darauf. Das Gewässer weitete sich in eine Art Wassergraben, der eine große Burg umschloss. Es war die Burg, die der Kleinstadt ihren Namen gegeben hatte. Doch was einst repräsentativer Sitz limburgischer Landesfürsten gewesen war, präsentierte sich heute nur mehr als dachlose Ruine, die einsam und verlassen dahinbröckelte.
Inzwischen trocknete der Zigarettenqualm zunehmend meinen Mund aus. Mein Magen begann zu knurren, ich fühlte mich matt. Meinen Arm zu heben, um mich am Ohr zu kratzen, strengte mich bereits an. Ich war kurz davor, mich zu übergeben.
»Lassen Sie mich bitte da vorne raus«, sagte ich mit geschlossenen Augen.
»Hier?«, ertönte die hohe Stimme von Bender. »Sind Sie sicher? Zum Präsidium sind es noch drei Kilometer.«
Der junge Mann schaltete vom fünften in den zweiten Gang, sodass der Motor laut aufheulte.
»Ja, bitte. Ich habe heute noch keinen Sport gemacht, ich geh den Rest zu Fuß«, sagte ich, während ich gezwungen in den Rückspiegel lächelte, durch den mich Bender mit großen Augen ansah.
Keine zwei Sekunden später hielt Bender, ohne den Blinker zu setzen, ruckartig rechts neben der Schnellstraße. Ein aggressives Hupkonzert zog an uns vorbei.
»Herr Vanderhagen, Sie müssen aussteigen.«
Bender blinzelte schüchtern zu seinem Nebenmann hinüber.
Der Rotschopf hingegen schaute dem blassen Jungen überlegen in die Augen. »Muss ich das?«, fragte er und zwang Bender, den Blick abzuwenden. Dann stieg Vanderhagen, so musste er wohl heißen, doch noch aus.
Ich stolperte über den Gurt hinweg nach draußen und atmete den Staub ein, den Bender mit seiner Vollbremsung aufgewühlt hatte. Vanderhagen stieg gleich wieder ein. Ich schaffte es zu warten, bis der Clio außer Sichtweite war. Dann übergab ich mich hinter einem Werbeschild.
Zum Glück hast du nichts gefrühstückt.
Als ich fertig war, verharrte ich einige Minuten in der Hocke. Ich spürte Schweißtropfen meinen Rücken hinabrinnen und zitterte am ganzen Körper, meine Zähne klapperten. Dann blickte ich mich um.
Und las, was auf dem Schild stand.
»Willkommen in Raaffburg!«
4
»Du schreibst mir, wenn ihr da seid, ja?«, fragte Ella, während sie die Zentralverriegelung deaktivierte.
»Ja, Mama. Zum dritten Mal: Ich schreibe dir!«, versprach Pierre, wirkte jedoch genervt.
Sehnsüchtig blickte er durch die Fensterscheibe zu den wartenden Jungs. Wie ungeduldig er war. Und wie verletzend.
Mit seinen blauen Augen, die beinahe unnatürlich funkelten, schaute er sie an, als würde er sie um Erlaubnis bitten. Pierres schwarze Haare, die er vorne nach oben gestylt hatte, hoben seinen schönen Teint hervor.
»Wenn irgendwas ist, melde dich. Und wenn es noch so dämlich sein mag«, sagte Ella und hielt dabei Pierres linke Hand fest.
»Wir werden schon Spaß haben«, versuchte er, sie zu beruhigen, während er auf das Handschuhfach starrte. Dann zog er seine Hand weg. »Ich geh jetzt, Mama.«
Als das blecherne Knallen der Tür ertönte, spürte Ella wieder diesen Würgegriff um den Hals. Ein Knoten, der sich nach oben drückte und immer weiter anschwoll. Er zog ihr gesamtes Gesicht nach unten. Sie mochte es nicht, wenn Pierre nicht bei ihr war. Sie fürchtete, dass ihm das Gleiche zustoßen könnte wie ihrem Bruder Gregory.
Damals.
Es ist nur ein Pfadfinderausflug. Dein Junge wird Spaß haben und in zehn Stunden wieder bei dir sein!
Sie sah ihm nach. Wie er mit seinen Freunden einschlug, als wären sie Mitglieder einer Gang in der Bronx. Wie cool er die aufgeregten Mädchen mit einem Kuss auf die Wange begrüßte und diese sich mit ihren roten Bäckchen beschämt beäugten. Wie mutig er war. Ganz anders als sie.
