Laura Lippman

Der Geliebte der Verlobten


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      Zum Glück ging Ava die Pratt Street ganz langsam hinunter. Die Fahrbahn war zwar verstopft, aber zu Fuß ging um diese frühe Stunde noch kaum jemand. Tess blieb kurz stehen, dann ging auch sie die Pratt Street entlang und versuchte, ihren Schritt der gemächlicheren Gangart von Ava anzupassen. Da ihr Haar von einer schnellen Dusche im Ruderklub noch etwas feucht war, kam sie sich auf dem fast leeren Gehsteig äußerst auffällig vor.

      Ava war nicht der Typ, der zum figurbetonten kleinen Kostüm Sportschuhe und weiße Söckchen getragen hätte. Sie schlenderte in Wildlederpumps dahin, mit etwa acht Zentimeter hohen Absätzen und Riemchen um die Knöchel, wobei sie geradeaus vor sich hin schaute, ohne auf den klaren Morgen oder den atemberaubenden Blick auf den Hafen zur Linken oder den dunklen Schatten der USS Konstellation zu achten. Tess hätte ihr auf einem Dreirad folgen und dabei mit einem Fahrradglöckchen bimmeln können, und Ava hätte es nicht bemerkt. Das Einzige, was sie sah, waren teure Autos und gut angezogene Männer. Wenn beides zusammentraf, drehte sie sogar den Kopf und gestattete Tess einen Blick auf ein wohlbekanntes Profil. Die Hälfte der Frauen in Baltimore hatte genau dieses Profil, dank eines bestimmten Schönheitschirurgen.

      Trotz ihrer vollkommenen Nase sah Ava für Tess nicht wie eine echte Rechtsanwältin aus, sondern eher wie das Bild, das ein Modemagazin von einer Anwältin hatte – was ein großer Unterschied war. Ihr glänzendes schwarzes Haar trug sie gelockt und offen, ohne Haarband oder etwa Schildpattspangen. Ihr perlgrauer Rock war kurz und saß gut, ihre karminrote Bluse war aus Seide und kurz geschnitten. Die Pumps, die farblich zur Bluse passten, hätten sich vier Straßen weiter nördlich bestimmt wie zu Hause gefühlt, auf diesem Straßenabschnitt voller Nacktbars und Pornoläden, der als »der Block« bekannt war. Und Avas Aktentasche aus glänzendem schwarzen Leder, das weicher aussah als Tess’ Kopfkissen, schwang ihr viel zu locker in der Hand, als dass mehr darin hätte sein können als Wimperntusche und Lippenstift.

      Sehr verdächtig, sagte sich Tess. Als junge Mitarbeiterin bei O’Neal, O’Connor und O’Neill müsste Ava doch mit Arbeit überladen sein, und zwar mit Arbeit, die wenig Ruhm, dafür aber viel Papierkrieg mit sich brachte. Aber wozu auch Ruhm, wenn man mit 80000 Dollar pro Jahr anfing? Jeder wäre froh um so ’ne Arbeit, summte Tess, als Ava im Lambrecht Building verschwand, dem verspiegelten Wolkenkratzer, der der Sitz des Tri Os war. Die verspiegelte Außenhaut ließ ihr Eintreten ins Gebäude wie einen Zaubertrick erscheinen: Jetzt sah man sie noch, dann nicht mehr. Tess wartete ein paar Sekunden und ging dann um das Gebäude herum, wobei sie den Hintereingang entdeckte, der auf eine kleine Seitenstraße führte. Außerdem gab es noch ein kleines Café mit einem separaten Eingang. Sie fand keinen Punkt, von dem aus sie alle Eingänge klar im Blick behalten konnte. Und wenn Ava das Gebäude mit jemandem im Auto über die Tiefgarage auf der Ostseite verließ, würde Tess überhaupt nichts davon mitkriegen.

      Wie ließ sich das ändern? Tess hatte noch nie jemanden beschattet. So eine Reporterin war sie nicht gewesen. Da sie über ganz verschiedene Themen schrieb, war eher sie diejenige gewesen, die von den Leuten verfolgt wurde, so gierig waren die immer auf Publicity. Sie hatte über Straßenprediger geschrieben, über frühreife Jugendliche, die ihren Uniabschluss viel früher machten als üblich, sogar über Lyndon B. Johnsons Facharzt für Fußkrankheiten, der sich jetzt in Arbutus zur Ruhe gesetzt hatte. (»Füße, die viel leisten müssen, die aber zarter aussehen, als man denken sollte«, hatte der Arzt zu ihr gesagt.)

      Sie kehrte zurück zur Vorderseite und suchte sich eine Bank, von der aus sie einen ungehinderten Blick auf den Vordereingang und die Kreuzung zwischen Pratt und Howard Street hatte. Eine Obdachlose beäugte sie misstrauisch.

      »Kennen Sie die Kraft des Geistes?«, wurde Tess von der zahnlosen Frau gefragt.

      »Ja«, antwortete Tess, zog ein abgewetztes Exemplar von Love’s Lonely Counterfeit aus ihrem ramponierten Rucksack hervor und kramte nach ihrem Walkman.

