappte und wir die Sehnsucht nach einem Schnaps die weitere Arbeit tun lassen konnten.

      Meistens war es noch hell, wenn ich sie zur Tür brachte, und ich brauchte mich nicht zu fragen, ob sie auch sicher nach Hause fände. Aber ehrlich gesagt habe ich nie Angst gehabt, dass etwas passieren könnte. Auch später nicht, als Suze selbständiger wurde. Nie wirklich.

      Manchmal blieb sie über Nacht, bei mir im Bett. Am nächsten Morgen stand sie mit mir auf und verließ lange vor dem Frühstück zusammen mit mir das Haus.

      Manchmal auch schliefen wir erst gegen Morgen ein und schraken erst nach zehn aus dem Schlaf hoch. Dann gab ich dem Wetter die Schuld, während ich zusätzliches Brot zum Auftauen aus der Gefriertruhe holte. Oder ich redete etwas von der Dunkelheit, den langen, leeren Fahrradwegen zwischen den Dörfern. Es hätte gestürmt, gewittert, einfach wie aus Eimern gegossen – hatten sie das denn nicht mitbekommen?

      Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat – Ada zufolge jedenfalls eine Ewigkeit –, aber eines Tages sagte Mutter: «Wenn du nächste Woche etwas früher kommst, dann darfst du auch mit uns mitessen.»

      Die Wochenendbesuche wurden länger – der Freitag wurde drangehängt, der Sonntag, ein erster Montagmorgen. Ada kam immer früher und ging auch immer etwas später, so lange, bis sich die Wochenenden am Mittwoch berührten und sie immer bei uns war.

      So begann mein Verhältnis mit Ada Hofstra, einem jungen Mädel damals noch, die offenbar wenig bis nichts an die Menschen band, die sie vor unserer Begegnung gekannt hatte. Sie sprach nie über Eltern, Freunde oder Bekannte. Soweit ich wusste, besaß sie keine Geschwister, Tanten, Onkel oder auch nur ein Haustier.

      Sie sprach nicht viel.

      Und wenn, musste man manchmal die Ohren in ihre Richtung spitzen. Was? Was hast du gesagt?

      Nach draußen kam sie wenig, der Bauernhof war nichts für sie. Im Haus bewegte sie sich die ersten Jahre vorzugsweise an den Wänden entlang, so als könnte man andere am besten an sich gewöhnen, indem man quasi nicht da war.

      Obwohl wir nicht groß wohnten.

      Ein Wohnzimmer haben wir, eine Küche und eine Waschküche, eine Diele mit Flur und eine Treppe zu einem Stockwerk mit drei Zimmern und einem Bad, und darüber noch einem Spitzboden unter dem schrägen Dach, zu erreichen mit einer Ausziehtreppe. Ein Haus gebaut für Leute, die viel im Freien sind. Aufrecht in seinem roten Backstein, aber mager und schmal.

      Bei uns fängt der Platz dahinter an. Bei der Scheune, dem Lager, dem Hof und den Ställen, dem Land dahinter, den endlosen, uferlosen Hektaren, einem Ozean aus Gras – der Domäne der Milchviehhaltung, unterteilt in geometrische Formen.

      Unser Land sei grün, heißt es. Aus der Luft stimmt das auch. Oder aus einem Auto heraus von der Hauptstraße aus gesehen, das zwischen Dorf und Stadt pendelt. Aber wenn man in seinen Stiefeln dasteht, drängen sich einem vielmehr die mächtigen Wolkenhimmel auf, die groß und beweglich sind.

      Aus der Luft würden wahrscheinlich auch die gewundenen Klinkerstraßen auffallen, die die Bauern kurvig mit den Bauern verbinden sowie die Bauern mit der Straße. Birken säumen sie, die Straßen ächzen unter der schweren Verkehrslast.

      Ansonsten ist es eine männliche Landschaft, gerade und klar, eine Landschaft, die ihrer Entwurfszeichnung auch künftig immer ähneln wird.

      Die ersten Jahre fiel es nicht so auf, dass Ada wenig Vergangenheit besaß. Es machte nichts. Ich selbst verfügte auch nicht über übertrieben viel Vergangenheit. Eine Kindheit zu Hause, eine abgebrochene Ausbildung, ein Leben auf dem Hof. Mit Interesse für die Geschicke anderer musste man geboren sein; sich das später anzueignen war schwer.

      «Das heißt, sie hatte nie Geburtstag?», fragten die Ermittler. «Wollten Sie das sagen? Es kam nie jemand vorbei? Keine Anrufe, nichts?»

      Der Ältere lehnte sich zurück, die Hände im Nacken, die Augen gegen die Decke gerichtet, wie man es sie auch im Fernsehen tun sah. «Und ab wann dämmerte Ihnen denn so allmählich, dass Ihre Beziehung nie Geburtstag hatte?»

      Zu Anfang des Verhörs hatten sie sich bemüht, neutral zu klingen, möglichst neutral und objektiv, konnte man sagen. Später gaben sie diesen Anspruch auf.

      «Ich weiß nicht, warum Menschen keine Vergangenheit haben wollen», sagte ich – oder etwas