dein Unfall?« Sie fixiert mich, aber ich halte ihrem Blick stand.
Mein Sturz war ein böser Anfängerfehler. Die gebrochenen Rippen haben mich sechs Wochen lang schmerzhaft daran erinnert und mein Training behindert. Aber Aufgeben ist keine Option! »So etwas passiert mir nicht noch mal. Ich verspreche es dir.« Ihre Haare kitzeln an meiner Nase. Ich kann mir ein Kichern nicht verkneifen. »Chris und Evá haben mich übrigens nach Hause gebracht.«
Maman reißt die Augen auf. »Er hat eine Freundin?«
Und was für eine! Ich sag ihr nicht, dass Evá seine alte Karre ist. »Du kannst ihn ja morgen zum Abendessen einladen. Vielleicht erzählt er dir dann von seiner Evá.«
Mit spitzen Fingern angle ich ein Würstchen vom Grill und setze mich zu Omili an den Tisch. Mein Handy vibriert. Merle schickt ein Bild von ihren blauen Fußnägeln und die Erinnerung, dass ich ihr morgen unbedingt den neonorangefarbenen Nagellack besorgen soll. Mit ihrer Nachricht schießt gleichzeitig der Gedanke an Flori in meinen Kopf, über den ich den ganzen Nachmittag vergessen habe, zu grübeln. Ich habe ihn immer noch nicht angeschrieben. Wahrscheinlich hat er im Freibad auf mich gewartet. Und wenn er gar nicht wirklich mit mir gerechnet hat, wird er es vielleicht seltsam finden, wenn ich ihn jetzt aus heiterem Himmel anschreibe. Verflixt, wenn ich wüsste, wie ich es richtig mache. Ich schicke Merle ein Daumen-hoch-Emoticon und öffne Insta. Eine kleine Dosis Flori würde mir jetzt den Abend retten. Möglicherweise hat er etwas gepostet oder seinen Tag in einer Story zusammengefasst.
»Sollen wir morgen Marmelade machen? Ich habe ein neues Rezept«, mischt Omili sich in meine Gedanken.
»Warum nicht.« Eigentlich habe ich keine Lust, weil ich morgen viel lieber mein neues Board ausprobieren möchte. Doch das sage ich ihr lieber nicht. Großmütter sind immer schnell enttäuscht. Ich scrolle durch die Insta-Bilder-Galerie, von Flori ist nichts neues dazugekommen. Seufzend tippe ich seinen Namen in der Suchfunktion ein. Der letzte Beitrag ist vom Schulfest, kurz bevor er den blauen Sirup über meinem T-Shirt verteilt hat.
»Oder wir fahren zum Leuchtturm nach Ploumanac’h«, schlägt sie vor.
Ich zucke mit den Schultern. »Das wäre auch okay.« Eigentlich will ich den Leuchtturm in diesem Jahr gar nicht sehen. Der wird genauso langweilig wie im letzten Jahr aussehen. Aber auch diesen Gedanken behalte ich lieber für mich.
Es vibriert erneut.
Merle: Du musst Flori unbedingt anschreiben. JETZT!!!!!
Mit fünf Ausrufezeichen? Ich weiß selbst, dass es dringend nötig ist, ein Lebenszeichen von mir zu geben. Aber wie stelle ich das an, ohne mich zum Oberdeppen zu machen. Ich habe sogar mehr Schiss, mich vor Flori zu blamieren, als davor, mir beim Surfen erneut die Rippen anzuknacksen. Aus irgendeinem Grund ist mir plötzlich der Appetit vergangen. Mein Magen fühlt sich an wie nach einer Achterbahnfahrt mit Höchstgeschwindigkeit. Ich starre auf das Handy in meinen Fingern. Was würde Merle in meiner Situation jetzt machen? Ganz klar. Augen zu und durch. Ich küsse Omili auf die knittrige Wange. »Ich glaube, ich bin gar nicht mehr hungrig. Ich gehe ins Bett. Lass uns morgen noch mal drüber reden. Da bin ich bestimmt besser drauf.«
»Die Fahrt ist immer anstrengend. Dann schlaf schön.«
Ich umarme Omili und atme ihren vertrauten Geruch ein. »Morgen geht’s mir besser. Gute Nacht.« Auf dem Weg ins Haus fotografiere ich das Surfboard. Es lehnt lässig an der Hauswand. Ein Bild mit Surfbrett ist unverfänglich, wirkt nicht aufdringlich oder nach verzweifelter Verliebtheit. Das macht ihn vielleicht neugierig auf mich oder es hinterlässt Bewunderung. Auf jeden Fall ist es nicht so gefährlich, wie ein mit Herz-Emoticons vollgestopftes Liebesgeständnis. Allein der Gedanke daran lässt mir das Blut in die Wangen schießen. Bei Leon bin ich so naiv gewesen. Aber das passiert mir nicht nochmal. Ach Mann! Ich würde ihm so gern zeigen, dass ich ebenso cool bin wie Merle oder die anderen Mädchen aus meiner Stufe. Aber wie soll er das über elfhundert Kilometer und eine einsame Textnachricht hinweg begreifen?
