sie mir davon erzählen wollen, dann hätte sie das sicher getan.»
Ich schaute sie an, einen nach dem anderen. Männer mit Arbeit, einem Beruf, einem Haus und Kindern. Männer, die ihre Attraktivität in den Arbeitsjahren zurücklassen mussten, die hinter ihnen lagen. «Man muss …», sagte ich. «Das heißt, man muss natürlich nichts, so meine ich es nicht. Aber man muss Leuten ein bisschen Raum geben; Zeit, Ruhe und Raum.»
«Wieso sind Sie nicht umgezogen?» Der Jüngere begann durchs Zimmer zu gehen, einen kahlen Raum, einen, so schien es, eilends für ein Verhör umfunktionierten Büroraum. «Wieso sind Sie nicht abgehauen? Erklären Sie das mal, das verstehe ich nämlich noch nicht ganz. Warum haben Sie nicht irgendwo anders neu angefangen?»
Ich dachte an die Frage, die alle immer stellten: «Was wärst du geworden, wenn du kein Bauer gewesen wärst?»
Ich dachte daran, dass der Bauer und sein Vieh zueinander verurteilt sind. Zueinander verdammt, könnte man sagen, aber dann versteht man nicht, was Liebe ist.
Ich hatte darauf keine Antwort. Ich konnte darauf nichts erwidern. Meine beste Antwort wäre gewesen, dass es diese Frage in Wirklichkeit nicht gab. Einer Kuh brauchte man nicht beibringen, Milch zu geben, einem Bauern nicht, Bauer zu sein. Sie wussten es schon, sie waren es schon, schon immer gewesen.
«Warum sind Sie nicht ausgewandert?» Er hatte aufgehört, herumzulaufen. «Kanada, Amerika, Neuseeland? Sie hatten so viel Zeit. Sie hatten so viel Vorsprung.»
In seiner Stimme steckte Verärgerung. Auf einmal hörte ich es. Müdigkeit. Als ob ihm erst jetzt bewusst würde, wie viel Zeit und Mühe es gekostet hatte, alle im weiten Umkreis zu durchleuchten, die seit dem Unglück mit Rosa einen Sprachkurs angefangen hatten.
Wir saßen, wir schwiegen.
So wurde während der Verhöre viel Zeit vertan.
Die meisten Dinge lassen sich gut erklären, besonders im Nachhinein ist das einfach. Aber es gibt auch Sachen, die besonders im Nachhinein sehr schwierig oder fast gar nicht zu erklären sind, obwohl sie einem in dem Moment selbst natürlich vorkamen.
Vater nannte Ada «das Gespenst», Mutter übernahm es. Wo ist das Gespenst? Hat das Gespenst das gemacht? Wie spät kommt das Gespenst nach unten, muss das Gespenst noch lange ausschlafen? Wenn das mal nicht wieder das Gespenst ist. Wenn das Gespenst das nicht mehr mag, dann esse ich es.
Ich fand es nicht schlimm, ein Verhältnis mit einem Gespenst zu haben. Ich merkte es nicht so, ich war tagsüber nie drinnen; Arbeit ist die beste Methode, um sich mit dem Tag zu verbinden, vielleicht auch mit sich selbst, Arbeit ist die beste Methode, um bei sich selbst zu bleiben.
Nachts erwachte das Gespenst zum Leben, im Schlafzimmer vollzog sich eine Verwandlung. Alles, was ich in all den Jahren von meinen Eltern durch die dünne Wand zwischen den Schlafzimmern hatte ertragen müssen, bekamen sie jetzt mitsamt Zinsen zurück.
Die Kraft eines Bauern kann man nicht sehen. Man muss sie spüren, erfahren, sonst glaubt man es nicht. Ada rühmte meine Kraft und Ausdauer, sie bewunderte die Form meiner Unterarme, Hände und Finger. Sie wusste, wo sie hinschauen musste.
3
MITTLERWEILE SIND GUT DREIZEHN JAHRE VERGANGEN. Die Einschätzung kann währenddessen von der Zeit beeinträchtigt sein, aber wenn ich darauf zurückschaue, jetzt, gezwungen durch Verhöre oder einfach aus mir selbst heraus, denke ich, dass Ada ihre geistige Abwesenheit, um es so auszudrücken, in der Zeit abgelegt hat, als sie mit Suze schwanger war.
Damals hat sich eine gewisse Erkenntnis in ihr breit gemacht: eine Freundin ist eine Außenstehende, ein Eindringling, eine, deren Rechte an der Nutzung des Hauses man anfechten kann. Doch mit Suze im Bauch stand sie nicht länger als Ada unter der Dusche oder in der Küche, sondern auch als die Umhüllung meiner Frucht.
Eine Trägerin eines Storkema schickte man nicht weg, ohne nicht zugleich auch ein Familienmitglied vor die Tür zu setzen.
