was, wenn die Leute reingucken können?!« Der äußere Schein – die Scheinheiligkeit – musste immer gewahrt bleiben!
Ob sich die beiden geliebt haben?
Ich glaube, ja! Obwohl es sich um zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten handelte – sie eher aufbrausend und er der stille, ausgleichende Typ –, hat meine Eltern eine besondere Liebe verbunden. Eine Liebe, die geprägt war von einer Zeit, in der Gefühle nicht den gleichen Stellenwert hatten wie heute.
Liebevolle Zuwendung habe ich in meiner Kindheit kaum erfahren. Mit meinem Vater verbinde ich herzliche Gefühle, mit meiner Mutter nicht. Da ist einfach zu viel passiert, was mich verletzt hat. Später habe ich meine Mutter aber auf eine sachliche Art geliebt. Ich habe sie geachtet und respektiert.
Sachlich lieben! Das schreit nach einer Erklärung, oder?
Es gibt Menschen, die sind ungeduldig, egoistisch, neidisch und eifersüchtig – und trotzdem brauchen auch diese Menschen Liebe, Achtung und Wertschätzung. Mein Bauchgefühl sagt: »Unmöglich, das schaffe ich nicht. Die sind so was von unsympathisch, die haben gar keine Liebe verdient!«
Aber Gott sagt: »Gerade die Unsympathischen brauchen Liebe und Wertschätzung. Sie sind verletzt und reagieren aus ihren Verletzungen heraus.«
Und Gott verspricht: »Mit meiner Kraft versetze ich dich in die Lage, auch diejenigen Menschen zu achten, die lieblos sind. Mit dem Ziel, dass die Liebe sie in einem langen Prozess verändert. Von dir selbst heraus kannst du solche Menschen nicht lieben, aber meine Energie in dir bewirkt, dass du dich mit ihnen abgibst, Zeit für sie hast, ihre Fragen und Vorwürfe anhörst, ihnen hilfst, für sie da bist. Ihre Kommentare nicht zu persönlich nimmst.
Keiner kann etwas für seine Prägung und Erziehung. Meine Verantwortung als erwachsener Mensch ist, meine Vergangenheit – den Mangel, den ich erfahren habe – aufzuarbeiten.
Meine Mutter hat gerne folgenden Spruch zitiert: Du sollst Vater und Mutter ehren – ein wichtiges Gebot der Bibel. Es ist eine der vielen Bibelstellen, die schon oft für eigene Zwecke und Ziele missbraucht wurden. Ohne zu beachten, dass dieses Gebot einen ganz bestimmten historischen Hintergrund hat.
Für solche Völker war es überlebenswichtig, bei Bedarf schnell unterwegs zu sein, und da konnten Omis und Opis schon mal stören. Alte Menschen wurden regelrecht ausgesetzt. Es war keine böse Absicht, sondern kultureller Konsens. Das wurde nicht hinterfragt.
Bis Gott kam und sagte: »Moment mal! Ich empfehle euch: Achtet bitte auf eure Eltern. Sie haben euch das Leben geschenkt. Sie haben euch zu essen gegeben und für euch gesorgt. Es ist nicht gut, dass ihr sie einfach so aufs Abstellgleis schiebt. Nehmt sie mit. Auch wenn das zusätzlichen Stress bedeutet.«
Verstehen Sie?
Sachliche Liebe hat für mich ganz viel mit dieser Form der Ehrerweisung zu tun. Trotz allem Schlimmen sind meine Eltern liebenswert. Wenn nicht auf emotionaler Ebene, dann auf sachlicher.
Meine Eltern und speziell meine Mutter haben mir viel Leid zugefügt, aber ich habe sie ab einem gewissen Alter immer geachtet und geehrt. Als ich meine Kindheit reflektieren konnte, habe ich mich bewusst dafür entschieden, sie zu lieben.
Da haben wir es wieder:
LIEBE IST SO OFT EINE ENTSCHEIDUNG. IMMER WIEDER.
Liebe bedeutet nicht, alles herunterzuschlucken und geschehen zu lassen, was man eigentlich nicht möchte. Nein, Liebe bedeutet auch, die Dinge bewusst anzusprechen, die einem nicht gefallen.
