Kristi Ann Hunter

Entführung ins Glück


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mit dem sie nicht verwandt war. Aber allein schon seinen Namen zu schreiben vermittelte ihr das Gefühl, etwas Unerhörtes zu tun.

      Während sie den Vorfall mit dem Kuchen beschrieb, ohne auf die richtigen Formulierungen oder eine schöne Handschrift zu achten, geschah etwas Unerwartetes: Sie wurde ruhiger. Und sie erkannte, dass ihre Mutter vielleicht – aber nur vielleicht – recht haben könnte.

      Den Kuchen auf Henry zu werfen hatte ihr nicht weitergeholfen.

      Aber vielleicht würde es ihr weiterhelfen, wenn sie dem besten Freund ihres Bruders Briefe schrieb.

      1

      Hertfordshire, England, Herbst 1812

       Lady Miranda Hawthorne würde ihre Schwester an diesem Abend unterstützen und wenn es sie umbrächte. Allerdings fühlte sich ihr Gesicht angesichts des gezwungenen Lächelns schon jetzt ein wenig taub an. Sie massierte sich die Wangen und hoffte, dass es sich dadurch weniger künstlich anfühlen würde.

      Die junge Frau drehte den Messinggriff, riss schwungvoll die Tür auf und trat hinaus in den Korridor. Ihr Gang war tadellos, ihre Haltung perfekt. Sie würde sich durch nichts dazu verleiten lassen, die endlosen Lektionen ihrer Mutter über das für eine Dame angemessene Verhalten über Bord zu werfen.

      Dann lief sie gegen eine Wand.

      Nun ja, es war nicht direkt eine Wand. Wände tauchten schließlich nicht mitten auf dem Flur auf und trugen ein wollenes Jackett.

      „Entschuldigen Sie, Mylady.“

      Wände sprachen auch nicht.

      Miranda blickte an der Wand hinauf, die in Wirklichkeit ein kräftig gebauter Mann war. Sie trat einen Schritt zurück und brachte so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Unbekannten. Ihr Blick wanderte nach oben. Und noch weiter nach oben.

      Die letzten spärlichen Strahlen der Sonne fielen durch ein großes Fenster am Ende des Korridors und warfen schwache goldene Quadrate auf den Boden und auf die breite Brust dieses Mannes.

      Er war kein Mitglied ihrer Familie. Alle ihre Verwandten hatten blonde Haare, selbst diejenigen, deren Verwandtschaftsgrad so weitläufig war, dass sie nicht einmal behaupten würden, mit ihnen verwandt zu sein, wenn Mirandas Bruder kein Herzog wäre. Der schwach beleuchtete Flur verhinderte, dass sie seine Haarfarbe genau erkennen konnte, aber das vor ihr stehende „Hindernis“ hatte sehr dunkle Haare, die in seinem Nacken zu einem kurzen Zopf zurückgebunden waren.

      Mit einem tiefen Atemzug machte sie sich bewusst, welche Stellung sie innehatte. Sie war eine Dame. Sie war die Tochter eines Herzogs und die Schwester eines Herzogs. Irgendwo in ihrem Inneren musste also die aristokratische Arroganz stecken, die so viele ihrer Freundinnen ganz natürlich ausstrahlten. Falls dieser Eindringling schändliche Absichten hatte, waren Worte ihre einzige Verteidigung. Seine langen Arme könnten sie zum Stehenbleiben zwingen, bevor sie auch nur zwei Schritte weit käme.

      Er hatte sich allerdings noch nicht bewegt. Stattdessen stand er wortlos im Korridor, während sie ihn fragend musterte.

      „Verzeihung.“ Miranda hätte am liebsten vor Stolz gejubelt. Ihr kurz angebundener, arroganter Tonfall verriet, dass sie ganz gewiss niemanden um Verzeihung bat. „Wer sind Sie?“

      Sie versuchte, ihm in die Augen zu schauen, aber sein direkter Blick machte sie nervös. Die interessante Geruchskombination aus Seife und einem Hauch Tannenwald störte ihre Konzentration. Deshalb starrte sie auf sein Kinn. Da der Flur in Schatten gehüllt war, würde er nicht sehen können, worauf sie ihren Blick richtete. Hoffte sie zumindest.

