Baum war das Einzige, was sich in der ansonsten völlig eingefrorenen Szene bewegte. Seine Blätter schwangen auf seltsame Weise hin und her, zitterten, zuckten immer stärker, bis sich der Baum schüttelte, als wäre er besessen. Panisch öffnete ich das Fenster und rief nach den Kindern, die sich jedoch nicht von der Stelle rührten. Da ich sie nur von hinten sah, konnte ich nicht sagen, ob sie vor Schreck oder vor Faszination erstarrt waren. Ich lief, so schnell ich konnte, nach draußen.
»Paul, Phillip, hierher, sofort, was macht ihr da!«, schrie ich. Keine Reaktion.
»Kommt schon, KOMMT HER!!« Ich brüllte aus vollem Halse. Jetzt drehten sie sich endlich um, mit weit aufgerissenen Augen und offen stehenden Mündern.
Und dann passierte es. Ein lautes Krachen. Blätter und übrig gebliebene Äpfel fielen wie Hagel zu Boden, das Prasseln donnerte wie Kanonenfeuer in meinen Ohren. Ganz langsam senkte sich einer der großen Seitenäste immer tiefer zur Erde. Die Kinder schauten wie hypnotisiert zum Baum zurück, und wir alle sahen ungläubig zu, wie etwas Großes, Schwarzes in dem Blätterdickicht zum Vorschein kam.
Gigantische Tatzen. Beine so dick wie der Baumstamm selbst. Zottiges Fell. Und ein riesiger Kopf. Ich kreischte vor Entsetzen.
Der Bär kletterte behäbig vom zerbrochenen Ast und schüttelte sich. Nur ein paar Meter trennten ihn jetzt von den Kindern, und als er da so stand, schien seine Schulter höher aufzuragen als die Kinderköpfe.
Ich war noch mindestens zwanzig Meter entfernt, löste mich aus meiner Erstarrung, japste und schrie panisch und rannte dann instinktiv auf Paul und Phillip zu. Ich musste sie beschützen, musste sie retten.
Der Bär starrte mich an. Ich starrte zurück. Ich sah seine kleinen Augen im massigen Kopf. Die große hellbraune Schnauze. Jetzt zog er die Lippen hoch, entblößte die Zähne, sie waren riesig und sahen rötlich aus. Hin und her schwenkte und schüttelte er seinen Kopf, doch er brüllte nicht, wie man das vielleicht erwarten würde, sondern zischte und fauchte.
Natürlich hatte ich gelesen, wie man sich beim Auftauchen eines Bären verhalten soll: Abstand halten, langsam zurückweichen, nicht rennen. Nicht in die Augen schauen. Sich groß machen. Und den Bären mit Lärm vertreiben. Doch all diese Informationen waren komplett aus meinem Kopf gefegt. Ich handelte ohne Vernunft, völlig automatisch, ohne klare Gedanken. Ich dachte nur an meine Kinder, die immer noch wie angewurzelt dastanden.
Wahrscheinlich war das unser Glück. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätten sie die Flucht ergriffen. Dass ich nun stattdessen auf sie und damit auch auf den Bären zulief, schien ihn zumindest kurzfristig zu verwirren. Mein panisches Gekreische mochte er offenbar auch nicht, und nach einem weiteren lauten Zischen und Aufstampfen mit den Vordertatzen drehte er ab und verschwand im Wald.
Nach diesem Ereignis wurden sehr strikte Regeln eingeführt. Spontane Ausflüge in den Wald waren vorläufig untersagt. Kein Müll, einschließlich Chips- und Bonbontüten, durfte zu irgendeiner Zeit draußen irgendwo herumliegen oder im Auto vergessen werden. Bäume mussten vor dem Beklettern genau untersucht, die Umgebung ständig beobachtet werden. Ein genauer Verhaltens- und Fluchtplan wurde regelmäßig durchgesprochen und geübt.
Ich kramte ein altes Flugblatt hervor, das wir auf einem der Campingplätze auf unserer ersten Reise hierher erhalten hatten, und befestigte es am Kühlschrank:
Das freie Leben und die unbeschwerte Kindheit hatten ihren ersten Dämpfer erfahren.
4. KAPITEL
PAARUNGSZEIT IM KLOSTER
Schon bald nach Ende der Renovierungsarbeiten begann ich, mich über die Milchviehhaltung zu informieren. Frische Milch ohne Schadstoffe, selbst gemachter Joghurt und Käse, Sahne und Butter aus eigener Herstellung – das war mein Traum, und dazu gehörte natürlich auch, dass die Milch von einem glücklichen und freien Tier kam, das draußen sein Futter fand und unter besten Bedingungen lebte – nicht von einer gequälten Kuh aus der Massentierhaltung.
