Claudia Heuermann

Land oder Leben


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konnte, war das Thema Enthornung. Dieser Eingriff musste mithilfe eines Brenneisens bereits ein paar Tage nach der Geburt vorgenommen werden, und zwar sobald die kleinen Hornansatzknubbel unter dem flauschigen Babyfell spürbar wurden. Eigentlich hätte ich gern die Hörner wachsen lassen – ich fand das natürlicher, schöner, und natürlich einfacher –, doch sowohl Sister Pamela als auch Patty aus Shandaken rieten mir ganz dringend zum Enthornen, und die beiden waren schließlich Expertinnen, im Gegensatz zu mir. Zu gefährlich und unpraktikabel seien die Hörner, eine Gefahr für Mensch und Tier, und da auch Leila und Nelly enthornt waren, wären sie den gehörnten Nachkommen unterlegen und schutzlos ausgeliefert. Verkaufen könne man gehörnte Ziegen auch schlecht, auf Ausstellungen würden sie disqualifiziert (nicht dass wir vorhatten, unsere Ziegen zur Schau zu stellen), und selbst mein Ratgeber widmete dem Thema disbudding ein ganzes Kapitel.

      Obwohl ich schon ahnte, dass dies eine der furchtbarsten Aktivitäten des Bauernlebens sein würde, beugte ich mich also den Erfahrenen, ließ mir den Vorgang genau zeigen und erklären und ging fünf Tage nach der Geburt ans Werk.

      Zuerst mussten die kleinen, niedlichen, flauschigen Ziegenbabys so fixiert werden, dass sie sich nicht bewegen konnten, und das war schon schlimm genug. In Decken gewickelt und festgeschnürt auf einem Holzgestell ahnten sie, dass nichts Gutes passieren würde, wehrten sich und schrien, dass es kaum zu ertragen war. Unglaublich, wie laut und stark ein fünf Tage altes Zicklein sein kann! Ich war bereits zu diesem Zeitpunkt schweißgebadet und mit den Nerven am Ende, und obwohl ich genau wusste, was zu tun war, schien es das Unmöglichste der Welt zu sein.

      Ich atmete tief durch, warf noch einen letzten Blick auf die Gebrauchsanweisung …

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      … und dann drückte ich das rot glühende Brenneisen auf die Stelle zwischen Augen und Ohren, wo eigentlich die Hörner wachsen sollten. Zehn lange und qualvolle Sekunden lang. Pro Hornansatz. Mit sanftem Druck und Drehbewegung.

      Der beißende Qualm, der Geruch von verbranntem Haar und Fleisch waren grauenvoll, aber am schlimmsten fand ich das Geschrei, die aufgerissenen Mäuler der Kleinen, die heraushängenden Zungen und verdrehten Augen.

      In einigen Ländern darf diese Prozedur nur unter Narkose durchgeführt werden, und ich verstand, warum. Hier jedoch hieß es, dass die Betäubungsspritzen mindestens ebenso schmerzhaft und die Injektionen und Narkose noch stressiger für die Tiere seien als die Prozedur selbst, und tatsächlich: Kaum eine Minute später sprangen die Ziegenbabys schon wieder fröhlich herum, als wäre nichts gewesen. Da es kein Blut gab und die Wunden durch die Hitze sauber kauterisiert worden waren, konnten die beiden sofort von dannen toben und schienen im Nu alles vergessen zu haben. Mir hingegen zitterten noch Stunden später die Hände, ich fühlte mich schlecht, wie ein schrecklicher Tierquäler, und fragte mich, wie weit die Schreie wohl zu hören gewesen waren und ob womöglich jemand die Polizei alarmiert haben könnte.

      Doch diese Gedanken verblassten schnell. Der Frühling erblühte in voller Pracht, die Zicklein wurden größer, die Brandwunden verheilten, und wir alle liebten es, die Tiere auf der satten grünen Weide herumspringen zu sehen. Wie kleine Gummibälle hüpften sie durchs hohe Gras, munter und verspielt, und Paul und Phillip tobten zusammen mit ihnen über die Wiese, liefen um die Wette und konnten nicht genug von den quirligen Wirbelwinden bekommen. Die Idylle war einmal mehr perfekt, so hatte ich es mir vorgestellt!

      7. KAPITEL

      EIN KRABBELNDER ALBTRAUM

      »Was ist denn das für ein schwarzer Punkt da?«, fragte Phillip eines Abends und zeigte auf sein Bein.

      »Dreck«, mutmaßte Paul.

      »Ein Leberfleck? Nein, da war vorher garantiert kein Leberfleck«, war ich mir sicher. Nach genauerer Inspektion bemerkte ich einen weiteren Punkt auf Phillips Hals. Und dann noch einen hinterm Ohr.

      »Ich glaube, der Fleck hat Beine«, sagte mein schwarz gepunkteter Sohn.

