presste ihre zitternden Lippen zusammen, in der Hoffnung, dass sie sich dadurch beruhigten.
Sie fühlte sich schuldig, als hätte sie etwas mit dem Verschwinden von Felix Riegen zu tun. Schweiß lief an ihr hinab. An Stirn, Achseln und Kniekehlen. Ihr Kopf hämmerte so stark, als wäre sie gerade einen Marathon gelaufen.
Los, schnell weg von hier!
Doch zunächst zwang die Übelkeit sie zu bleiben. Abrupt neigte sich ihr Körper in brutaler Eigenregie nach vorne und ließ sie noch einmal würgen.
Nach einigen Sekunden konnte sie wieder gerade stehen, wenn auch mühsam. Nach einer Weile schaffte sie es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Und schließlich begann sie zu laufen.
Schnell wich die Hitze in ihrem Körper einer erfrischenden Kühle, die durch einige aufziehende Gewitterwolken herangetrieben wurde. Sie rannte so schnell wie noch nie zuvor. Wie im Rausch jagte sie an Passanten vorbei, ohne Gesichter wahrzunehmen.
Blass und ausgelaugt stand Nadja schließlich vor ihrem Elternhaus. Vom Anblick ihrer Tochter geschockt, rief ihre Mutter erst die Schule an und fragte aufgebracht, ob die Schulleitung erklären könne, warum zwei Kinder ohne Aufsicht Strafarbeiten in der Schule verrichten mussten. Danach wählte sie die Nummer der Polizei und teilte mit, dass ihre Tochter den Schülerkalender von Felix Riegen gefunden habe.
Eine neue Spur in einem Fall, der seit fünfzehn Jahren ungeklärt war.
Keiner wusste zu diesem Zeitpunkt, was diese Entdeckung bedeutete.
Vor allem ahnte noch niemand, dass durch diesen Fund das Böse erst erwachte.
1
Ich stand mitten im Brüsseler Berufsverkehr, als mich der Anruf erreichte, der alles verändern sollte. Es war erst halb neun, doch das Thermometer zeigte bereits achtundzwanzig Grad Celsius an. Während vor den Cafés junge Banker Cappuccino schlürften und adrett gekleidete Diplomatinnen sich die Sonne ins Gesicht scheinen ließen, bescherte mir die Klimaanlage eine Niesattacke nach der anderen. Ich stand kurz vor einer Sommergrippe, wenn ich nicht schon mittendrin steckte. Laut der rau klingenden Frauenstimme im Radio sollte das Quecksilber in den kommenden Tagen nicht unter dreißig Grad sinken.
Was ich brauchte, war eine Verlängerung meiner Beurlaubung, besser noch ein paar freie Tage. Stattdessen war heute der Tag, an dem ich meine geregelte Arbeit wieder aufnehmen sollte.
Die vorangegangenen fünf Monate hatte ich damit zugebracht, das Drogennetzwerk einer algerischen Familie zu beobachten und aufzudecken. Die Familienmitglieder, wobei dieser Begriff sehr weit gefasst werden durfte, benutzten untereinander eine eigens kreierte Sprache. Unter diesen Voraussetzungen war allein die Suche nach Informationen ein Spiel mit dem Feuer. Einmal die falsche Person angesprochen oder eine falsche Form der Verschlüsselung benutzt – ich wäre direkt aufgeflogen. Die persönlichen Folgen dieses Einsatzes waren verheerend. Ich schlief schlecht, aß wenig und lebte in Isolation.
Ohne meinen Kollegen Tim de Jong hätte ich das Ganze nicht durchziehen können. Er war erst seit einem Jahr in meiner Truppe gewesen, war aber innerhalb weniger Wochen zu meinem besten Mitarbeiter avanciert. Dabei hatte er es nicht leicht gehabt unter den Kollegen, denn sein Schwiegervater war kein Geringerer als der Polizeipräsident Belgiens.
Trotz der schiefen Blicke von links und rechts war Tim immer voll bei der Sache. Ich bin mir sicher, dass er es weit gebracht hätte.
Nach vier mühsamen und relativ erfolglosen Monaten erklärte sich schließlich ein reumütiger Algerier bereit, als Kronzeuge zu fungieren. Er wollte auspacken. Vermutlich hatte der Tod seiner Tochter den Ausschlag gegeben. Alles war vorbereitet. Wir hatten bereits den Sekt kalt gestellt.
Doch dann der Schock. Eine Woche vor Verhandlungsbeginn kam unser Kronzeuge bei einem Autounfall ums Leben. Zufall oder nicht – die ganze Recherche war für die Katz. Alles in allem nur die Fortsetzung einer ziemlich frustrierenden Odyssee.
