bin ich an jenem Ort, an dem ich jetzt gern wäre. Köln. Ich, anstatt von Lisa und Tim mit Merle unterwegs. Nicht in der City, sondern im Freibad. Dort hätte ich Flori gesehen, ihn vielleicht sogar in ein Gespräch verwickelt. Hinterher hätte er mich auf ein Eis eingeladen und zum Abschied geküsst. Diese Tagträume sind extrem ... unrealistisch. Niemals hätte ich den Mut aufgebracht, Flori in ein Gespräch zu verwickeln. Wahrscheinlich hätte ich irgendwann angefangen, wirres Zeug zu labern. Hinterher hätte ich Merle beim Retten der Situation zugeschaut und mich über meine eigene Dummheit geärgert.
Ich steuere auf den Drogeriemarkt zu. Soll ich wirklich? In der hinterletzten Reihe stehen die Nagellackfläschchen. Daneben all die sonstigen Kosmetikartikel, die bei Merle auch herumstehen und für die man Abitur braucht, um zu verstehen, zu welchem Anlass welche Creme benutzt wird. Farbe an den Fußnägeln lasse ich mir gefallen. Meist probiere ich die Sorten, die Merle kauft, die ihr aber nach einem Probedurchlauf in der Schule nicht mehr zusagen. Knallrot. Türkis. Lichtgrün. Für die Füße reicht es. So viel Geld für Zeugs, das man sich irgendwo hinschmiert, pudert oder klebt, ist bei mir die absolute Verschwendung. Maman sähe zwar gern, dass ich mein Zimmer mit Kosmetikartikeln dekorieren würde, anstelle des ganzen Surfzubehörs. Sie will einfach nicht einsehen, dass die beste Schminke im Wasser nichts taugt und verlaufende Wimperntusche als Pandamaske echt unsexy wirkt. Dann lieber ungeschminkt.
Ich greife das Fläschchen mit dem schwarzen Nagellack, drehe es zwischen den Fingern hin und her, stelle es aber wieder zurück. Vielleicht sollte ich doch blau nehmen. Schnell kontrolliere ich Merles Bild. Azurblau oder was steht da? Wie Floris Augen. Nein! Ich will nicht permanent daran erinnert werden, dass ich Floris Augen in diesen Sommerferien nicht sehen werde. Also doch dieses grottige Ich-bin-gefrustet-Schwarz, um meine Traurigkeit zum Ausdruck zu bringen? Schwarze Fußnägel erwecken den Eindruck, einem wäre etwas mit voller Wucht auf die Zehen gefallen.
Ich scanne die einzelnen Farben ab. Rosa geht gar nicht. Alle Nuancen von Blau sind ausgeschlossen. Rot - zu extravagant und Grün sieht nach verfaulten Füßen aus. Ich greife das neonorangefarbene Fläschchen. Miese Stimmung lässt sich auch mit Orange vertreiben. Die Farbe schreit förmlich nach Protest. Mein erstes Nagellackfläschchen. Ich bin gespannt, was Merle dazu sagt.
Ich bezahle an der Kasse und steige dann grinsend aufs Skateboard. Im Slalom lasse ich mich von der Straße hinunter zum Strand treiben. Ich hätte meine Sonnenbrille mitnehmen sollen. Auf einer Bank mit Blick auf den Plage de Trestraou pinsle ich meine Fußnägel ein und knipse ein Bild für Merle.
Ich: Was sagst du?
Neonorange. Meine Sommerferien-Protestfarbe. Maman wird es leider lieben, weil es mich für einen kurzen Moment in die Tochter verwandelt, die sie gern hätte.
Merle: Die Farbe brauche ich auch.
Ich: Dann kauf sie dir doch. Was macht Tim?
Merle:
Ich: Und? Seid ihr schon zusammen?
Merle: Quatsch! Wo denkst du hin. Tim ist anders.
Ich: Blind?
Er muss blind sein, sonst hätte er sich längst Hals über Kopf in sie verliebt, in ihre Lillifee-Locken, das süße Stupsnäschen und die hübschen mandelförmigen Augen. Dann hätte er ihr nicht nur den Smoothie ausgegeben, sondern die halbe Welt zu Füßen gelegt.
Merle:
Ich: Den Hauch von Nichts? Dann kann er wirklich nicht mehr anders. Wenn er danach nicht verliebt ist, ist er entweder wirklich blind oder schwul.