      Die Frau rutschte ein Stückchen näher. Die Temperatur betrug bereits über 25° C, und obwohl sich der Morgennebel nur langsam auflöste, sah Tess voraus, dass es wieder ein schwüler Tag werden würde. Trotzdem trug die Frau eine graue Strickjacke über einem karierten Baumwollkleid, dicke Wollsocken und schwere Wanderschuhe. Sie roch nach Zigaretten, Schweiß und billigem Fusel. Doch dahinter nahm Tess ganz vage noch einen anderen, vertrauten Geruch wahr. Das Parfum Lily of the Valley. Ihre Großmutter, Momma Weinstein, benutzte es.

      »Mache ich Ihnen Angst?«, fragte die alte Frau hoffnungsvoll.

      »Nein. Nein, überhaupt nicht.«

      »Haben Sie dann vielleicht ein wenig Kleingeld?« Tess griff in ihre Hosentasche und reichte ihr eine verschrumpelte Dollarnote. Sie hatte wenig Mitgefühl für Bettler und gar keins für ihre Großmutter, die bei ihren nächsten Verwandten als alte Vettel galt. Aber für einen Dollar konnte sie sich vielleicht einen ruhigen Vormittag erkaufen. Die Frau versenkte den Geldschein in den üppigen Falten ihres Kleides und schaukelte sich glücklich vor und zurück, wobei sie leise sang. Tess seufzte und schaltete ihren Walkman an. Ella Fitzgerald, Das Johnny Mercer Songbook.

      So saßen sie und ihre neue Freundin vier Stunden lang nebeneinander auf der Bank, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Johnny Mercer wurde von Jerome Kern abgelöst. »All the things you are«, »You couldn’t be cuter« »I’ll be hard to handle«. Ein Lied, das auf Ava passte. Tess hatte ihr Buch ausgelesen und fing wieder von vorne an. Für Beschattungen offensichtlich ein zu kurzes Buch.

      Sie wollte das Buch gerade zum dritten Mal anfangen, als kurz nach zwölf Ava wiederauftauchte. Sie ging mit frischen Schritten nach Osten, die Aktenmappe in der Hand, jeder Zoll die wichtige Rechtsanwältin auf ihrem Weg zu einer wichtigen Verhandlung. Eine Rechtsanwältin, dachte Tess, die Selbstvertrauen besaß, weil sie heute Morgen das richtige Deodorant benutzt hatte. Ich boshaftes Ding, schalt sie sich selbst. Ich bin doch nur neidisch, weil ihr Kostüm mehr gekostet hat, als ich in einer Woche verdiene. Außerdem saß es auch noch perfekt, wie Tess bemerkte. Tess fand sich selbst schon gut angezogen, wenn ihre Hose nicht rutschte und ihre Bluse nicht aus dem Gürtel hing.

      Aber heute hatte sich Tess natürlich so gekleidet, dass sie unsichtbar war. Jeans, ein weißes, weites T-Shirt, Turnschuhe. Sie machte sich keine Sorgen, dass Ava ihr Gesicht wiedererkennen würde, aber ihren Zopf hatte sie trotzdem unter einer schwarzen Perücke versteckt, einer Schöpfung der Geschwister Gabor. Die Perücke gehörte Kitty, die sie an einem erinnerungswürdigen Halloween-Abend getragen hatte, als sie eine vierzigjährige Kleopatra an der Seite eines einundzwanzigjährigen Julius Cäsar spielte, ein Anachronismus, von dem Shakespeare ihrer Meinung nach begeistert gewesen wäre. Tess gefielen diese rabenschwarzen Haarflechten, aber sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich so unauffällig aussah, wie sie es beabsichtigte. Sie hatte das Gefühl, dass die miserablen schwarzen Strähnen sie eher wie eine Möchtegern-Rastafari aussehen ließen, oder wie Crow mit seinen grünen und schwarzen Dreadlocks.

      Sie hätte angenommen, dass Ava zunächst nach Osten gehen, dann aber in nördliche Richtung abbiegen würde, in die St. Paul Street zum Gerichtsgebäude. Doch Ava ging geradeaus weiter und so zielstrebig wie eine heimkehrende Brieftaube auf die Galerie zu. Die Galerie war ein vierstöckiges Einkaufszentrum, im obersten Stock lag das Renaissance Harborplace Hotel und in den übrigen Stockwerken waren genau die Läden, die man in solchen Einkaufszentren in sämtlichen Städten Amerikas findet. Tess hätte eigentlich gedacht, dass das ein wenig zu gewöhnlich für Ava wäre, doch Ava gurrte geradezu vor Vergnügen, als sie durch die Glastüren ging, und breitete die Arme aus, als wolle sie all die möglichen Einkäufe umarmen, die ihrer harrten.

      Tess, die unter ihrer Perücke höllisch schwitzte, schob und quetschte sich durch das überfüllte Einkaufszentrum und versuchte, den richtigen Abstand zwischen sich und Ava zu bewahren. Glücklicherweise hatte Ava nur Augen für die Schaufenster. Sie blieb stehen, um ihr perfektes Spiegelbild zu überprüfen, und ging dann wieder weiter, wobei sie hie und da auf die Uhr sah. Ihrem Einkaufsbummel schien ein Plan zugrunde zu liegen, eine Art Tagesordnung, die Tess jedoch nicht durchschaute.

      Amaryllis, ein kleiner Juwelierladen, lockte Ava nach drinnen. Tess sah von außen zu, wie Ava eine Angestellte bat, ihr ein seltsames, auffälliges Halsband zu zeigen, eine Silberkette voller Amulette und Medaillons. An den meisten Menschen hätte