Es war erst acht Uhr morgens, und die anderen Leute, die normalen Leute, wie Tess sie bei sich nannte, saßen noch am Frühstückstisch oder traten im Bademantel vor die Tür, um den Beacon reinzuholen. So eine Existenz hatte sie sich früher auch für sich vorgestellt, und zwar tatsächlich bis in diese prosaischen Einzelheiten. Ein Gatte, ein Baby, ein Esszimmertisch. Manchmal legten ihre Tante und deren jeweiliger Liebhaber ein Gedeck für sie am Frühstückstisch mit auf, aber dieser Versuch, es ihr häuslich zu machen, verstärkte nur Tess’ Gefühl von Fremdheit. Es kam ihr seltsam vor, sich zusammen mit ihrer Tante und ihrem »Mann des Monats«, beide gewöhnlich im Bademantel und noch etwas gerötet, zu heiterem Geplauder und Blaubeermarmelade hinzusetzen.
Die Shakespeare Street mündete in die Bond Street, in der Tess wohnte. Sie hielt an und blickte auf das Haus, das sie Zuhause nannte, ein klobiges Lagerhaus aus granatroten Ziegeln, die Türen und Fenster weiß umrandet und alles von der liebevollen Fürsorge ihrer Tante bestens instand gehalten. Die Fenster glänzten im Morgenlicht, und die Bücher im Inneren – in feinen Nuancen von Rot, Grün und Elfenbein – leuchteten wie Edelsteine in einer Schatulle. Über der Tür strahlten die scharlachroten Buchstaben so stark, dass sie förmlich aus der Wand sprangen: FRAUEN UND KINDER ZUERST. Und in kleinerer Schrift darunter, für den einen oder anderen Ungebildeten, der etwa dachte, es sei ein Geschäft für Rettungsboote: DIE GANZ BESONDERE BUCHHANDLUNG.
Nicht jeder hätte viel Umsatz von einem Laden erwartet, der nur Frauenliteratur und Kinderbücher verkaufte. Aber Tess’ Tante, Katherine »Kitty« Monaghan, war eben nicht wie jeder. Sie war überhaupt nicht wie irgendjemand anders. Nach fast zwanzig Jahren als Bibliothekarin in städtischen Schulen war sie in Frührente gegangen, nachdem sich eine Mutter beschwert hatte, dass Märchen gottlos seien und den Glauben an Satan und den Okkultismus förderten.
Das war jedenfalls die offizielle Version. Die ausführlichere Version umfasste den Super Fresh Markt, einen Kohlkopf und eine Gelbe Rübe. Kitty war entlassen worden, nachdem sie eine Mutter verziert hatte, die sie in der Gemüseabteilung angesprochen und sich über »Hans und die Bohnenranke« beschwert hatte. Dieses Märchen fördere unsoziales Verhalten, hatte sich die Mutter beschwert. Es glorifiziere das Räubertum. Kitty verpasste ihr ein blaues Auge. Die Stadtverwaltung entließ sie. Es gab offenbar Vorbehalte dagegen, Eltern anzugreifen. Kitty strengte eine Klage wegen unrechtmäßiger Entlassung an und verwies darauf, dass die Frau sie im Super Fresh angepöbelt habe, wo sie eindeutig als Privatperson unterwegs gewesen sei, und ihr einen Kohlkopf an den Kopf geworfen habe, als Kitty ihr nicht zustimmte. Das war der Punkt, der Kitty so wütend gemacht hatte – nicht, dass sie einen Kohlkopf an den Kopf bekommen hatte, sondern dass jemand es wagte, sie ausgerechnet dann auf die Schule anzusprechen, wenn sie sich in der Gemüseabteilung aufhielt, an einem Ort also, den sie auch unter den günstigsten Umständen schon ziemlich anstrengend fand. Sie warf eine Gelbe Rübe zurück, und sie zielte besser.
»Es war schlicht und einfach Selbstverteidigung«, sagte sie gerne über den Vorfall. Zum Glück stimmte der gewerkschaftliche Schlichter dem zu. Die Schulverwaltung von Baltimore willigte ein, eine beträchtliche Summe zu zahlen, und daraufhin kaufte Tante Kitty diesen alten Drugstore von der Familie von Tess’ Mutter, den Weinsteins, nachdem diese den Bankrott erklärt hatten.
Sie verwandelte das dreistöckige Gebäude in einen Laden und eine Wohnung, mit einer zusätzlichen Einliegerwohnung im obersten Geschoss, um ein paar weitere Einnahmen zu haben. Mehr aus Faulheit denn aus innenarchitektonischen Bedürfnissen behielt sie die alte Theke, die die vordere Abteilung, nämlich die für Kinderbücher, von der dahinter liegenden trennte – der für feministische Traktate, Erotika, alles, was von Frauen und manchmal auch über Frauen geschrieben worden war. So konnte man beispielsweise auch Bücher von Philip Roth und John Updike in FRAUEN UND KINDER ZUERST kaufen.