Charakterlich glich er viel mehr seiner Großmutter. Mama. Die starke Frau, die stets voranging, andere ermutigte und jeden Widerstand kleinzumachen wusste. Schade, dass die beiden sich nie kennengelernt hatten.
Beim Blick auf die Uhr fiel ihr auf, dass sie spät dran war.
Um zehn hatte Frau Irrlander, ihre Chefin, ein Meeting mit einem Großkunden anberaumt. Vorher musste sie noch Kopien machen. Und den Kaffee musste sie auch noch aufsetzen.
Erst kürzlich hatte sie ein Gespräch mit Frau Irrlander geführt. Die Chefin hatte zu verstehen gegeben, dass Ella sich mehr auf ihren Job konzentrieren müsse – ansonsten würden Konsequenzen drohen. Was auch immer damit gemeint war, sie hatte nicht vor, es herauszufinden. Drei Jobwechsel in zwei Jahren reichten. Da brauchte es keinen vierten.
Also drückte sie aufs Gas, nahm dem Lkw in der Spitalstraße die Vorfahrt und bretterte mit achtzig durch die Fünfzigerzone.
Was machst du nur? Am Ende gehst du drauf für die Arbeit, die du mehr hasst als dein Leben.
Es war neun Uhr siebenundfünfzig, als Ella mit ihrem Fiat Punto den Parkplatz der Heine Fahrstuhl AG anfuhr. Sie war zu spät. Aber nur ein paar Minuten. Wenn der Kunde auch ein wenig Verspätung hatte, würde es gar nicht auffallen. Sie wollte gerade aussteigen, als ihr Handy klingelte.
Mist, die Chefin!
Aber die Nummer auf dem Display war ihr nicht bekannt. Trotzdem hob sie ab.
»Frau Weeber?«, meldete sich ein Mann mit ruhiger, tiefer Stimme.
»Ja. Und wer sind Sie?«, fragte Ella, während sie mit zwei Fingern auf dem Lenkrad trommelte.
»Lechat, Polizei –«
»Ist was mit meinem Sohn?«, unterbrach Ella den Mann, dessen Namen sie schon einmal gehört zu haben glaubte.
»Ihr Sohn?«, fragte Lechat und schwieg einige Sekunden. Schließlich antwortete er mit einem knappen »Nein«.
Erleichtert atmete Ella aus.
»Es geht um die Geschehnisse von damals. Genauer gesagt um Felix Riegen.«
Ella dachte, dass Lechat wieder nur eine Pause beim Sprechen machte, doch es schien zunächst alles gewesen zu sein, was er sagen wollte.
»Ich verstehe nicht ganz. Was wollen Sie von mir?«
Mittlerweile war es neun Uhr neunundfünfzig. Sie kam definitiv zu spät ins Meeting.
Nicht schon wieder!
»Es gibt eine neue Spur in dem Fall. Ihr Bruder hat wahrscheinlich etwas damit zu tun. Hätten Sie Zeit, nach Raaffburg zu kommen?«
Für einen kurzen Moment herrschte komplette Stille. Ella sah, wie die digitale Uhr auf 10:01 umsprang. Sie war den Tränen nah. Dieses Telefonat konnte sie ihren Job kosten.
»Ehrlich gesagt, Herr Lechat, habe ich wenig Zeit, und ich weiß auch nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, antwortete sie ruhig und bedacht, was sie selbst überraschte.
»Frau Weeber«, sagte der Polizist, bevor er sich kurz räusperte. »Sie sind die einzige Überlebende der Familie. Und wir rechnen fest mit Ihrem Erscheinen.«
Es stimmte nicht ganz, was der Polizist sagte. Denn ihr Vater war zwar weit weg, in Las Vegas, und sie hatten keinen Kontakt mehr seit achtzehn Jahren, aber er lebte noch. Doch Ella ging etwas ganz anderes durch den Kopf. Wenn sie tatsächlich nach Raaffburg fahren musste, musste sie dann nicht dem Menschen Bescheid geben, den sie liebte? Wenn sie allerdings abends schon wieder zu Hause sein würde, könnte sie es vielleicht riskieren, ohne Benachrichtigung zu fahren.
»Es geht nur um ein paar Fragen, die Sie beantworten müssten. Aber Sie sollten sich dennoch für ein paar Tage hier einrichten, im Laufe der Ermittlungen könnten sich noch mehr Fragen ergeben. Lassen Sie sich beurlauben, wir geben Ihnen eine Bestätigung für Ihren Arbeitgeber«, ergänzte der Polizist.
Ein paar Tage? Und was machst du mit Pierre?
»Ich