Verena Themsen

Elfenzeit 4: Eislava


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das Eichhörnchen am letzten Stück des Stamms hinauf, lief einen Ast entlang nach außen und hielt dann inne. Es setzte sich auf und reckte den Kopf hoch. Seine Schnurrhaare zitterten leicht im Wind, während es zum Nest hinüber schielte.

      »Halte dich fern, Eierdieb«, knarrte die Stimme des Adlers vom Wipfel herunter.

      Das Eichhörnchen zuckte zusammen. Seine glitzernden schwarzen Augen richteten sich nach oben.

      »Wen interessiert schon dein Gelege! Es ist kalt und hart und gefroren in der Zeit. Ich würde mir die Zähne dran ausbeißen«, keckerte es.

      Doch man sagte, die Zeit habe Einzug gehalten in die Welten der Zeitlosen. Man sagte, Dinge würden altern, die früher nie altern konnten. Dem Baum war nichts dergleichen anzumerken, doch wer wusste schon, ob nicht manche der Bewohner trotzdem betroffen waren? Das Eichhörnchen hätte zu gern einen Blick riskiert.

      Der Adler breitete in einer langsamen Bewegung die Flügel aus, als wolle er sie im Schimmer des immergrauen Himmels baden. Dennoch warf er keinen Schatten.

      »Ich wiederhole: Denke nicht einmal dran, Nagezahn. Du würdest einen mageren und haarigen Happen abgeben, aber ich würde keinen Moment zögern.«

      Der Wind strich über das Gefieder des Raubvogels. Ein leises Klingen ertönte, wann immer die silbrigen Federn sich berührten oder aneinander rieben. Der Kopf des Vogels drehte sich, sein Blick schien etwas in der Ferne zu fixieren.

      Das Eichhörnchen ließ sich wieder auf seine Vorderbeine hinunter und kletterte ein Stückchen höher.

      »Was siehst du, alter Leichenfresser?«

      »Wände werden zu Schleiern, und Schleier bekommen Risse. Alte Tore wurden versperrt, neue entstehen. Die Struktur der Welten gerät ins Wanken. Ich sehe Alte, die jung sein sollten, und Vereintes, das sich niemals hätte mischen dürfen. Und ich sehe Kinder, die ausziehen, um die Arbeit von Helden zu tun.«

      »Die Welten wanken? Droht das nächste Ragnarök?«

      Ein Rauschen erklang, als der Adler die Flügel wieder anlegte. »Ragnarök kommt dann, wenn Ragnarök kommt. Wenn der Baum zu beben und zu wanken beginnt, wirst du es als erster wissen.«

      »Wie konnte ich erwarten, von dir jemals klare Worte zu hören«, keckerte das Eichhörnchen mürrisch.

      »Die klaren Worte habe ich für die Schlangenbrut am Fuß des Baums reserviert. Was hat er mir zu sagen?« Der Adler drehte den Kopf ein wenig und neigte ihn, bis der Blick eines seiner Augen auf das Eichhörnchen fiel.

      »Nicht viel Gutes, wie immer.«

      »Manche Dinge ändern sich nie. Und das ist vermutlich richtig so. Zu vieles verändert sich zur Zeit. Es ist nicht gut. Es ist wichtig, die Strukturen zu bewahren und die Regeln zu schützen, auch wenn mein Freund in der Tiefe das nicht immer einsehen will. Also sprich. Ich werde lauschen und meine Antwort überlegen – wie seit dem Anbeginn der Zeiten, und bis zu deren Ende.«

      1.

       Im kalten Strom

      Das Licht der Frühlingssonne durchdrang in schimmernden Bahnen den Morgennebel über dem Fluss, ließ das helle Weiß der Birkenstämme am Ufer aufleuchten und brach sich an den kleinen Wellen, die eine sanfte Brise an der Wasseroberfläche erzeugte. Die Luft trug den Geruch des Schnees in sich, der Schweden noch lange nicht aus seinem Griff entlassen hatte, obwohl die Tage seit fast einem Monat länger waren als die Nächte. Raureif umhüllte die Blätter des frischen Grases, das am Ufer aus dem Boden drängte, und dämpfte das Grün. Lediglich ein einzelnes rotes Bootshäuschen, in der typischen skandinavischen Holzklinkerbauweise errichtet, brachte einen leuchtenden Farbtupfer in die von Nebel und Eiskristallen gedämpfte Szenerie.

      David zog leicht an der Pinne des Segelbootes, um gegen die Strömung eines einmündenden Bachs anzuhalten. Die silbrig glitzernden Schoten, von ihm und seiner Schwester schon zu Beginn der Fahrt mit einfachen Elfenzaubern belegt, bewegten sich und passten die Stellungen von Fock und Großsegel so an, dass der von achterlich wehende Wind sie wieder bauchig füllte. Rian, die vor dem Mast an der Backbord-Reling saß und mit über dem Wasser ausgestreckter Hand nach vorn in den Nebel spähte, ließ sich davon nicht stören. Sie schien ganz auf ihre Aufgabe konzentriert, den nächsten Übergang zu einer der kalten Strömungen der Anderswelt zu finden.