FUKZ war ein gemütlicher Laden, mit Lehnstühlen, zwei funktionierenden Kaminen, abgetretenen Teppichen und der alten Zimmerdecke aus Zinn. Man kam, um zu kaufen, blieb, um ein bisschen zu schmökern, und ging schließlich, mit mehr Büchern als geplant. Der Profit war zwar bescheiden, aber doch weitaus höher, als Kitty sich je hätte träumen lassen. Vom Kapitalismus hingerissen, sprach sie ständig vom Expandieren. Vielleicht würde sie an der alten Theke auch noch Espresso anbieten, oder Fünfuhrtee. Oder das nebenstehende Gebäude kaufen und eine Pension einrichten. Oder vielleicht eine Buchhandlung nur für Männer? Als Neuling im Rennen hatte ihr das Anfängerglück gefährlich den Kopf verdreht. Tess hätte sich nicht gewundert, wenn sie ihr ganzes Geld genauso schnell wieder verlieren würde, wie sie es gewonnen hatte.
»TOTE WEISSE MÄNNER, wie findest du das als Namen, Tesser?«, fragte Kitty, als Tess zur Tür hereinkam. Kitty saß auf der alten Theke, in einem Seidenkimono mit Kirschblüten, und nippte an einer Tasse Kaffee. »Was wir da verkaufen könnten – also, ich glaube, da könnten wir einfach alles verkaufen, die ganzen Klassiker. Das wäre eben genau der Witz daran. Es wäre eine ganz normale Buchhandlung, aber die Leute würden glauben, es sei etwas Besonderes. Und mit den beiden Läden hätte ich dann praktisch alles abgedeckt. Schließlich stirbt ja jeder irgendwann einmal. Sogar Norman Mailer.«
»Find ich gut«, sagte Tess. »Andererseits, wenn man bedenkt, dass die hiesige Bevölkerung gegen Ironie völlig immun ist, sehe ich schon vor mir, wie eine Männergruppe und die NAACP draußen vor dem Laden Mahnwachen aufstellen und den Eingang blockieren, weil sie der Ansicht sind, dass du den Geschlechtermord verherrlichst und Farbige diskriminierst. Und diese ›Mütter gegen Gewalt‹ – du weißt schon, die MÜGG – würden es als etwas pro Gewalt auffassen.«
»MÜGG! Die gibt es doch gar nicht, nicht einmal hier in Baltimore.«
»Liest du denn keine Zeitung? Sie haben einen ständigen Blockadeposten vor dem Multiplex in Towson aufgestellt. Das ist sehr praktisch fürs Einkaufen. Sie marschieren eine Stunde lang auf und ab, dann machen sie eine Pause und gehen im Nordstrom shoppen.«
Kitty lachte, ein überraschend lautes, wunderbares Lachen. Die meisten Monaghans waren etwas mürrisch, auch Tess, und deshalb wirkte Kitty ein bisschen wie ein Wechselbalg. Sie war der glücklichste Mensch, den Tess kannte, mit einer schier unbegrenzten Begeisterungsfähigkeit. Sie wollte nur, dass das Leben greifbar sei, voller Dinge, die man anfassen und festhalten, riechen und schmecken konnte. Weiche Stoffe, neue Bücher, vollmundige Weine, gut geschneiderte Kleider, ausgeprägte Waden. Sie war zwölf Jahre älter als Tess und über zwanzig Zentimeter kleiner, mit flammend roten Locken und den einzigen grünen Augen innerhalb von drei Generationen. Ihr letzter Beau war einer der neuen städtischen »Polizisten zu Rad«, der in den Laden gelockt worden war, nachdem Kitty seine Beine hatte vorüberfliegen sehen. Thaddeus Freudenberg. Er war vierundzwanzig, so groß und knuddelig wie ein Labrador und mit einem nur geringfügig niedrigeren IQ als ein solcher. Tess nahm an, dass er deshalb bei der Fahrradstreife war, weil er die Führerscheinprüfung nicht geschafft hatte.
Thaddeus war an diesem Morgen nirgends zu sehen. Tess lehnte sich gegen die Theke. »Ich habe ein interessantes Angebot bekommen«, fing sie an und unterrichtete Kitty über Rocks Vorschlag. Sie dachte, ihre Tante würde beeindruckt sein, vor allem, da Tess oft kaum die Miete bezahlen konnte.
Aber Kitty hatte ihre Zweifel. »Das klingt, als müsstest du dich für Lohn in anderer Leute Privatsachen einmischen. Hast du denn keine moralischen Bedenken?«
»Moral kann ich mir nicht leisten. Der Sommer war lahm, und ich brauche dringend ein bisschen Bargeld.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Sie sah Tess von oben herab an, was ihr nur deshalb gelang, weil sie oben auf der alten Theke saß und Tess daran lehnte. »Aber du magst diese Frau doch eigentlich nicht. Wie kannst du da objektiv sein? Wenn du etwas siehst, worüber du dir unklar bist, könntest du falsche Schlüsse ziehen, nur weil du sie ertappen willst. Und das merkst du dann wahrscheinlich nicht einmal.«
»Zum Beispiel?«
»Na ja, zum Beispiel siehst du sie jemanden auf der Straße küssen, und du denkst natürlich, das ist ihr Liebhaber. Es könnte aber auch ihr Bruder sein, oder einfach ein Freund.«
»Ich glaube, den Unterschied zwischen einem Liebhaber und einem Bruder kann ich schon noch erkennen.«
»Ich weiß nicht, Tesser.