Schritt für Schritt begann die schwangere Ada, unser Haus etwas mehr zu nutzen. Vom Schlafzimmer aus nahm sie allmählich über das Badezimmer, das Treppenhaus, den Flur, die Küche und das Wohnzimmer ihren Teil des verfügbaren Raumes ein.
Eines Tages wollte sie unsere Bettwäsche selbst waschen. «Ja», sagte sie, «warum nicht, ich habe sie doch auch selbst benutzt!» Stundenlang hielt sie die Waschmaschine und den Trockner im Schuppen besetzt. Später erbat sie sich manchmal ein behutsames Mitspracherecht bei den Einkäufen, die wir machten. Dann wollte sie lieber ein Antischuppenshampoo oder ein etwas weniger starkes Mundwasser.
Manchmal staubsaugte sie die Treppe, wienerte die Fliesen im Flur, rückte den Spiegeltüren des hohen Wandschranks mit Glasreiniger zu Leibe. Meine Mutter sah es kopfschüttelnd mit an, die Hände in die Seiten gestemmt.
Jahre gingen vorbei, zogen sich langsam und träge dahin, wir heirateten, die Kinder wurden geboren, Ada trug fortan unseren Nachnamen.
Es ist nicht schwer, Erinnerungen an die Nacht wachzurufen, als Suze geboren wurde, die Nacht und die darauffolgenden Tage wieder vor meinen Augen abzuspulen, die Ereignisse bisweilen schweben, Walzer tanzen zu lassen wie Wein in einem Glas.
Es ist auch verführerisch – ich habe es oft genug getan, hundert Mal, öfter. Trotzdem haben sich die Erinnerungen nach all den Malen des Heraufbeschwörens und Zurücksinkenlassens kaum verändert. Und das sei bemerkenswert, haben die Ermittler gesagt, denn meistens ginge dabei Einiges verloren, wenn man sie oft an die Oberfläche holt. Mit meinem Gedächtnis ist ja auch alles in Ordnung. Ich verfüge über ein gutes Gedächtnis. Das haben sie früher in der Schule schon gesagt. Verfügen. Auf das Wort «Gedächtnis» folgt oft das Wort «verfügen». Alles, was du weißt, gehört dir, alles, woran du dich erinnern kannst.
Auch Friso kam zur Welt, er selbst ist der lebende Beweis dafür, aber von seiner Geburt, dem Blasensprung, den Wehen, der Autofahrt ins Krankenhaus, den Stunden, die wir auf seine Ankunft gewartet haben, seinem Erscheinen selbst, ist mir fast nichts in Erinnerung.
Wenn ich das Ada gegenüber ansprach, wenn ich fragte, an was genau von Frisos Geburt sie sich noch erinnerte, reagierte sie empört. Aber ein paar Stunden später konnte ich sie dann oft wieder mit einem Stapel Fotos am Küchentisch sitzen sehen.
Friso war nicht weniger willkommen als Suze. Daran lag es nicht, daran konnte es auch überhaupt nicht liegen. Er war genauso geplant wie Suze, er füllte genau wie sie ein eigens für ihn in unsere Herzen gegrabenes Loch. Er war ein Junge – und einen Jungen hatten wir noch nicht. Mit ihm fand unsere Familie ihre perfekte Zusammensetzung.
Es war auch nicht so, dass wir ihn weniger lieb gehabt hätten. Ich jedenfalls nicht, das weiß ich so gut wie sicher, und auch für Adas Mutterliebe lege ich meine Hand ins Feuer. An uns lag es nicht. Die Entbindung hat sich uns nicht ins Gedächtnis gegraben, weil wir sie nicht behalten konnten. Das erste Mal in die Schule, das erste Mal allein auf dem Traktor, das erste Mal, dass man von einem Mädchen in De Tangelier angesprochen wird – diese Male behält man gut und wahrscheinlich auch für immer, ohne dass man sich dafür anstrengen muss.
Die ersten Male können sich einen Platz aussuchen, für erste Male ist das ganze Gedächtnis noch frei, aber für zweite und dritte Male ist das Gedächtnis ein Stuhl, auf dem schon jemand sitzt. Der Platz ist vergeben, besetzt von einer früheren Erinnerung.
Ada wuchs und wuchs, sie wurde größer und größer, sie tappte durchs Haus wie ein Nebenprodukt ihrer Schwangerschaft. Ihre Scheide machte mir keine Sorgen, es waren die Knochen, die Hüften, es war ihre Konstitution, die sie angesichts der auf sie einwirkenden Gewalt irgendwie hatte zusammenhalten müssen. Sie hatte immer so zerbrechlich gewirkt, so klein. Aber das ist vermutlich mit jedem Menschen so, den man liebt. Sie schrumpfen vor deinen Augen in Verletzlichkeit – je mehr Liebe, desto verletzlicher.
Aber Ada hielt eine Niederkunft zu Hause für natürlicher als in einem Krankenhaus, wo die Dinge, wie sie es ausdrückte, oft unnötig medikalisiert würden und zu wenig Raum für das Mysterium bliebe, das eine Niederkunft in