Stephan Haas

Belgische Finsternis


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Vielleicht aber taugte die Gegend als ein »Klein-Europa«.

      Ich war gerade dabei, die zurechtgelegten Argumente vorzutragen, als ich Liv erblickte. In einem Sommerkleid mit lauter bunten Blumen kam sie die Treppe heruntergehüpft. Die Freude über mein Erscheinen war ihr anzusehen. Gleichzeitig erkannte ich, dass sie sich zwang, ihre Mundwinkel nicht zu sehr zu heben. Vermutlich ahnte sie schon, was kommen würde.

      »Papaaa!«, rief sie voller Begeisterung.

      Wie sehr ich sie vermisst hatte! Kaum vorstellbar, dass ich ihre Liebe mit einem Stiefpapa teilen sollte.

      Noch ist es nicht so weit.

      »Wow, bist du chic angezogen! Geht ihr auf eine Modenschau?«, fragte ich schmunzelnd.

      Sie drängelte sich an ihrer Mutter vorbei nach draußen, nahm meine Hand und drehte eine Pirouette. Von ihren blonden Locken tropften vereinzelt Wassertropfen auf den Blaustein.

      »Neiiin«, entgegnete sie gedehnt und verdrehte dabei die Augen. »Ich mache einen Ausflug mit Mama. Zum Tierpark. Da gehen wir ein Eis essen.« Sie verkündete es voller Stolz, als wollte sie, dass die ganze Welt es hörte.

      »Wir sind aber schon zu spät«, ging Elise dazwischen. »Und du hast dir nach dem Baden nicht die Haare getrocknet, wie ich gesagt habe. Geh ins Bad zurück und föhn dir die Haare. Ich klär hier noch was mit Papa, und dann fahren wir.«

      »Aber –«

      »Kein Aber!« Sie warf Liv einen strengen Blick zu. Dabei zog sie Nase und Lippen zusammen, wie immer, wenn sie etwas halb ernst, halb freundlich zu verstehen geben wollte. Liv schmollte und verschwand wieder im Haus. Sie wusste, wann es keinen Zweck hatte, weiterzubetteln.

      »Los, sag, was du zu sagen hast. Dann müssen wir los.«

      Elise schaute mich an, diesmal ohne eine Miene zu verziehen. Für einen Moment glaubte ich, in ihren Augen eine Träne zu erkennen. Doch ich täuschte mich. Es tat weh, sie so zu sehen. Fordernd. Gefühllos. Kalt. Wie gern hätte ich sie in den Arm genommen und ihr gesagt, wie leid mir das alles tat und dass ich sie liebte. Dass ich sie und Liv zurückhaben wollte.

      »Ich werde in Zukunft mehr Zeit haben«, sagte ich stattdessen nur.

      Elise starrte auf den Boden. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Piet!«

      Ich streckte meine Hand nach ihrer aus. »Es wird ruhiger, das verspreche ich.«

      »Lass dir mal was Neues einfallen!«

      Sie ließ meine Hand ins Leere laufen und folgte Liv, die die Treppe hinauftippelte.

      Nachdem Liv mir in ihrem Zimmer stolz die neuesten Puppen präsentiert hatte, erzählte ich ihr von meinem Vorhaben. Sie nickte verständnisvoll. Wie eine Erwachsene.

      Du hast ihr die Leichtigkeit genommen!

      »Und wann bist du wieder ganz da?«, fragte sie, ohne den Blick von ihrer Puppe zu lösen.

      »Bald, mein Schatz«, sagte ich.

      Merkst du nicht, wie ausweichend du antwortest?

      Ich legte einen Arm um sie. Sie zeigte keine Reaktion. Ich blickte auf zu dem von fliegenden rosablauen Elfen besiedelten Rahmen eines Spiegels. Dort hing ein Foto von mir und Liv, aufgenommen vor zwei Jahren auf Korsika. Es war eine Aufnahme aus glücklicheren Tagen. Wir beide waren braun gebrannt und strahlten in die Kamera, die Elise bediente. Je länger ich das Bild betrachtete, desto deutlicher fiel mir auf, wie ich mich seitdem verändert hatte. Während der Mann auf dem Bild einen gepflegten Kurzhaarschnitt trug, glatt rasiert und durchtrainiert war, wirkte derjenige, den ich im Spiegel sah, irgendwie verlebt. Mein Bart war viel zu lang geworden. Meine Haare sahen spröde und wild aus. Und das zerknitterte graue Kurzarmhemd, das bei jeder anderen Farbe längst verblichen gewesen wäre, trug ich heute den dritten Tag in Folge.