      Er hielt ein schwarzes Abendjackett hoch. „Ich bringe Seiner Durchlaucht das Jackett für den Abend. Ich musste es noch einmal bügeln.“

      Miranda kniff die Augen zusammen. „Sie mussten es noch einmal bügeln? Sollte nicht Herbert die Kleidung des Herzogs bügeln? Ich frage Sie noch einmal: Wer sind Sie?“

      „Ich –“

      Hinter ihr wurde eine Tür geöffnet. Beide wandten den Kopf. Ihr Bruder Griffith trat aus seinem Zimmer. „Da sind Sie ja, Marlow.“

      Mirandas Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Beide waren groß, auch wenn Griffith ein wenig größer war. Er war ein blonder Riese mit einer muskulösen Figur und breiten Schultern. Griffiths Auftreten war ebenso eindrucksvoll wie sein Titel. Dieser neue Mann, Marlow, war ein bisschen kleiner und nicht ganz so kräftig – und er hatte natürlich keinen Adelstitel –, aber irgendwie wirkte der Kammerdiener stärker.

      Dieser Gedanke war lächerlich. Griffith war der Herzog von Riverton und im besten Mannesalter.

      Griffith legte den Arm um ihre Schultern und deutete auf die menschliche Wand. „Miranda, das ist mein neuer Kammerdiener.“

      Sie blinzelte überrascht. „Wo ist Herbert?“

      Griffith schüttelte den Kopf, bevor er sich umdrehte, um sich von Marlow in seine Jacke helfen zu lassen. „Liebe Miranda, Herbert ist alt. Er hat sich zur Ruhe gesetzt. Er hat mir 15 Jahre gedient, und vorher hat er mindestens 30 Jahre lang Vater gedient. Hast du erwartet, dass er hier arbeitet, bis er stirbt?“

      Miranda zog beide Brauen hoch und blickte ihn finster an. „Nein, aber ich dachte, du hättest das erwartet. Ich hatte dir schon vor drei Jahren vorgeschlagen, dass du ihm eine Rente zahlen solltest.“

      Sie drehte sich um, um den neuen Kammerdiener zu begrüßen. Als er sich verbeugte und zum Gruß mit dem Kopf nickte, umspielte ein kleines Lächeln seine Mundwinkel. Im Gegensatz zu allen Kammerdienern, denen sie bis jetzt begegnet war, senkte er nicht den Blick.

      Ihr stockte der Atem, als sie in seine auffallend grauen Augen sah. Sie hatte Grau bislang immer für eine ausgesprochen langweilige und leblose Farbe gehalten, aber die Augen dieses Mannes ließen sich eher mit geheimnisvoll und lebendig beschreiben. Sie waren tiefgründig und geheimnisvoll.

      Miranda schüttelte diese verrückten Gedanken ab und nickte höflich. „Es freut mich, Sie kennenzulernen, Marlow. Ich hoffe, die Arbeit hier gefällt Ihnen.“

      „Danke, Mylady.“ Der Kammerdiener verbeugte sich. Dann rückte er Griffiths Krawatte zurecht. Mit einem leichten Nicken trat er zur Seite.

      Griffith bot ihr seinen Arm an und sie schritten durch den Korridor.

      „Wann hast du ihn eingestellt?“, flüsterte Miranda, als sie die Treppe erreichten. Sie warf rasch einen Blick hinter sich und sah, dass der Kammerdiener sich in die andere Richtung entfernte.

      „Heute Morgen. Bis jetzt bin ich mit ihm ganz zufrieden.“

      „Das hoffe ich doch sehr. Wenn du nach nicht einmal zwölf Stunden schon mit ihm unzufrieden wärst, wäre das keine gute Voraussetzung für eine weitere Beschäftigung.“

      Sie traten zu ihrer Mutter in den Salon.

      „Miranda, du siehst hübsch aus.“

      Während die Arme ihrer Mutter sie leicht berührten, versuchte Miranda, sich daran zu erinnern, dass das Kompliment ein Zeichen ihrer Zuneigung war. Die Bemerkung, dass ihre Mutter dies nur sagte, weil sie ein pastellfarbenes Kleid trug, verkniff sie sich. In der vergangenen Saison hatte ihre Mutter ihr erlaubt, diese Farbe anstelle der Weiß- und Beigetöne zu tragen, in die sie Miranda in ihren ersten beiden Jahren gekleidet hatte. Die kommende Saison wäre ihre vierte, und Miranda hoffte, diese Farben, die für ihren Teint nicht gerade vorteilhaft waren, endlich ganz ablegen zu können.

      „Es tut mir leid, dass William dich auf dieser Reise nicht begleiten konnte.“ Miranda setzte sich auf das mit grünem Brokat überzogene Sofa, da sie wusste, dass sie wahrscheinlich eine Weile warten müssten, bis ihre jüngere Schwester Georgina erschien.

      Ein kleines Lächeln war auf dem Gesicht ihrer Mutter zu sehen, als sie sich neben Miranda setzte. „Das tut mir auch leid. Das nächste Mal werde ich länger bleiben und er wird mich begleiten.“

      Griffith nahm in einem Klubsessel Platz. „Kommst du zu Weihnachten wieder?“

      Mutter