Geisterstadt über dem Ghettogelände. Man sieht weder Deutsche noch Schutzleute, es wird nicht geschossen … Bald tauchen aber wieder die ersten Menschen in den Straßen auf. Sie kommen zusammen und besprechen das Vorgefallene. Man kommt zu dem Schluss, dass sich etwas Derartiges schließlich nicht wiederholen könne, und nach und nach kommen alle in den gewohnten Ghettoalltag zurück. Obwohl sich die Menschen nur langsam von dem Schock erholen, stellt sich die Alltagsroutine wieder ein. Aus Furcht vor Hunger werden die Lebensmittel streng und sparsam auf Tage und Wochen im Voraus eingeteilt.
So wie die anderen haben auch wir das Haus aufgeräumt und geputzt, lassen aber dennoch für alle Fälle die Rucksäcke unausgepackt.
Auch der Ghettoladen hat wieder geöffnet, nur jetzt hat sich die Situation verändert. Vor der „Massenevakuierung“ konnte man nur begrenzte Mengen und die auch nur mit Lebensmittelkarten kaufen. Jetzt werden diese nicht mehr verlangt: Kohl, Kartoffeln, Rüben, Möhren – alles ist in der benötigten Menge erhältlich. Zwar sind die Lebensmittel qualitativ minderwertig, aber die ausgehungerten Leute kaufen sie trotzdem.
Durch Öffnungen in der Umzäunung kommen immer häufiger Männer heimlich aus dem Kleinen Ghetto, ihre Angehörigen zu besuchen, und erzählen, wie verzweifelt die Leidensgenossen sind, die niemanden mehr haben, zu dem sie kommen können.
Am 3. Dezember erreichen uns Gerüchte, dass in der Stadt Näherinnen benötigt werden. Sie würden im Ghetto bleiben können und nicht ins Lager geschickt. Viele Frauen suchen so eine Chance auf Rettung, indem sie vorgeben, Näherinnen zu sein, auch wenn sie nicht die geringste Fertigkeit in diesem Handwerk haben. Mehrere Frauen kommen zu mir, um zu lernen, wie man mit einer Nähmaschine umgeht, zuschneidet und näht. – Am selben Tag beginnt in der Mazā Kalna iela die Registrierung der Näherinnen. Als ich eintreffe, stehen bereits 300 oder 400 Frauen in einer langen Schlange an. Nach der Registrierung werden alle nach Hause geschickt, um Proviant für zwei Tage zu holen und sich zu festgesetzter Stunde an derselben Stelle zu versammeln, danach würden sie in die Stadt gebracht.
Als wir mit unseren Bündeln eintreffen, werden wir bereits von den Schutzleuten erwartet. Wir werden in einer Kolonne aufgestellt und ziehen los. Während wir durch die „arische“ Stadt marschieren, beobachte ich, dass viele Passanten stehen bleiben und uns mit traurigen Blicken nachsehen. Einige weinen sogar, wischen sich die Tränen ab. Offenbar wussten die Stadtbewohner bereits von dem traurigen Ende der verschleppten Juden.
Wir werden durch die ganze Stadt zum Termingefängnis36 am Bahnhof Brasa geführt. Nach einem kurzen Aufenthalt im Gefängnishof werden wir auf einen Dachboden gebracht, der völlig überfüllt ist. Dort treffen wir auf Jüdinnen, die schon vor uns aus dem Ghetto hergebracht worden sind. Wir stehen dicht aneinandergedrängt da, hinsetzen kann man sich nur auf die Knie der Nebenstehenden. Die Tür wird geöffnet, und einige weitere Neuankömmlinge werden noch in den Raum geschoben. Es ist derart stickig, dass einige Frauen ohnmächtig werden. Wasser haben wir nicht, und es gelingt uns nur mit Müh’ und Not, die Ärmsten wieder zur Besinnung zu bringen.
Bei diesem Luftmangel verbringen wir die Nacht. Von den Wachleuten taucht keiner mehr auf. Wir teilen den mitgebrachten Proviant miteinander, leiden aber schrecklichen Durst. Es scheint, als seien wir eigens hergebracht worden, um gequält zu werden. Am nächsten Tag öffnet sich endlich die Tür, und der Wachtposten fragt:
„Wer möchte in eine Zelle? Es gibt 50 Plätze!“
Viele wollen, auch ich melde mich. Der Wachposten zählt fünfzig Frauen ab und führt uns in eine kleine Gefängniszelle. Die Beengtheit und das Gedränge sind hier nicht geringer als auf dem Dachboden, doch es kommen noch Feuchtigkeit und der kalte Betonfußboden hinzu. Das einzige zugeklebte Fensterchen der Zelle ist vergittert, die Tür verriegelt.