      In allen Träumereien, in der ganzen Planung, in all den wunderschönen Vorstellungen waren diese kleinen schwarzen Punkte nie vorgekommen. Aber die Realität holte uns schnell ein, genau genommen schon in diesem ersten Frühjahr. Sobald die Schneedecke verschwunden war und Blüten, Blätter und Gräser sprießten, warteten sie auf uns. In großen Mengen. An den seltsamsten Orten. Geduldig und ausdauernd: die Zecken.

      Ixodes scapularis, auch deer tick genannt, ist dem europäischen Gemeinen Holzbock sehr ähnlich. Das kleine, mit der Milbe verwandte Spinnentier ist Überträger gleich mehrerer Krankheiten, darunter Babesiose, Anaplasmose und mit Abstand am häufigsten: die Lyme-Borreliose, benannt nach dem Städtchen Lyme in Connecticut, wo die Krankheit in den siebziger Jahren zum ersten Mal auffiel. Aktuell war diese bakterielle Infektion allerdings kaum irgendwo so verbreitet wie im Hudson Valley. Die Krankheit hatte hier epidemische Ausmaße angenommen, und es gab keine Impfung. Plötzlich hörte man auch immer häufiger Geschichten von Nachbarn oder Bekannten, die an der Borreliose erkrankt waren. Manche hatten nur geschwollene Knie und Fieber, andere litten unter Kopfschmerzen und Erschöpfung. Manch einer fand einen roten Kreis auf seiner Haut, die sogenannte Wanderröte, oder gar die Zecke selbst, und mit einem schnellen Gang zum Arzt und sofortiger Antibiotika-Einnahme konnte Schlimmeres verhindert werden.

      Bei einigen jedoch wurde die Infektion zu spät – oder gar nicht – erkannt, und sie hatten mit teils schwersten chronischen Symptomen zu kämpfen. Arthritis. Herzbeschwerden. Völlige Erschöpfung. Auch Gesichtslähmungen und andere neurologische Probleme waren keine Seltenheit. Zwei Bekannte im näheren Umfeld mussten sogar ihre Arbeit aufgeben, wurden zu Invaliden. Zu allem Übel kam dann noch hinzu, dass kaum eine Versicherung die langwierige Behandlung einer chronischen Borreliose bezahlte. So hörten wir auch von einem Kind im Nachbardorf, das schon länger krank war. Die Eltern mussten für jeden Arztbesuch zweitausend Dollar hinblättern, dafür Kredite aufnehmen, ihr Auto verkaufen und auf der Crowdfunding-Plattform GoFundMe betteln gehen. Die Familie stand am Rande des Ruins – wegen eines kleinen schwarzen Punktes!

      Bei mir setzte dementsprechend in diesem Frühling eine panische Pünktchen-Paranoia ein. Und zwar an jenem Abend, als ich an Phillip diese drei Zecken fand. Nymphen, noch nicht ausgewachsene Tiere, so klein, so winzig, dass sie mit bloßem Auge kaum zu erkennen waren. Wie Sandkörner. Noch am selben Abend fand ich einen weiteren Punkt in Pauls Gehörgang.

      »Ist das ’ne Kruste oder ’ne Zecke?«

      »Weiß ich doch nicht.«

      »Hast du dich im Ohr gekratzt?«

      »Nein.«

      »Wie soll ich das Ding denn da jetzt rauskriegen? Mist, ich glaub, jetzt ist der Kopf ab, und zerquetscht hab ich sie wahrscheinlich auch. Was, nein – da krabbelt sie! Huch. Oha! Ich halt’s nicht aus«, schnappatmete ich schwitzend.

      Wir hatten schon seit unserem Einzug im vergangenen Jahr regelmäßige ›Zeckenchecks‹ durchgeführt, nach dem Spielen im Wald immer mal kurz nachgeschaut – das gehörte zum Landleben dazu, wussten wir, aber es war eher eine Formsache gewesen. Wir hatten bisher nie etwas gefunden. Doch schon ohne die zahlreichen Krankheiten jagten mir diese Tiere Angst und Schrecken ein. Die Vorstellung, dass die kleinen Blutsauger unbemerkt auf dem Körper herumkrabbelten, sich dann mit ihrem Mundstück in die Haut eingruben, um dort tagelang zu verharren und immer dicker (und ekliger) zu werden, hatte mir schon als Kind Albträume bereitet. Doch jetzt bekam dieser Schrecken eine neue Dimension. Wie konnte ich nur meine Kinder schützen und verhindern, dass auch sie krank wurden?

      Gründlichere und häufigere Zeckenchecks, das war die erste Maßnahme. Denn nur wenn die Zecken über einen längeren Zeitraum das Blut saugen, so hatte unser Arzt gesagt, kann die krankmachende Bakterie übertragen werden. Borrelia burgdorferi lauert nämlich in den Eingeweiden der Zecke, und erst wenn diese dort unser Blut eindickt und überschüssige Flüssigkeit aus ihren Därmen mit ihrem Speichel zurück in die Wunde drückt, kann der Keim in unseren Körper gelangen. Das dauert eine ganze Weile, und wenn man also mindestens alle zwölf Stunden kontrolliert und wirklich