Merle: Niemals! Der ist garantiert nicht schwul!!!
Ich:
Merle: Nein. Wenn er mir morgen über den Weg läuft, grüße ich ihn von dir. Hat er sich gemeldet?
Der Platz neben mir auf der Bank wird von einer Frau mit drei Strandtaschen in Beschlag genommen. Seufzend stellt sie ihre Last dicht neben mir ab. Ich rücke ein Stück von ihr weg.
Ich: Ich habe ihn noch nicht angeschrieben.
Merle: WAS???
Ich weiß, ich bin ein Feigling. Was, wenn er mich gar nicht mag? Wenn er mir seine Nummer nur gegeben hat, damit er sich über mich lustig machen kann? So wie Leon.
Merle: Schreib ihn auf jeden Fall an. Schicke ihm ein Bild vom Strand. Irgendwas. Sonst denkt er, du magst ihn nicht ...
Ich: Soll ich wirklich?
Merle: Auf jeden!
Merle hat gut reden. Sie ist hübsch und witzig und kein bisschen verklemmt. Sie ist genau das Gegenteil von mir. Treffe ich auf einen Jungen, den ich mag, fange ich an zu stottern und wirres Zeug zu labern.
Ich: Ich weiß nicht ...
Merle: Was soll ich bloß mit dir machen???? So kriegst du nie einen ab! Denk dran, du wolltest nicht ungeküsst sterben.
Danke auch! Der Sand auf den Stufen zum Strand hinunter knirscht unter meinen Schritten. Blasse Urlauber liegen auf bunten Tüchern, einige haben Sonnenschirme und hindern diese mit Steinen am Davonfliegen. Auf den Trampolinen vom Strandclub üben einzelne Jugendliche Saltos. Ich schlängle mich rechts an den Handtuchplätzen vorbei.
In der Nähe des Volleyballfelds lasse mich in den Sand plumpsen. Das sind doch Sylvie und Manon? Die Zwillinge spielen mit zwei braungebrannten Strandboys Volleyball. Die Jungs tragen neonorangefarbene Badehosen.
Ich muss kichern und schiele auf meine frisch lackierten Fußnägel. Ich habe die beiden im letzten Jahr kennengelernt. Sie haben auf dem Zeltplatz unweit vom Plage de Trestraou gecampt. Ab und zu bin ich bei ihnen gewesen, um meinem Bruder zu entkommen.
Die beiden haben mich noch nicht bemerkt. Manon spielt in einem Zweierteam zusammen mit einem blonden Typen, der Flori ähnelt. Ihr Blick verfolgt energisch den Ball, ihre Bewegungen sind katzenhaft und treffsicher. Ihre Schwester bildet das Team mit einem großen dunkelhaarigen Kerl, dessen Frisur an einen Hund erinnert. Vergeblich schiebt er die Haare aus dem Gesicht, die ihm der Wind immer wieder vor die Augen weht. Irgendwie ganz niedlich.
Sylvie trägt einen giftgrünen Bikini, bei dem ein einzelnes Wort zu viel der Beschreibung wäre. Sie kann so etwas tragen, ohne sich am Strand als Witzfigur zu blamieren. Leider hilft ihr das gute Aussehen nicht bei der Annahme des Schmetterballs, den der Blonde ihr um die Ohren schießt. Ich höre sie kichern, während sie über das Spielfeld tänzelt, mit ihrem knallgrünen Hinterteil wackelt und ihrem Spielpartner einen schmachtenden Blick zuwirft. Wie Merle. Ich muss grinsen. Ob sie Tim mittlerweile um den Finger gewickelt hat? Ich mache ein Foto von Sylvie und schicke es Merle.
Ich: Die Farbe würde dir auch stehen.
Merle: Grün? Spinnst du? Außerdem finde ich den Kerl daneben viel interessanter. Kannst du den nochmal heranzoomen?
Ich: Du bist ja witzig!
Der Kerl mit der Hundefrisur wirft Manon den Ball zu, den sie geschickt annimmt und zu ihm zurückspielt. Eigentlich juckt es mir in den Fingern. Zu gern würde ich eine Runde mitmachen und ganz tief in mir macht sich ein seltsames Gefühl breit. Ich habe die zwei echt ein wenig vermisst. Schnell verdränge ich diesen Augenblick der Schwäche, versuche ein mürrisches