Meine Mission ›Gesundes Leben‹ ging somit in die nächste Runde – und es wurde höchste Zeit, denn obwohl ich schon seit Jahren fast ausschließlich Bioprodukte kaufte, hatte ich das Gefühl, der Lebensmittelindustrie nicht trauen zu können. Es gab zu viele Skandale, immer wieder erschreckende Schlagzeilen, zu viele unerwartete Enthüllungen. Ich wollte keine Rückstände von Antibiotika, Hormonen und Steroiden in der Nahrung haben und auch sonst keine Gifte, Weichmacher oder andere Schadstoffe, die während der Produktion ins Essen gerieten und sich dann als krebserregend herausstellten. Wir wussten doch niemals wirklich, was wir da eigentlich aßen! Es sei denn, wir produzierten all unsere Nahrung vom Anfang bis zum Ende selbst. Wenn dann davon auch noch die Umwelt profitierte – umso besser. Es würde in unserem Haus keine Milchtüten oder Plastikflaschen mehr geben, keine Joghurtbecher, Käseverpackungen oder ähnlichen Müll – unsere Milch würde gleich vom stählernen Melkeimer in Glasbehälter befördert werden und dabei pur und unbelastet bleiben. Auch lange Transportwege und eine aufwendige Lagerung würden wegfallen, was schließlich unserem Klima zugutekam.
Am Anfang meiner Recherchen plante ich, eine Kuh in die Scheune zu stellen. Ich kam von dieser Idee jedoch schnell wieder ab, nachdem ich verschiedenen Erfahrungsberichten entnahm, wie schwer es ist, eine Kuh artgerecht zu halten, wie viel Arbeit und wie viel Milch – viel zu viel für eine Familie – eine Kuh mit sich bringt. Klimaschonend sind Kühe ja auch nicht gerade, und wenn ich wirklich konsequent und umweltbewusst sein wollte, konnte ich von meinem Grundstück aus keine methangeladenen Kuhfürze in die Atmosphäre schicken, fand ich.
Nein, der Ratschlag aller erfahrenen Kleinbauern in der näheren und weiteren Umgebung lautete: Ziegen. Die seien viel ökonomischer, einfacher zu halten und zu versorgen, und man könne unter den verschiedenen Rassen eine auswählen, die in Sachen Milchgeschmack und -menge genau die persönlichen Bedürfnisse befriedigte. Die allgemeine Auffassung, dass Ziegenmilch nach Ziege schmeckt, sei ein Gerücht, ließ ich mich belehren, und gesünder sei sie allemal. Ganz zu schweigen von den köstlichen Käsen, die man daraus machen konnte.
Also begab ich mich auf die Suche. Ich schaute mir Nubier mit Schlappohren und hohem Butterfettgehalt an und Oberhaslis mit Stehohren und mittlerem Fettgehalt. Es gab auch Lamanchaziegen ganz ohne Ohren, aber mit besonders schmackhafter Milch, oder winzige Pygmäenziegen, die immer noch leicht eine ganze Familie mit Milch versorgen konnten.
Schließlich fiel meine Wahl auf zwei Saanenziegen. Diese alpine Rasse, benannt nach einer Schweizer Gemeinde, ist bekannt für ihre Freundlichkeit, für schneeweißes Fell, Stehohren und einen relativ niedrigen Fettgehalt in der Milch. Sehr schön sahen unsere beiden Exemplare außerdem aus, fast wie wilde Bergziegen. Sie hießen Leila und Nelly, und ich fand sie in einem orthodoxen Kloster in Otego, einem kleinen Ort im Norden des Bundesstaates New York. Dort lebte eine Gruppe Nonnen abgeschieden mit ihren Tieren, züchtete, pflegte, molk und gewann Nahrungsmittel.
Sie taten genau das, was ich nun auch vorhatte, und bei meinem ersten Besuch lernte ich bereits, wie man Hufe beschnitt, den unvermeidlichen Wurmbefall mithilfe der FAMACHA-Karte überwachte, was in der Ziegennotfallapotheke alles vorhanden sein musste und wie wichtig es war, auf ein frisch ausgestelltes CAE-Zertifikat zu achten, um sich auf keinen Fall ein Tier mit ansteckender Capriner Arthritis-Enzephalitis in den Stall zu holen.
Zugegeben, das hatte ich mir irgendwie einfacher vorgestellt, doch Sister Pamela zeigte und erklärte mir alles geduldig. Sie war eine herzliche und sehr resolute Nonne, mit rotem, rundem Gesicht und Jeanskutte unter dem weißen Schleier, und meine anfängliche Befangenheit verflog schnell. Das Kloster sah auch nicht aus wie eine heilige Stätte, sondern eher wie ein Bauernhof, mit vielen Weiden, Ställen und Feldern. Frauen in schwarzen Habits arbeiteten in den großen Gärten, grüßten, lachten, und überall liefen Ziegen, Schafe und Hühner umher. Es war eine kleine, idyllische Oase, und außer der Tracht erinnerte kaum etwas an die strenge Religiosität der Bewohner. Lediglich einige Kreuze und Marienstatuen, dezent auf schmalen Anrichten platziert, sowie religiöse Bilder an den Wänden zeigten mir, wo ich war, als ich