Indem sie auf eine der Sitzenden weist, flüstert mir eine Frau ins Ohr, dass man sich vor ihr besser vorsehen und sich nicht verplappern solle, sie sehe verdächtig aus – die Deutschen werden eine Spionin oder Provokateurin eingeschleust haben.
Diesmal wird die Zelle nicht von einem Schutzmann, sondern von einem gewöhnlichen Gefängniswärter bewacht. Hier bekommen wir ebenfalls weder zu essen noch zu trinken. Pritschen gibt es keine, sondern nur einen einzigen großen Tisch, auf den sich in der Nacht einige von uns zu dritt oder viert dicht nebeneinander zum Schlafen legen. Da der Tisch nicht groß genug ist, verbringen die meisten die Nacht auf dem Fußboden.
Am Morgen betritt ein Aufseher die Zelle und fordert, Meldung zu machen. Wir begreifen überhaupt nicht, was er will, und stellen ihm Fragen. Es folgt eine scharfe Reaktion mit groben Schimpfwörtern. Wir seien „undisziplinierte Jüdinnen“, die man erschießen müsse. Nachdem er eine Weile getobt hat, geht er wieder.
Ein zweiter Tag vergeht. Der unerträgliche Zustand setzt uns schwer zu und die Kräfte lassen nach. Wie lange wird sich das noch hinziehen? Jede Stunde, die wir in der dunklen Gefängniszelle verbringen, kommt uns wie eine quälende Ewigkeit vor. Nach einem weiteren halben Tag rasselt plötzlich das Schloss, die Tür wird geöffnet und ein Aufseher befiehlt uns, die Zelle zu verlassen.
Eine Frau fängt vor Angst an zu schreien, dass wir zur Erschießung gebracht werden. Panik bricht aus und die Frauen haben Angst, die Zelle zu verlassen.
Ich glaube nicht, dass man uns jetzt erschießen wird: Um das zu tun, hätten sich die Deutschen nicht so große Mühe mit uns machen müssen. Erschießen hätten sie uns auch früher können. Ich fange an, die aufgeregten Frauen zu beruhigen, und verlasse als Erste die Zelle. Das ermutigt die Übrigen, und die ganze Gruppe kommt heraus und stellt sich auf.
Wir überqueren den Hof, betreten ein Verwaltungsgebäude des Gefängnisses und kommen auf einen breiten Korridor. Hier stehen bereits viele Jüdinnen in einer Schlange. Am Fenster sitzen Deutsche und selektieren – einen Teil der Frauen schicken sie nach rechts, einen Teil nach links. Für die Näharbeiten sind diejenigen bestimmt, die nach rechts geschickt werden. Die Übrigen sollen zurück ins Ghetto gebracht werden.
Als ich an die Reihe komme, zeige ich dem Leiter der Selektierungskommission, einem deutschen Offizier, mein Zuschneiderinnendiplom, doch er schickt mich nach links, ohne überhaupt einen Blick darauf geworfen zu haben. Ich versuche ihm noch zu erklären, dass ich eine langjährige und erfahrene Schneiderin sei und jeglichen Auftrag ausführen könne, doch umsonst – er hört gar nicht hin und wendet sich der Nächsten zu. Bald darauf werden wir, die „Linken“, zurück ins Ghetto gebracht. Das war am 5. Dezember.
Im Ghetto herrscht weiterhin ungewöhnliche Stille. Das ist so merkwürdig! Auf den Straßen wenige Menschen, die Fensterläden alle geschlossen, ohne Not geht niemand aus dem Haus. Ich freue mich, Sonja wiederzutreffen, wir unterhalten uns stundenlang. Einige Männer aus dem Kleinen Ghetto sind zu ihren Familien zurückgekehrt. Sie holen Wasser aus dem Brunnen, hacken Brennholz, wechseln gelegentlich ein Wort mit einem Passanten. Still und friedlich vergehen zwei weitere Tage.
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