Ihm passt das gar nicht und er läuft im Zimmer auf und ab, wobei er laut überlegt:
„Schade, schade, eine sehr fleißige Frau. Hör’ mal, vielleicht bist du gar keine echte Jüdin? Vielleicht fließt ein ganz klein wenig arisches Blut in deinen Adern? Dann könnte ich erreichen, dass man dich bei mir lässt, ich würde sagen, dass du meine Geliebte bist. Du bist doch eine schöne Frau!“
„Nein, wo denken Sie hin!“ Ich schüttele den Kopf. „Ich bin durch und durch Jüdin.“
„Schade, wirklich schade, dann werden wir uns wohl trennen müssen“, wiederholt er mehrere Male.
So verlor ich meinen Arbeitsplatz und gleichzeitig auch den Passierschein für die Stadt – den sogenannten „ausveis“.26
Einige Tage später erfuhr ich, dass die Entlassung mit dem Befehl zur Zwangsumsiedlung aller Juden ins Ghetto in der Moskauer Vorstadt in Verbindung stand.27 Zu diesem Zeitpunkt wusste kaum jemand, was das Wort „Ghetto“ bedeutet. Es war ein abstrakter Begriff, obwohl niemand über etwas anderes sprach.
Sonja und ich beschlossen zusammenzubleiben. Wir gingen los, um das Ghetto in Augenschein zu nehmen und uns nach einer passenden Behausung umzusehen.
Wir sahen, dass für die Anlage des Ghettos das Gebiet von der Lāčplēša iela die Ludzas iela entlang bis hin zum Alten Jüdischen Friedhof mit einem Stacheldrahtzaun abgetrennt worden war.28 Ein düsterer und heruntergekommener Bezirk, in dem überwiegend arme Leute wohnen – russische Arbeiter und Handwerker sowie einige einheimische jüdische Familien.
Die Lebensumstände sind hier sehr viel schlechter als in anderen Rigaer Bezirken – viele Häuser haben weder fließend Wasser, noch sind sie ans Abwasser- oder Stromnetz angeschlossen – von Gas oder Zentralheizung ganz zu schweigen. Die kleinen Holzhäuser sind alt, niedrig und viele von ihnen stark heruntergekommen.
Da Juden nicht mehr in der Nachbarschaft von Nichtjuden wohnen dürfen, werden die bisherigen Einwohner der Gegend in die den Juden weggenommenen Wohnungen in „arischen“ Bezirken umgesiedelt.29
Es wird bekannt gegeben, dass im Ghetto pro Person nicht mehr als vier Quadratmeter Wohnfläche vorgesehen sind. Dreißigtausend Menschen müssen in den Gebäuden einiger weniger Häuserblocks untergebracht werden.30 Die Juden sind gezwungen, ihre gesamte Habe zurückzulassen, und dürfen nur das Allernotwendigste mitnehmen. Die Arier, die deren leere Wohnungen beziehen, sind die großen Gewinner.
Sonja und ich laufen durch die Straßen des Ghettos und entdecken ein Lebensmittelgeschäft. Aus allen Ecken von Riga sind schon viele Juden zusammengekommen. Einige stehen nach Lebensmitteln an. Dies ist das einzige Geschäft, wo Juden einkaufen dürfen. Im Laden sind viele Regale leer und die wenigen erhältlichen Lebensmittel sind von minderer Qualität. Manchen gelingt es, auf illegalem Wege von Ariern Lebensmittel zu erwerben.
In der antisemitischen Tageszeitung »Tēvija«31 wird das Warschauer Ghetto32, das bereits seit zwei Jahren existiert, als jüdisches Paradies dargestellt: Dort gebe es allen Komfort, sogar Cafés und ein Theater. Angesichts dessen, was hier vor sich geht – wie Familien und Waisen, denen alles genommen wurde, hierher umziehen müssen – sind wir der Ansicht, dass der Zeitungsartikel Hohn und Lüge ist.
Sonja Bobrowa ist verzweifelt: Sie hat eine kleine Tochter und eine schon sehr betagte Mutter – wie soll sie in derartigen Verhältnissen leben? Ich bin auch äußerst beunruhigt, Hunderte von Fragen peinigen mich, aber ich bin bemüht, meine Freundin zu beruhigen, sage, dass wir uns allmählich einrichten würden, wir werden genauso leben wie Tausende anderer Juden auch, einander helfen, arbeiten und das Beste hoffen.
