R.L. Stine

Fear Street 47 - Ahnungslos


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      „Na wenigstens sprechen wir mal“, antwortet Chelsea mit wachsendem Ärger. „Normalerweise tun wir das überhaupt nicht, weil du zur Arbeit musst.“

      „Junge, Junge, du hast aber wirklich eine Laune heute Morgen“, sagte ihre Mutter. „Es tut mir leid, aber dein Vater und ich müssen nun einmal hart arbeiten. Es ist ja nicht so, dass du ein Vermögen mit deinem Saxofonspielen verdienst.“

      „Immerhin arbeite ich in Dads Café. Ich verdiene mein eigenes Geld“, zischte Chelsea. „Hör doch auf, mir die Musik mieszumachen. Es ist das Einzige, was mir noch Spaß macht.“

      „Das Einzige“, wiederholte Chelsea für sich. „Das absolut Einzige in meinem ganzen bescheuerten Leben.“

      „Warum bemitleidest du dich in letzter Zeit immer nur selber?“, fragte Mrs Richards. Sie legte mit einem Seufzer die Zeitung auf den Tisch und ging zu Chelsea hinüber.

      Chelsea zuckte mit den Schultern. „Es ist diese neue Stadt. Shadyside. Und dieses unheimliche alte Haus.“

      „Nun hör doch bitte auf, dich über das Haus zu beschweren. Wir werden es wieder herrichten.“ Mrs Richards verschränkte die Arme über ihrem hellblauen Rollkragenpullover. „Du weißt doch, dass dein Vater schon immer davon geträumt hat, einmal sein eigenes Café zu besitzen. Der Umzug hierher ist für ihn eine große Chance. Für uns alle.“

      „Aber in der Schule erzählen sie sich Geschichten über diese Straße. Die Fear Street. Sie sagen, dass alle möglichen verrückten Dinge hier passieren.“

      „Verrückte Dinge passieren überall“, erwiderte ihre Mutter trocken. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Wolken lichteten sich, und die Abendsonne schien ins Zimmer.

      Chelsea nahm ihr Instrument auseinander und legte die Teile sorgfältig in den Saxofonkasten.

      „Warum habe ich kein glattes Haar wie du?“, begann sie wieder. Eigentlich war ihr klar, dass sie damit aufhören sollte, aber sie konnte nicht anders. „Warum muss mein Haar so gelockt sein und diese furchtbare mausbraune Farbe haben?“

      „Willst du deine Haarfarbe ändern?“, fragte ihre Mutter überrascht. „Das ist einfach.“

      „Und wie verändere ich mein Gesicht?“, jammerte Chelsea und blickte in den Spiegel an der Wand beim Eingang.

      „Meine Nase ist zu dick, und mein Kinn ist zu schmal“, dachte sie zum tausendsten Mal.

      „Chelsea, du bist ein sehr attraktives Mädchen“, sagte ihre Mutter, immer noch die Arme verschränkt. „Wenn du etwas abnehmen würdest und etwas Lippenstift ...“

      Chelsea sprang aufgebracht von ihrem Stuhl hoch.

      Ihre Mutter war so überrascht, dass sie einen Schritt zurücktrat.

      „Hör doch bitte auf, Mum. Attraktiv! So was erzählt man immer den Leuten, die es gerade nicht sind. Warum sagst du nicht gleich, dass ich einen guten Charakter habe, dann hast du es hinter dir. Hässliche Mädchen haben nämlich einen guten Charakter, weil mit ihnen ja sonst nicht viel los ist.“

      „Ganz ehrlich, du siehst toll aus. Nur dein Charakter ...“, versuchte ihre Mutter wieder zu scherzen.

      „Mum –“, schrie Chelsea. Sie fühlte, wie sie langsam die Kontrolle über sich verlor. „Kannst du denn niemals ernst sein?“

      Mrs Richards machte einen Schritt nach vorne und nahm ihre Tochter ungeschickt in die Arme. Dies überraschte Chelsea völlig. Ihre Mutter zeigte nur selten ihre Liebe so offen. Chelsea konnte sich nicht einmal erinnern, wann ihre Mutter sie das letzte Mal umarmt hatte.

      „Es – es tut mir leid“, rutschte es ihr heraus, obwohl sie gar nicht genau wusste, warum sie sich entschuldigte.

      „Ssshhh.“ Mrs Richards legte ihren Finger auf Chelseas Lippen. Dann trat sie einen Schritt zurück. „Es war der Umzug, meine Liebe“, sagte sie und schaute Chelsea aufmunternd an. „Es ist, weil du wieder völlig von vorne anfangen musst. Eine neue Stadt, eine neue Schule, das ist ja wirklich nicht so einfach.“

      Chelsea nickte und dachte darüber nach, was ihre Mutter gesagt hatte.

