Klaus Stickelbroeck

Fesseltrick


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schwankte er, die Colaflasche fest umklammert, ins angrenzende Badezimmer.

      »Puh«, konnte Hartmann erleichtert aufatmen, denn erstens war das Bad menschenleer und zweitens in einem passablen Zustand.

      Lediglich ein schrumpelig zerdötschter Zigarettenstummel, der auf der weißen Keramikanrichte unterm Spiegel ausgedrückt worden war, wirkte ein wenig deplatziert. Offensichtlich hatten es Angie und seine beiden trinkfreudigen Begleiter eher selten bis ins Bad geschafft. Was in Anbetracht der großen Menge Flüssigkeit, die nebenan genossen worden war, neue, verstörende Fragen aufwarf.

      Hartmann fuhr herum.

      »Was machst du denn schon hier?«

      Das war Angie! Sein Kumpel war … nach Hause gekommen und stand jenseits des Getränketischs. Angie grinste umständlich am Kippenigel vorbei, wrang ungelenk seine Hände und schien im Gesicht noch ein bisschen blasser zu sein als sonst. Seine langen, dünnen, dunklen Haare glänzten fettig. Er trug seine schwarze, an den Seiten geschnürte Lederhose und ein dunkelblaues T-Shirt mit der gelben Aufschrift *Original Prankster.

      »Ich wohne hier«, erklärte Hartmann.

      An seinen Worten mochten Eiszapfen gehangen haben.

      »Äh … Du hier? Jetzt. Schon. Ich hab dich noch gar nicht …«, haspelte Angie. »Ich hatte Besuch.«

      »Ach was?«

      »Gestern.«

      »Eine Hundertschaft?«, fragte Hartmann.

      »Zwei Bekannte. Kennste nich. Regenrinnen-Rita ist auch auf ein paar Kurze reingeschneit. Deine Nachbarin Heidi von oben hat zwei Jägermeister genommen.«

      »Heidi?«

      »Japp. Ganz am Anfang«, nickte Angie. »War nett.«

      »Nett?«, echote Hartmann ungläubig.

      Er fragte sich, wie seine über achtzigjährige Nachbarin aus der vierten Etage sich in diese gemeine Trinkrunde hatte verirren können. Andererseits hatte die rüstige Rentnerin mehrere Weltkriege überlebt und in der jüngeren Vergangenheit schon oft bewiesen, dass ihr im Grunde alles zuzutrauen war.

      »Ist ein wenig ausgeartet, das gemütliche Beisammensein. Ich hab noch nicht mit dir gerechnet und hätte alles fein saubergemacht«, versicherte Angie.

      Hartmann deutete auf den Fleck an der Tapete. »Und neu gestrichen?«

      »Da würde sich ein poppiges Poster oder ein hübsches Bild gut machen«, schlug Angie alternativ vor.

      Hartmann schnaufte. »Ich weiß, was sich jetzt ganz gut machen würde. Noch was Blaues. Auf deinem rechten Auge.«

      »Tief durchatmen, Kumpel, tief durchatmen«, mahnte Angie.

      »Was ist mit dem Sofa passiert?«

      Angie nickte mit Kennerblick. »Ehrlich, mein Freund. Eine orangefarbene Couch? Orangefarben? Orange ist so was von out! Eigentlich ist das jetzt die günstige Gelegenheit, über einen neuen, fetzigen Stoffbezug nachzudenken.«

      Hartmann schnappte nach Luft, und der Gedanke an ein weiteres blaues Auge in Angies Gesicht gewann tsunamiartig an Sympathie.

      Angie hob stattdessen plötzlich seine Arme, riss die Augen auf und wurde noch einen Tick blasser. »Äh …«

      »Was is?«, bemerkte Hartmann den ungewohnt besorgten Blick.

      »Hast du, äh, aus … dieser … Flasche Cola getrunken?«

      »Ja. Wieso?«

      »Oh-oh.«

      »Was Oh-oh?«, fragte Hartmann.

      Angie blinzelte. Und holte tief Luft. »Oh-oh.«

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      Rasch schlüpfte sie vom Innenhof durch den Hintereingang ins Gebäude, in den Flur. Leise schloss sie die schwere, grün gestrichene Tür hinter sich.

      Durchatmen!

      Hier drinnen war es deutlich kühler als draußen. Und dunkel. Nur durch ein kleines Ausstellfenster schimmerte die Sonne bleichgrau in den kleinen, ansonsten unbeleuchteten Raum.

