Ich drehe mich nicht um. »Vergiss es!« Weg, einfach nur ganz weit weg.
Das Wasser spritzt mir ins Gesicht, als ich hinauspaddle. Es kostet Kraft, gegen die Wellen-Sets* anzuschwimmen. Vor allem, weil ich von den beiden beobachtet werde. Aus dem Line-Up* sehe ich sie am Strand stehen. Der Junge zeigt Chris Bilder auf dem Kamerabildschirm und wirft lachend den dunklen Lockenkopf in den Nacken. Ich beschließe, so lange im Wasser sitzen zu bleiben, bis Chris und dieser Adrien vom Strand verschwunden sind. Vorher werde ich mich nicht rühren, geschweige denn eine Welle zurück ans Ufer nehmen. Wenn ich erfriere, dann wäre Chris daran schuld. Und Maman hätte endlich einen triftigen Grund, sauer auf ihn zu sein.
Sanft schaukelnd lasse ich mich auf der Wasseroberfläche treiben, widerstehe dem Bedürfnis, zurück zu schauen. Ich paddle bis hinter die gelben Bojen zu den Ausflugsschiffen der Amor Navigation, die friedlich schwankend auf ihren nächsten Einsatz zu den Sieben Inseln warten. Die Sonne hinterlässt einen rosaroten Schleier am Himmel, taucht die wenigen Wolkenfetzen in sattes Orange. Mein Ärger rauscht mit dem Wind Richtung Strand und löst sich buchstäblich in Luft auf. Als ich mich umdrehe, ist Adrien weg.
Chris paddelt mir entgegen.
Wenn ich mich nicht bewege, bemerkt er mich gar nicht. Augen zu und fest daran glauben.
»Na Zicke!«
Mist. Das hat doch früher immer geklappt.
»Hast du dich beruhigt?«, fragt er.
Ich schnaube, schlage mit der Hand auf die glatte Wasseroberfläche. »Ich wollte lediglich ein einziges dummes Foto, mit meiner Handykamera, damit ich meiner Freundin ein Bild schicken kann. Aber nein!«
»Warum regst du dich so auf? Du hättest so grandiose Profifotos bekommen. Jetzt hast du gar nichts. Du bist so lange hier, kannst doch deiner Freundin morgen noch ein Bild schicken.«
»Du verstehst das nicht!« Wie soll ich ihm erklären, dass ich Flori das Bild versprochen habe und dieses Bild die einzige Möglichkeit ist, dass er und ich miteinander in Verbindung bleiben?
Chris setzt sich aufs Board, lässt neben mir ebenfalls die Füße im Wasser baumeln. »Nein, sorry, dieser Mädchen-Zicken-Kram ist mir zu hoch. Erinnert mich ganz vage an deine Mutter –«
»Ich bin nicht wie meine Mutter!«, falle ich ihm ins Wort.
Er grinst. »Geht gar nicht um deine Freundin, habe ich Recht? Sonst würdest du nicht so ein Theater machen.«
Ich werfe mich aufs Board und paddele mit der Welle Richtung Strand.
»Hey, warte!« Chris folgt mir. »Wir machen morgen für deinen Kerl ein Bild, bei dem ihm die Augen rausfallen. Jetzt warte doch mal! Wie heißt der Typ eigentlich? Ist er es überhaupt wert, dass du hier so einen Aufstand probst?«
»Lass gut sein«, knurre ich mehr zu mir selbst. Ich weiß doch selbst nicht, warum ich gerade so irrational reagiert habe. Völlig bescheuert. Was der Badehosen-Typ jetzt von mir hält, will ich mir gar nicht vorstellen. Das Bild für Flori muss eben bis morgen warten. Vielleicht frage ich Sylvie, ob sie mich fotografiert. Wer weiß, wie lange Flori drauf wartet, bevor er mich vergisst.
Chris kommt hinter mir aus dem Wasser, löst die Fußbefestigung vom Knöchel. »Weißt du, was ich vorhin spontan überlegt hab?«
»Du lädst mich morgen als Wiedergutmachung auf eine Portion Moules ein? Das ist echt nett von dir.«
»Haha, witzig. Ne, eigentlich dachte ich, wir könnten dich über unseren Club als Teilnehmer für La Torche anmelden. Dann könntest du ein paar Wettkampferfahrungen sammeln. Was sagst du?«
»Dein Ernst?« Das Seven-Island-Surfteam hat laut Chris einige vielversprechende Talente im Kader. Mehr wollte mir er am Telefon nicht erzählen, nachdem ich ihm kurz nach Weihnachten zum Doppelsieg seiner Kids bei den bretonischen Landesmeisterschaften gratuliert habe. Und mit ihnen soll ich mich jetzt bei einem Nachwuchswettbewerb messen? »Das ist ein Scherz, oder?«
Chris stellt sein Board vor der Surfschule ab und grinst. »Komm mal kurz mit.«
Ich folge ihm hinein. Die Rezeption ist nicht mehr besetzt. Es riecht nach nassen Neoprenanzügen und eine Spur aus Strandsand und Pfützen führt zu den Umkleidekabinen. Chris pflückt ein selbst gemaltes Kinderbild von der Pinnwand gegenüber der Anmeldung. Ich erkenne es sofort. Die Ecken sind bereits wellig und die Farben leicht verblasst. Aber die Person auf der riesigen blauen Welle soll mich darstellen.