      „Und du bist unglücklich, weil dein Vater immer im Café ist und ich die ganze Zeit im Altersheim, wo ich mich um Patienten kümmere, anstatt hier zu Hause bei dir zu sein“, fuhr Mrs Richards fort. „Aber wir können doch nichts daran ändern, Chelsea. Dies ist unsere große Chance. Vor allem für deinen Vater. Wenn er es schafft, das Café zu einem Erfolg zu machen, dann wird er so glücklich sein, und dann werden wir auch keine Schulden mehr haben.“

      Mrs Richards steckte ihre Hände in die Taschen ihrer Jeans und begann, im kleinen Zimmer auf und ab zu gehen. „Aber – du darfst nicht anfangen, an dir selbst zu zweifeln. Es liegt an den Umständen, am Umzug, aber nicht an dir.“

      Chelsea schaute wieder in den Spiegel. „Das ist leicht zu sagen“, dachte sie traurig. „Sie ist groß und hübsch, aber ich sehe aus wie eine Kuh.“

      „Alles klar, Mum“, sagte sie mit gezwungener Fröhlichkeit. „Du hast recht. Tut mir leid.“

      Das Gesicht ihrer Mutter zeigte, wie besorgt sie war. „Aber Schatz, du hast doch schon eine Freundin hier gefunden, oder nicht?“, hakte sie noch einmal nach.

      Chelsea nickte. „Nina Darwin.“

      „Warum rufst du sie nicht an?“, schlug Mrs Richards vor. „Sie scheint wirklich nett zu sein. Und sehr beliebt. Ich bin mir sicher, dass du durch sie noch andere Freunde finden wirst.“

      Sie schaute auf ihre Uhr. „Oh nein, ich bin viel zu spät. Ich muss sofort los.“ Sie gab Chelsea einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, griff sich ihre Schlüssel und das Portemonaie vom Flurtisch und hastete aus der Tür.

      Chelsea seufzte. „Was sollte das nun schon wieder sein?“, fragte sie sich. „Mum hat aber recht. Ich muss aufhören, mich selber zu bemitleiden.“

      Sie brachte das Saxofon in ihr Zimmer und räumte es in den Schrank. Dann zog sie ihr weißes Sweatshirt aus, weil ihr plötzlich zu warm geworden war, und suchte nach etwas Kühlerem zum Anziehen.

      „Ich muss aus diesem Haus raus“, dachte sie und zog ein grünes T-Shirt aus der Schublade. „Vielleicht kann Nina mich etwas aufmuntern.“

      Nina Darwin wohnte ganz in der Nähe, nur zehn Minuten von Chelsea entfernt. Chelsea hatte Nina in der Schulband kennengelernt, mehr oder weniger durch einen Unfall: Die beiden Mädchen waren nach der ersten Probe regelrecht ineinandergerannt. Chelseas Saxofon bekam eine Beule, und Ninas Knie einen Kratzer. Ansonsten blieben beide unverletzt.

      Danach waren sie gute Freundinnen geworden, obwohl Nina bei den Proben für den Musikzug immer darauf bestand, mit ihrer Flöte am anderen Ende, weit entfernt von Chelsea, zu gehen.

      Nina war klein und sah lustig aus, mit intelligenten, feinen Gesichtszügen und glattem blondem Haar. Sie war ganz anders als Chelsea, hatte eine völlig unkomplizierte Art und schien eine Menge Freunde zu haben.

      „Sie sieht aus wie zwölf“, dachte Chelsea manchmal. „Wenn wir zusammen sind, denken die Leute wahrscheinlich, dass ich ihre Mutter bin!“

      „Nun mach dich nicht wieder selber schlecht“, sagte sich Chelsea energisch.

      Nina war eine gute Freundin. Ihre einzige Freundin bis jetzt.

      „Also fang nicht an, ihre schlechten Seiten zu suchen“, warnte sie sich.

      Chelsea merkte, wie ihre schlechte Laune langsam verflog, während sie zu Ninas Haus ging. Es war ein klarer Herbsttag, die Luft frisch und trocken. Einige Häuser in der Fear Street waren alt und verwahrlost, aber sie sahen nicht Furcht einflößend oder unheimlich aus, so wie die anderen Kinder sie beschrieben hatten.

      Als sie in Ninas Straße einbog, fuhr ein Auto an ihr vorbei. Die Fenster waren heruntergekurbelt, das Radio plärrte auf voller Lautstärke. Chelsea erkannte einige Jungen aus ihrer Schule. Sie