      Kein Licht, hatte er in seiner letzten Nachricht geschrieben.

      Kein Licht …

      Sie entdeckte wenige Schritte weiter die schmale, abgegriffene Holztür, die hinab in den Keller führen würde. Auf was hatte sie sich nur eingelassen?

      Sie hielt einen Moment inne, versuchte sich zu konzentrieren und drückte entschlossen die Klinke. Mit einem hohen Knirschen ließ sich die alte Kellertür aufziehen.

      Sieh aus, wie ich es mag, hatte er ihr befohlen.

      Sie hatte ihre sonst sperrigen, blonden Haare glatt und an den Enden streng nach innen geföhnt, was ihr Gesicht unschuldig und brav wirken ließ. Unter dem leichten, hellblauen Sommermantel trug sie ihren scharfen, schwarzen Spitzenbody und die sich an ihre Beine schmiegenden, halterlosen Strümpfe. Leichte, dünne Riemchensandalen, dazu um ihren Hals an einer braunen Lederschnur das große, metallene, rustikale Kruzifix. Exakt das Outfit, das er auf den Fotos im Chat so liebte, das ihn in kurzen, heißen Textnachrichten stöhnen ließ.

      Aber ja, natürlich, sie wollte ihm gefallen.

      Abgestandene Luft schlug ihr aus dem Keller entgegen, normalerweise geeignet, alle Erotik im fiesfauligen Keim zu ersticken. Aber heute? Und jetzt? Heute und jetzt störte sie der Geruch nach Dreck, Staub und Schmutz kein bisschen. Eine fast nicht zu bändigende Vorfreude ergriff von ihr Besitz. Zu lange hatte sie diesen Moment, diese Begegnung herbeigesehnt.

      Vorsichtig stieg sie die Stufen hinunter. Knapp vor ihren Zehen flüchtete eine riesige, schwarze Spinne in die sichere Dunkelheit. Die vorletzte Holzstufe knarrte laut warnend.

      Sie spürte den unebenen, kalten Betonboden unter ihren Schritten. Im Keller war es fast stockfinster. Wie von selbst griff ihre linke Hand zum alten Drehschalter. Aber halt, erinnerte sie sich. Kein Licht, hatte er geschrieben. Sie tastete sich vorsichtig voran. Auf was, verdammt, hatte sie sich nur eingelassen?

      Aber es gab kein Zurück. Wieso auch? Sie hatte diesen Tag, diesen Moment lange geplant, ihn herbeigebetet. Endlich. Und dann war alles viel schneller und einfacher gewesen, als sie es zu hoffen gewagt hatte.

      Die Plattform im Internet.

      Der Kontakt.

      Der Chat.

      Das Interesse.

      Du kannst alles mit mir machen, hatte sie ihm noch gestern geschrieben.

      20 Uhr 30, im hinteren Kellerraum, hatte er geantwortet und ihr den Weg vom Parkplatz an der Kirche, in den engen Hinterhof, durch den schmalen, kühlen Flur in den dunklen Keller hinab beschrieben.

      Während sie zaghaft einen Fuß vor den anderen setzte, fragte sie sich, warum er Zugang zu diesem alten Gewölbekeller hatte. Soviel sie wusste, gehörte das Gebäude der Kirchengemeinde, wurde das Erdgeschoss als Kindertagesstätte genutzt. Darüber befanden sich verschiedene soziale Einrichtungen, und lediglich eine der kleinen Wohnungen im Haus war vermietet.

      Wieso dort im Keller? Hätte sie fragen sollen. Hatte sie aber nicht. Stattdessen hatte sie gefragt, ob sie irgendetwas mitbringen sollte. Wein, ihre geilen Nippelklemmen aus Edelstahl? Nein, hatte er geschrieben, ich brauche nur dich.

      Und ich brauche dich, hatte sie gedacht, den Chat beendet und den Laptop zugeklappt.

      Inzwischen stand sie wie verabredet im hinteren Kellerraum. Ein schmales Oberlicht unter der Decke, Staubflocken tanzten. Mitten im Raum stützte ein nachträglich eingesetzter, runder Eisenpfeiler die alte, hölzerne Deckenkonstruktion.

      Sollte sie sich bemerkbar machen? Nach ihm rufen?

      Nur schemenhaft waren im Halbdunkel die wenigen Gegenstände im großen