      Ich schaute definitiv zu selten in den Spiegel.

      Der essenzielle Unterschied aber bestand in etwas anderem: Damals war ich glücklich gewesen. Es schien, als wären der Mann auf dem Foto und mein heutiges Ich zwei grundverschiedene Menschen. Das einzig Konstante war die vier Zentimeter lange Narbe, die meine Stirn verunstaltete.

      Ich war gerade im Begriff, Liv den Kopf zu streicheln und ihr vorzuschlagen, mich in Raaffburg besuchen zu kommen, als mein Handy klingelte. Ich zückte es und sah auf das Display. Smets.

      »Hallo, Ron«, meldete ich mich und sah Liv hinterher, wie sie mit hängenden Schultern aus dem Zimmer schlich.

      »Piet, wie geht es dir?«, fragte er so förmlich, wie er es sonst nie tat.

      »Ich sehne mich nach Landluft«, sagte ich und trat aus Livs Zimmer. Beim Telefonieren benötigte ich Platz zum Gehen, eine alte Angewohnheit.

      »Du weißt es also schon.«

      »Was weiß ich?«

      »Dass du nach Raaffburg gehen sollst?« Er klang, als wäre ich derjenige, der etwas erklären müsste.

      »Ja, weil du es möchtest.« Ich konnte meine Verärgerung nicht verbergen.

      »Ich würde dich am liebsten hierbehalten, das weißt du.«

      »Das habe ich anders verstanden.«

      »Die Entscheidung wurde oben gefällt. Ich hatte keine Wahl«, sagte er und klang wie ein geprügelter Hund.

      Ich hatte mir schon gedacht, dass Tims Schwiegervater, der Polizeidirektor, dahintersteckte. In dessen Augen trug ich die Schuld daran, dass seine Tochter sich mit dreißig Jahren bereits Witwe nennen musste und seine Enkelkinder ohne Vater aufwachsen würden.

      »Tim ist trotz meiner Aufforderung zum Rückzug weitergelaufen«, wiederholte ich, was ich vor der Jury bereits hundertmal gesagt hatte. »Das könnt ihr doch nicht einfach ignorieren!«

      »Ich weiß, Piet. Aber das interessiert da oben niemanden. Es ist jetzt so. Akzeptier es einfach.«

      Ein toller Ratschlag. Das könnte zu deinem neuen Lebensmotto werden: einfach alles akzeptieren.

      »In Raaffburg wartet ein toller Fall auf dich«, sagte Ron, der noch nie ein Talent dafür gehabt hatte, Menschen zu motivieren.

      »Meinst du das im Ernst?«

      Ron atmete laut und angestrengt in den Hörer, brachte aber keine überzeugende Erklärung zustande. Für ihn war alles gesagt, das hatte ich verstanden. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte ich mich bereits vor dem Gespräch mit Ron für Raaffburg entschieden. Einzig die Art, wie man mich behandelte, ging mir gegen den Strich.

      »Da wäre noch eine Sache.«

      Überrascht dich Ron doch noch und sagt, dass das alles nur ein blöder Witz ist?

      »Dein Auto … es gehört der föderalen Polizei.«

      »Mein Auto? Ich habe mir den Arsch aufgerissen im Kampf gegen diese Wüstenfüchse.« Ich war geschockt von der kalten Sachlichkeit, die mein Chef mir entgegenbrachte.

      »Es tut mir leid, Piet.«

      Du kannst mich mal!

      »Du kannst den Wagen bei mir zu Hause abholen«, sagte ich und legte auf.

      Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich begann wieder zu schwitzen. Dann realisierte ich, wo ich mich befand. Ich stand inmitten unseres Schlafzimmers. Also in Elises und meinem. Unserem ehemaligen. Ich war derart ins Gespräch versunken gewesen, dass die Gewohnheit mich hierhergetrieben hatte. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, während ich wieder aus dem Zimmer trat.

      Doch dann stockte ich. Etwas war ungewöhnlich gewesen in dem Zimmer. Ich drückte die Tür wieder auf und ging zu meinem Nachttisch. Was ich sah, ließ mein Herz noch schneller pochen und meine Knie zittern. Die Schublade des Tischchens war geöffnet. Und darin lag eine rote Packung Kondome.

      Was zum Teufel …?

      Ich spürte, wie Adrenalin in meine Adern stieg.

      Und