»Das Bild ist mir hier nie aufgefallen«, gestehe ich. Caro wird Profisurfer, steht dort in krakligen Großbuchstaben. Oh Mann, ich war in der ersten Klasse, als ich ihm die Zeichnung geschenkt habe. »Warum hast du das noch?«
»Wir bekommen viele Bilder von den Ferienkindern, aber niemand hat jemals geschrieben, dass er Profi werden will.« Chris lächelt mir zu. »Schlaf eine Nacht drüber. Ein bisschen Zeit habe ich noch, bis die Anmeldungen raus müssen.«
Abends kann ich natürlich nicht einschlafen. Ich werfe mich im Bett hin und her. In meinem Kopf dreht sich das Gedankenkarussell, wirbelt Chris‘ Worte mit den Videos der Surfwettkämpfe durcheinander, die ich nachts heimlich unter der Bettdecke im Internet verfolge. Seit ich sechs bin, habe ich immer wieder davon geträumt, als Profisurferin auf den Wellen der Weltmeere zu reiten. Ich habe in Wahrheit wohl nie mit damit gerechnet, dass dieser Traum irgendwann in Reichweite kommen könnte. Darauf bin ich emotional nicht vorbereitet. Und dann ist da immer noch die Sache mit Chris‘ Freund Henning.
Unter der Bettdecke gebe ich zum gefühlt tausendsten Mal »NorthSeaSurf-Club auf Sylt« in die Suchmaschine ein. In der Bildergalerie scrolle ich durch die Fotos der letzten Deutschen Meisterschaft, die der Verein jährlich zusammen mit einem französischen Club in Hossegor austrägt. Henning ist quasi sowas wie ein Talentscout, der deutsche Surfer fördern will, die nicht aus Auswandererfamilien stammen und ganzjährig traumhafte Trainingsbedingungen haben. Aber dafür müsste ich meinen Lebensmittelpunkt nach Sylt verlegen. Der Gedanke ist mehr als verlockend, aber diese Möglichkeit lässt sich nicht einmal in meinen Tagträumen verwirklichen. Seufzend klicke ich durch das Menü. Ein knallbuntes Plakat mit einem durch die Wellen fliegenden Surfer kündigt den nahenden La Torche Surf-Cup an. Der Wettkampf, für den Chris mich anmelden möchte, um Erfahrungen zu sammeln und Henning kennenzulernen. Die Suche nach dem ultimativen Jungsurfer wird von RipCool präsentiert - der genialste Sponsor überhaupt. Mir wird schlecht. Und gleichzeitig kribbelt es in meinen Fingern. Der Cup ist eine unvergleichliche Chance, wenigstens einmal im Leben auf der internationalen Welle mitzureiten.
Screenshot vom La Torche Surf-Cup-Plakat. Weiterleiten an Merle.
Ich: Wärst du stolz auf mich, wenn ich da mitmache?
Sekunden später vibriert mein Handy.
Merle: WOW!!! Natürlich! Wenn ich hier nicht auf deinen Flori aufpassen müsste, würde ich dich besuchen kommen. Da laufen bestimmt ein paar richtig –
Oh Merle! Das kann nur von dir kommen!
9. Kapitel
Am nächsten Tag begleite ich Nico nach dem Mittagessen zum Strand. Mamans Sonnenhut und eine überdimensionale Sonnenbrille dienen als Tarnung. Ich hoffe inständig, dass mir der Typ mit der Hundefrisur nicht begegnet. Nach meinem fragwürdigen Abgang gestern wäre dieses Treffen mehr als peinlich. Als die Blonde mit der Stupsnase an der Ferienstrandclub-Anmeldung meinen Bruder in einer Liste abhakt, recke ich den Kopf in alle Richtungen und halte nach der neonorangefarbenen Badehose Ausschau. Ich kann ihn nirgends entdecken. Sollte das Glück heute auf meiner Seite sein?
»Suchst du jemanden?«
ER. War ja klar. Und wie bitte soll ich ihn in einer knallgrünen Badehose erkennen? »Nein, nein ... ich sehe nach meinem Bruder ... also ... ich ... hab dich nicht gleich erkannt.« Ich fühle, wie die Verlegenheit bis hinauf in meine Haarwurzeln kriecht. Hoffentlich verdeckt