      David strich sich eine schulterlange blonde Strähne hinters Ohr und beobachtete, wie seine Schwester mit kleinen Bewegungen immer wieder an der unsichtbaren Linie entlang tastete, die ihr sagte, wo das nächste Tor zu finden sein würde. Sie tat es häufiger als notwendig, als hätte sie Angst, sie könnten den Weg verlieren, oder als seien ihre Gedanken anderswo. Doch dann drehte sie den Kopf zurück zu David, und der Blick ihrer violetten Augen begegnete dem seinen.

      Sie hatten beide die kleinen Zauber ausklingen lassen, die sonst ihr Aussehen an das der Sterblichen anglichen, da hier auf dem Fluss keine Begegnungen zu erwarten waren. Daher waren es die gewohnten vollständig gefärbten Augäpfel, die David entgegensahen und nicht violette Kreise auf einem weißen Hintergrund. Auf eine Weise, die er nicht recht erklären konnte, gab das dem Prinzen ein Gefühl der Sicherheit und Ruhe. Er lächelte seine Schwester an, und sie erwiderte sein Lächeln.

      So viele Dinge änderten sich, seit die Zeit Einzug ins Reich der Elfen gehalten hatte. Selbst das Haar ihres Herrschers und Vaters, des Riesen Fanmór, wies erste graue Strähnen auf, und sein Gesicht zierten Falten, die nicht nur von den ins unermessliche gewachsenen Sorgen herrührten. Da hatte es etwas Tröstliches, dass zumindest Rian noch immer genau so war wie vor dem langen Schlaf, aus dem sie in jenen Herbst hinein aufgewacht waren, der den Einzug der Zeit sichtbar gemacht hatte. Selbst die Erfahrung des Todes und die Wanderung ihres Schattens ins Reich des Grauen Herrn Samhain hatten ihr nicht nachhaltig etwas anhaben können, auch wenn sie für eine Weile vielleicht vorsichtiger und ruhiger geworden war.

      David hingegen hatte die verbrachte Zeit in der Welt der Sterblichen für immer verändert.

      Unwillkürlich griff er sich an die Brust, wo er glaubte, das sachte Glühen von etwas zu spüren, von dem er nicht sicher war, ob er es wirklich wollte. Eine Seele. Nur ein Funke bisher, kaum geboren, und noch konnte er entscheiden, ob er sie wachsen lassen wollte oder nicht. Doch sie war da, und egal was weiter geschah, nichts würde für ihn jemals wieder so sein wie zuvor.

      Er seufzte.

      »Wie lange werden wir brauchen, bis wir den Weltenbaum erreichen?«, fragte er, um sich auf andere Gedanken zu bringen. Niemand hatte ihnen diesbezüglich etwas sagen können.

      Rian fuhr sich mit schlanken Fingern durch das kurze blonde Haar. »Nicht mehr allzu lange, hoffe ich. Grog hat uns gewarnt, dass einige der Völker des Nordens viel Freude daran haben, einem die Durchreise so schwer wie möglich zu gestalten. Immerhin haben wir schon was zum Tauschen.« Sie machte eine Handbewegung zu den Taschen, die direkt vor dem Niedergang zur kleinen Kajüte in der Mitte des Cockpits standen. Modeschmuck, Stoffbänder, Porzellanfiguren, Naschwerk aller Art und andere Dinge waren darin gesammelt, was Rian zuletzt bei ihrem Halt in Kopenhagen gekauft hatte. Vieles davon würde ihnen Türen und Tore in der Anderswelt öffnen können, doch manches hatte Rian zweifelsohne für sich selbst reserviert. Wie zum Beispiel die Nougattrüffel, die neben ihr lagen und nach denen sie jetzt griff. »Wir durchqueren Gebiete, die nahe den Grenzen von Earrach liegen«, fuhr Rian fort. »Selbst zu guten Zeiten hat dort Fanmórs Wort nie so viel gegolten wie in Crain oder den anderen Kernländern. Jetzt, da die Tore versperrt sind, wird das mit Sicherheit nicht besser sein.«

      David nickte. Rian hatte Recht. Der Zusammenhalt der Teile des Reiches Earrach war als eher lose zu bezeichnen, soweit nicht Fanmór persönlich mit seiner unmittelbaren Macht eingriff. Mit Sicherheit gab es sogar Gegenden, in denen sie ihre Herkunft als Kinder Fanmórs besser verschwiegen, sei es, weil man dort während des Krieges im Stillen Bandorchu unterstützt hatte, sei es, weil man sich gern unabhängiger gesehen hätte, oder nach mehr Einfluss im Reich verlangte. Die Erinnerungen an Alberich, der die Suche der Geschwister nach dem Quell der Unsterblichkeit hatte ausnutzen wollen, um sowohl sie aus dem Weg zu schaffen als auch sein eigenes Aufsteigen zur Macht sicherzustellen, lagen nicht lange zurück.