Wenn ich mich aus dem Dachfenster lehne, kann ich zum Meer hinüberschauen. Von Weitem sehe ich, wie das Licht in den Wellen bricht und die einzelnen Lichtpunkte am Firmament glitzern. Die Ausflugsboote schaukeln angeleint auf dem Wasser. Chris ist bestimmt noch mit seinem Schüler unterwegs. Ich wäre so gern heute schon auf mein neues Brett gestiegen und in den Wellen untergetaucht. Seufzend lasse ich mich aufs Bett fallen. Ich stöpsle Deprimusik ein. Die Mighty Oaks in Dauerschleife. Shells. Genau der richtige Song, um die Gedanken aus dem Hier und Jetzt zu verdrängen, damit das heimliche Sehnen und Hoffen Platz hat, um sich genüsslich auszubreiten.
Omili hat den Schlüssel vom Badezimmer vergessen abzuziehen. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, weil Nico die Angewohnheit hat, sich in jeglichen Zimmern einzuschließen, um hinterher nicht allein herauszukommen. Das nervt. Ich drehe den Schlüssel im Schloss und fühle mich sofort sicher in dieser kleinen stillen Klo-Oase. Nicht wie zu Hause. Permanent rückt da Nico im Badezimmer ein, wenn ich einen stillen Moment für mich brauche. Den Kloschlüssel werde ich verstecken. Für mich allein.
Seit meine Nase am Nachmittag Bekanntschaft mit dem Volleyball gemacht hat, sehe ich sie zum ersten Mal im Spiegel. Sieht ziemlich übel aus. An den Nasenlöchern klebt immer noch etwas Blut. Ich schiebe sie hin und her, beiße die Zähne aufeinander. Es schmerzt höllisch, wenn ich mit dem Finger drüber streiche. Langsam färbt sich die Stelle auch blau. So etwas kann auch nur mir passieren! Sylvies besorgtes Gesicht fällt mir ein. Und dieser Typ in der neonorangefarbenen Badehose, der sofort losgelaufen ist, um mir ein Kühlpack zu holen. Er hat so eine beruhigende Stimme gehabt ... und braune, kräftige Waden. Das Blut schießt mir heiß in die Wangen. Ich presse meine kalten Hände auf das hochrote Gesicht. Er hat voll süß gelächelt. Am besten, ich vergesse den heutigen Nachmittag ganz schnell. An Merle sende ich ein Bild von meiner Unfallnase. Nach fünf Minuten ist das Häkchen noch immer grau unterlegt. Die Migthy Oaks beteuern zum dritten Mal, dass es sich für die Liebe zu kämpfen lohnt, und ich habe Heimweh nach Köln. Nach Merle und Flori.
Gut Caro, jetzt oder nie. Vorsichtig streiche ich über das Bild mit dem Surfbrett. Tippe: Morgen warten die Wellen auf mich. Voll blöder Text. Löschen. Flori weiß noch nicht einmal, dass ich schon im Urlaub bin. Sorry wegen dem Freibad. Sind schon im Ferienland. Ja. Besser. Aber irgendwas fehlt. Mit dem Board rocke ich morgen die Wellen.
Perfekt.
Senden.
Und warten.
7. Kapitel
Am nächsten Morgen schaue ich gleich aufs Handy. Aber Flori hat noch nicht geantwortet. Wer, außer mir, steht in den Ferien schon um acht Uhr auf? Joggen hilft sonst immer, den Kopf freizubekommen. Also drehe ich schnell eine Runde am Strand. Danach ist allerdings immer noch keine Nachricht von ihm eingetroffen. Und die Angst, dass Flori auf mein Bild nicht reagiert, sitzt mir im Nacken und flüstert hartnäckig Zweifel in mein Ohr. Vielleicht hilft das Frühstück. Es duftet herrlich nach frisch aufgebackenen Croissants und Kaffee. Ich lasse mich auf den Stuhl plumpsen.
»Aua!«, schreit Nico.
»Dann nimm deinen Fuß von meinem Stuhl!«
Nico streckt mir die Zunge raus und wirft mit einem Stück Baguette nach mir.
»Maman! Hast du gesehen, was Nico gemacht hat?«
Maman atmet tief durch. »Wenigstens beim Frühstück hätte ich gern ein wenig Frieden. Was ihr danach macht, ist mir egal.«
Mit diesem nervigen kleinen Bruder ist das unmöglich. Das Handy vibriert. Flori?! Oder Merle? Ob sie schon wach ist?
»Und kein Handy am Tisch!«, mahnt Papa, als ich in die Tasche greife.
»Was denn noch alles?« Am Ende müssen wir uns unterhalten. Aber worüber? Dass ich nicht geschlafen habe, weil ich auf mich selbst sauer gewesen bin? Ich hätte Flori sofort am Freitag anschreiben sollen. Stattdessen habe ich bis gestern Abend gewartet und dann bis vier Uhr nachts unter der Bettdecke gehockt, um vergeblich aufs Display zu starren. Und ob er sich jetzt gemeldet hat, darf ich nicht nachschauen. Kann der Tag schlechter anfangen?