Die Wende kam unerwartet: Auf dem PC des Kronzeugen fanden wir Hinweise auf einen bevorstehenden Riesendeal am Antwerpener Hafen. Unsere Chance, an die Hintermänner zu gelangen. Und tatsächlich, die Fracht kam in Antwerpen an. Alles lief nach Plan. Wir standen kurz vor dem Zugriff, als aus einem Hinterhalt unversehens ein Dutzend Bewaffnete das Feuer eröffnete. Auch die Familie hatte ihre Hausaufgaben gemacht.
Uns blieb nur der Rückzug. Wir waren insgesamt sechzehn Leute, von denen fünf bereits getroffen waren. Ich trommelte meine Männer zusammen, mit so viel Wirbel wie möglich. Trotzdem feuerten einige weiter.
Ich schrie, so laut ich konnte.
Aber Tim hatte seinen eigenen Kopf. Er stürmte auf den Container mit den Drogen zu, hinter dem sich ein weiterer Angreifer versteckte. Während die anderen meinem Befehl folgten und nach Deckung suchten, blieb ich wie angewurzelt stehen und sah aus der Ferne das, was ich mein Leben lang nicht mehr vergessen würde.
Tim wurde von Kugeln durchsiebt, bevor sein Körper mittels eines Molotowcocktails in Brand gesetzt wurde.
Das lag nun vier Wochen zurück. Seitdem war ich beurlaubt. Mir war angeraten worden, mich zu erholen. Aber wie sollte ich mich erholen, wenn ich jeden Tag mit den gleichen entsetzlichen Bildern aufwachte, mit denen ich mich am Abend zuvor ins Bett gelegt hatte?
Als ich mich vor zwei Jahren für die Stelle des Kriminaloffiziers in Strombeek beworben hatte, waren die Resultate meines Einstellungstests gut gewesen. Aber die Stelle wurde aus Spargründen kurzerhand wieder gestrichen. Die Jury empfahl mir stattdessen den Posten als leitender Ermittler im Drogendezernat.
»So sind Sie breit aufgestellt, das wird Ihre Karriere pushen.«
Die Wahrheit ist: Dieser Job hat mein Privatleben zerstört und mich als psychisches Wrack zurückgelassen. Der Tod von Tim war nur der Höhepunkt einer Zeit, die ich am liebsten aus meinem Gedächtnis streichen würde.
Alles begann vor etwa drei Monaten – zu der Zeit sah es noch ganz gut für uns aus in der Sache mit der algerischen Familie. Elise rief mich an und teilte mir mit, dass sie sich vorübergehend von mir trennen wolle. Ich fiel aus allen Wolken und vermutete, dass ein anderer im Spiel war. Aber meine Frau stritt das ab. Vielmehr hätten wir uns auseinandergelebt. Sie brauche Zeit zum Nachdenken. Ich versuchte sie umzustimmen und argumentierte, dass der Job nicht ewig dauern würde. Aber es war nichts zu machen. Sie bestand auf eine Pause. Und die grausame Folge der Trennung war, dass ich meine Tochter Liv nicht mehr sehen durfte, wann ich wollte.
Als ich zuletzt mit ihr telefonierte, schluchzte sie, sie wüsste gar nicht mehr, wie ich aussehe. Nach einigen Minuten schaffte ich es, sie zu beruhigen. Ich versprach ihr hoch und heilig, dass wir demnächst wieder mehr Zeit miteinander verbringen würden. Auch wenn mir klar war, dass ich dazu nicht den Job weitermachen konnte, für den ich derzeit angestellt war. Ich war entschlossen, etwas zu ändern. Ich wusste nur noch nicht, wie.
Ein guter Ehemann wollte ich sein. Und noch mehr ein guter Vater. In den letzten zwei Jahren war ich weder das eine noch das andere gewesen. Das wollte ich jetzt nachholen. Wenn es nicht schon zu spät war.
Als mein Handy klingelte, hoffte ich, es wäre Liv oder Elise, die mir mitteilen wollten, dass sie mich so sehr vermissten wie ich sie. Doch auf dem Display erschien nur »Unbekannte Nummer«. Als ich abhob, vibrierte der Innenraum des Wagens, so laut und basshaltig war die Stimme des Mannes am anderen Ende der Leitung.
»Guten Morgen, Herr Donker, hier ist Harald Karls. Ich bin Oberkommissar der Gemeinde Raaffburg. Darf ich kurz stören?« Der Ton in seiner Stimme wurde zum Satzende hin immer schwächer, die letzten Worte waren fast nicht zu hören.
»Raaffburg? Das ist –«, begann ich, bevor Karls mich unterbrach.
»Raaffburg ist eine kleine Stadt im deutschsprachigen Teil unseres Landes. Genauer gesagt im Osten, nah an der Grenze zu Deutschland«, sagte er bestimmt.
Zum Glück hatte er mich unterbrochen, denn ich hätte es in Flandern angesiedelt. Mir war zwar klar, dass in Belgien neben Französisch und Niederländisch auch Deutsch gesprochen