»Ich schwöre bei allen meinen Nagellackfläschchen.«
»Sonst muss ich dir auch leider die Freundschaft kündigen.« Ich versuche, so ernst wie möglich zu gucken. »Für immer und ewig. Das ist fast so lang wie sechs Wochen Bretagne. Ich weiß nicht, ob ich das ohne dich aushalte.«
»Keine Sorge. Ich passe in der Zwischenzeit auf, dass deinem Flori niemand zu nah kommt.«
Es klopft gegen die Tür. »Caro, bist du immer noch im Badezimmer?«
»Sorry Merle, ich muss noch packen.«
»Sei tapfer, Süße. Und schreib Flori unbedingt an. Ihr müsst in Kontakt bleiben, damit er dich nicht vergisst!« Sie wirft mir eine Kusshand durchs Handy zu und legt auf.
Das sagt sie so leicht. Sie hat ja auch nichts zu verlieren.
2. Kapitel
Maman öffnet schwungvoll die Badezimmertür. »Caro! Dein Koffer steht immer noch im –« Sie wirft einen entsetzen Blick auf die Schere in meiner Hand. Ihre Augen werden kugelrund. »Was machst du hier?«
»Ich habe meine Haare geschnitten.«
»Aber warum? Du hast so lange gewartet, bis sie gewachsen sind, und jetzt schneidest du sie schon wieder ab?« Ungläubig schüttelt sie den Kopf, greift nach der Schere. »Mit einer Papierschere?«
»Eine Papierschere? War mir gar nicht aufgefallen. Funktioniert trotzdem.«
Maman hebt eine Strähne und überprüft die Schnittstellen. »Aber Caro, du warst so hübsch mit langen Haaren.«
Ich zucke mit den Schultern und hole tief Luft, schlucke meinen Kommentar aber sofort hinunter, um keinen Streit heraufzubeschwören. Die kurze hitzige Diskussion beim Mittagessen hat gereicht, um meine Ferienfreude bereits vor dem Start zu trüben. Es gibt Dinge, bei denen Maman genauso störrisch ist wie Onkel Chris, dem sie genau diese Eigenschaft vorwirft. Dabei ist er nur konsequent in der Erfüllung seiner Träume. Warum will sie das nicht einsehen?
Maman verschränkt die Arme vor der Brust und legt den Kopf schräg. »Deine Haare abzuschneiden, weil du sauer auf uns bist - ist das nicht ein bisschen übertrieben?«
»Quatsch! Ich mach das nicht deshalb.« Na vielleicht ein bisschen. Maman hat mich überredet, meine Haare wachsen zu lassen, damit ich endlich wie ein Mädchen aussehe, die Jungs von mir Notiz nehmen und ich aufhöre zu jammern, dass ich mit fünfzehn immer noch ungeküsst bin. Aber wozu muss ich jetzt wie ein Mädchen aussehen, wenn Flori in Köln ist und ich elfhundert Kilometer weit von ihm entfernt? Wenn ich schon sechs Wochen in der Bretagne bin, dann kann ich mich auch voll und ganz auf mein Training konzentrieren. Und ob Flori mich nach den Ferien noch anguckt, hängt garantiert nicht an meiner Frisur.
Maman streichelt mir lächelnd über die Haare. »Aber es sieht süß aus. Eine richtig niedliche Sommerferien-Frisur.«
Ich ziehe den Kopf weg. »Die ist nicht niedlich, sondern praktisch zum Surfen.«
»Du willst dir also wieder die Knochen brechen? Ich dachte, das hätten wir endgültig hinter uns.«
»So ein Fehler passiert nicht wieder, keine Sorge.« Nach einem üblen Sturz im letzten Jahr, bei dem ich mir die Hüfte geprellt und zwei Rippen gebrochen hatte, war mein Board in zwei Teile zersprungen. Mamans Erleichterung war spürbar. Sie hat gedacht, dass ich nach diesem Unfall vom Surfen geheilt bin. Als ob mich ein kleiner Unfall vom Surfen abhält. Dann könnte ich ebenso gut mit der Schule aufhören. Glücklicherweise hat Maman nach Omas Schlaganfall alle Hände voll zu tun gehabt, sodass ihr meine heimlichen Trockentrainingsübungen gar nicht aufgefallen sind. Dieses Jahr bin ich mental vorbereitet und körperlich fit. Chris hat mir zum Geburtstag ein supersüßes Video geschickt, in dem er ein schickes Shortboard* mit einer überdimensionalen roten Schleife in die Kamera gehalten hat. Maman hat das Geschenk gelassen zur Kenntnis genommen. Für sie ist mein Surftraining in den sechs Wochen Perros pro Jahr wahrscheinlich das kleinere Übel, solange ich nicht, wie mein Onkel, die Schule abbreche und auf der ewigen Suche nach der perfekten Welle ziellos umherziehe. Wenn sie wüsste, welchen Vorschlag Chris mir gemacht hat, um meinem Traum einen Schritt näher zu kommen.