In den 80er-Jahren haben Hanna und ich versucht, in liebevoller Art mit meiner Mutter über ihren Erziehungsstil und ihre eigene Kindheit zu reden. Aber sie war – anders als mein Vater – nicht in der Lage, darüber zu reflektieren. Meine Mutter war es gewohnt, immer zu gehorchen, alles hinzunehmen und erst recht nichts zu hinterfragen. Friss oder stirb. Glaub’s oder lass es. Keine Widerrede, basta! Von Pädagogik, Empathie oder Psychologie keinen Schimmer.
Irgendwann haben wir uns entschlossen, meiner Mutter keine Gespräche mehr aufzudrängen …
Logisch, viele Angehörige dieser Generation haben nicht gelernt, selbstständig zu reflektieren, Gutes und Schlechtes zu analysieren. Erst recht nicht meine Mutter, die streng religiös erzogen wurde und schlimme Gewalt erfahren hat. Druck, Zwang und Schläge gehörten in ihrer Familie zum Tagesprogramm. Und diese Prägung hat sie eben an mich weitergereicht.
Irgendwann haben wir uns entschlossen, meiner Mutter keine Gespräche mehr aufzudrängen, sondern sie »in Frieden« zu lassen. Je mehr ich mir bewusst gemacht habe, was meine Mutter wohl in ihrer eigenen Kindheit erlebt hat, desto mehr Mitleid habe ich gespürt.
Das hat mir dabei geholfen, sie für das zu achten, was sie mir gegeben hat, auch wenn ihre Verhaltensweisen bei mir einen Mangel verursacht haben. Einen Mangel an Liebe und Selbstbewusstsein, den ich später mühsam ausgleichen musste.
Aber Liebe macht manchmal keinen Spaß.
Mutter Teresa hat sicherlich keinen Spaß daran gehabt, in den Slums von Kalkutta im Dreck zu leben und stinkenden und kranken Menschen zu dienen. Aber sie hat es trotzdem getan. Aus Liebe – nicht weil es so lustig gewesen wäre und weil es Spaß gemacht hätte.
Und Jesus hat es auch keinen Spaß gemacht, am Kreuz von Golgatha für uns zu sterben. Zutiefst gedemütigt und unter furchtbaren Schmerzen. Aber er hat es trotzdem getan. Aus Liebe.
Wenn ich das Verhältnis zu meiner Mutter aus dieser Perspektive betrachte, rückt dies die Prioritäten zurecht: Ich kann meine Mutter lieben, ohne dass ich mit ihr viele positive Erlebnisse verbinden muss.
Denn Liebe ist eine Entscheidung, manchmal gegen meine Gefühle, und sie ist nicht zwingend mit Spaß verbunden. Aber Liebe ist sinnvoll und wichtig, weil sie Menschen verändern kann.
ICH HABE MICH MIT MEINER MUTTER NIE VERSÖHNT, ABER ICH HABE IHR BEWUSST VERGEBEN.
Die Bereitschaft zu dieser Vergebung bekam ich in einem Gottesdienst am Nollendorfplatz in Berlin. Pastor Volkhard Spitzer brachte die amerikanische Bewegung der Jesus People nach Berlin und war als »Hippie-Pastor« bekannt. In den Medien wurde viel über ihn berichtet.
Klar, dass ich mir das auch mal anschauen musste. Und es wurde eine besondere Erfahrung. Nach der Predigt ließ der Pastor zehn Minuten Zeit der Stille, in der jeder Zuhörer über das Verhältnis zu seinen Eltern nachdenken konnte.
Ich kniete damals vor einem der typischen Nolli-Kinosessel und hatte den Eindruck, dass Gott von mir wollte, dass ich meiner Mutter vergebe. Dort in der Stille habe ich meinen ganzen Schmerz »herausgeschrien«. Ich habe Gott gebeten, meiner Mutter zu vergeben und mir ebenfalls zu diesem inneren Schritt zu verhelfen.
Dieses Erlebnis hat mein Verhältnis zu meiner Mutter verändert; ich konnte sie von da an mehr und mehr achten und wertschätzen. Ich habe gelassener auf ihre Vorwürfe reagiert und versucht, sie mit Gottes Augen zu sehen.