»Du weißt, was ich vom Surfen halte«, entgegnet sie, ohne mich anzuschauen. »Und davon, dass Chris dich da immer weiter hineinzieht.«
»Ich surfe nicht, weil Chris mir das sagt, sondern weil ich es liebe, eins mit dem stärksten Element der Welt zu sein. Es ist das pure Glück, die Wellenenergie unter dem Brett zu spüren und in der Lage zu sein, diese zu beherrschen.«
»Genau das meinte ich mit HINEINZIEHEN. Du klingst schon genau wie er.«
»Woher willst du das wissen? Ihr habt bestimmt seit zehn Jahren kein Wort miteinander gewechselt.«
Maman übergeht meinen Einwand durch hartnäckiges Schweigen, während sie die auf dem Boden aufgetürmten Handtücher faltet. »Lass uns nicht streiten. Dein Koffer steht immer noch im Flur, Schatz. Außerdem habe ich vorhin mit Omili telefoniert. Sie macht morgen Crêpes zum Mittagessen.«
»Ich fang gleich an zu packen«, murmele ich. Die Aussicht auf Omilis Crêpes ändert auch nichts an der Tatsache, dass ich mich wirklich gern mit Flori im Freibad verabredet hätte. Ich greife in die Hosentasche. Floris Zettel vermittelt mir für einen winzigen Augenblick das Gefühl inniger Verbundenheit. Gut, ich sehe ihn vielleicht in den nächsten sechs Wochen nicht, aber ich habe seine Telefonnummer.
»Und pack das Shirt mit dem blauen Fleck ein. Ich wasche das Ding dann in Perros. Wenn wir das über sechs Wochen hier liegen lassen, kommen Ameisen in deinen Schrank. Die riechen Zuckerwasser auf hundert Kilometer Entfernung. Und Ameisen in der Wohnung finde ich schlimmer als deine Surfbegeisterung.«
»Sehr witzig!« Alles in mir weigert sich, dieses Shirt in die Wäsche zu geben. Was, wenn der Fleck verblasst und alle meine Erinnerungen an Flori sich verlieren? Ich brauche diesen Fleck als Andenken an den legendärsten Tag EVER. Weil er auf lange Zeit der einzige Tag bleiben wird, an dem Flori und ich face-to-face miteinander gesprochen haben. Ich male ein unsichtbares Herz auf die Fensterscheibe.
»Jetzt pack deinen Koffer, Schatz, damit wir das Auto beladen können, sobald Papa aus dem Altenheim zurück ist.« Hinter Maman fällt die Badezimmertür ins Schloss.
Ich hätte jetzt gern abgeschlossen, um ungestört ein bisschen an Flori zu denken, aber alle Schlüssel im Haus sind vor Nico, meinem kleinen Bruder, versteckt. Ich zerre Floris zerknitterte Nachricht aus der Hosentasche und küsse die Buchstaben auf dem Papier. »Für dich hätte ich sogar freiwillig auf Surfstunden verzichtet, und die sind mir verdammt viel wert. Damit du’s weißt.«
3. Kapitel
Es regnet, als Papa mitten in der Nacht das Auto mit den restlichen Taschen belädt. Merle hat beschlossen, die ganze Nacht mit mir wachzubleiben, um mich bei den elf Stunden Autofahrt mental zu unterstützen. Kurz hinter Lille antwortet sie nicht mehr, dabei liegen noch mehr als acht Stunden Fahrt vor uns.
Mit Kopfhörern auf den Ohren zappe ich durch meine Depri-Playlist und denke an Flori. Er ist zwei Stufen über mir, kommt nach den Ferien in die zwölfte Klasse, hat einen Motorroller und die schönsten blauen Augen, in die ich jemals schauen durfte. Beim Schulfest vor einigen Tagen haben wir zusammen am Cocktailstand bedient. Er hat mir Sirup übers T-Shirt gekippt. Ein himmelblauer Unfall. Nachdem er sich tausendmal entschuldigt hat, wollte er es sogar waschen. Aber das wäre wirklich zu weit gegangen. Und dann hat er mir heute seine Telefonnummer zugesteckt. Es kribbelt in der Bauchmitte, sobald ich daran denke.
Nach dem Kofferpacken habe ich Floris Nummer ins Handy gespeichert und den Zettel in meiner Flori-Gedenkbox eingelagert. Soll ich ihm schreiben? Vielleicht wartet er morgen im Schwimmbad auf mich? Und wenn ich dann nicht komme, wird er ... Nein! Wie sieht das denn aus, wenn ich ihm sofort zurückschreibe? Den Fehler habe ich einmal gemacht. Leons Kumpels lachen immer noch über mich, wenn ich den Schulflur entlangkomme. Und die Aktion ist fast ein Jahr her. Diesmal muss ich es richtig machen. Ich schließe die Augen und beschwöre Floris Gesicht herauf: Die wunderbar leuchtend blauen