Endlich haben wir eine kleine Wohnung in der Ludzas iela 37 gefunden und ziehen einige Tage später ein.33 Neben Wohnzimmer, Küche und Trockentoilette gibt es dort nur ein Schlafzimmer. Statt eines Badezimmers gibt es nur eine Spüle und einen Ofen in der Küche. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss und hat nur ein einziges Fenster, zu dem Sonjas Mutter hinausschauen kann, um sich die Zeit zu vertreiben.
Ich raffe mich noch einmal auf und gehe in meine alte Wohnung, um ein paar Sachen zu holen. Frau Krisone ist nicht zu Hause. Ich schnappe mir ein paar Decken, Bettwäsche, ein Tischtuch, Kleidung. Meine gutherzige Nachbarin, Frau Lamberte, ermuntere ich, zu nehmen, was ihr gefällt, solange die Krisone noch nicht wieder zurück ist – Möbel, Kleidung und andere Dinge.
Die Wohnung im Ghetto ist verdreckt und voller Parasiten. Die Wände wurden seit dem Bau des Hauses nicht mehr gestrichen. Die Dielenbretter sind ungepflegt und abgetreten. In diesem ganzen Schmutz haben sich Kakerlaken, Spinnen, Flöhe und Mäuse häuslich eingerichtet. Es vergehen mehrere Tage, bis Sonja und ich die Wohnung vollständig gereinigt und von Ungeziefer befreit haben. Der Geruch von Petroleum und Putzmitteln durchzieht das Haus. Mit Vorhängen, einem Tischtuch und einigen Bildern an den Wänden gelingt es, ein Gefühl von Häuslichkeit zu erzeugen.
Schließlich haben wir uns eingerichtet. Jeden Tag verbringen wir lange Stunden damit, nach frischen Lebensmitteln anzustehen. Noch mehr Zeit erfordert es, heimlich Konserven und geräucherte oder gedörrte Lebensmittel von wohlwollend gestimmten Ariern zu erstehen. Wir zahlen den doppelten Preis, da uns das Risiko, das sie eingehen, bewusst ist.
Durch das Wohnzimmerfenster beobachte ich, wie jeden Tag Männer- und Frauen-Kolonnen unter strenger Bewachung durch Zivilisten und deutsche Soldaten aus dem Ghetto zu verschiedenen Arbeitsstellen gebracht werden.
Wir haben uns noch nicht zum Arbeiten registrieren lassen. Wir warten so lange wie möglich damit ab. Niemand erhält Lohn für die Arbeit, auch keine Lebensmittel.
Am 24. Oktober ist das Ghetto mit einem hohen doppelten Stacheldrahtzaun vollständig von der Außenwelt abgetrennt. Das zentrale Zugangstor am Anfang der Sadovņikova iela wird geschlossen, in einer neben ihm aufgestellten Bude befindet sich die Wache. Von diesem Tag an ist der freie Verkehr zwischen der „arischen“ Welt und dem Ghetto unter Todesstrafe verboten.34
Abends statten häufig betrunkene SS- und Pērkonkrusts-Leute dem Ghetto einen Besuch ab und verursachen großes Chaos. Wehe dem, der ihnen über den Weg läuft! Die Opfer werden zusammengeschlagen und häufig auch an Ort und Stelle erschossen. Oft dringen sie in Häuser ein, rauben sie aus, schlagen die Einwohner zusammen und verschleppen den einen oder anderen. Keiner von ihnen kehrt zurück.
Die Wache überprüft penibel die Kolonnen, die ins Ghetto zurückkehren. Wenn die Nazis Lebensmittel bei jemandem entdecken, werden sie ihm abgenommen, und die Schutzleute lassen einen Hagel von Schlägen auf den Schuldigen niederprasseln. Viele werden zu Tode geprügelt, andere erschossen. Die Versorgungslage wird immer schlechter, im Laden gibt es kaum noch Lebensmittel, hauptsächlich nur verfaultes Gemüse. Bislang können die Menschen noch auf ihre Vorräte zurückgreifen, die sie als sie ins Ghetto zogen noch mitbringen konnten, doch in vielen Häusern herrscht bereits Hunger.
Der Winter 1941 bricht früh an und ist streng. Es gibt kein Brennholz. So kommt zum Hunger noch fürchterliche Kälte hinzu. Die Menschen fangen an, die wenigen dort wachsenden Bäume zu fällen, und verheizen ihre Möbel, um sich aufzuwärmen.
Wie können wir weiterleben? Diese Frage quält uns alle. Doch schon sehr bald „erlösen“ die Nazis die Ghettobewohner von dieser Sorge …
Die erste Aktion
Am 28. November erteilen die deutschen Verwaltungsbehörden den Befehl zur Liquidierung des Ghettos: Frauen mit Kindern, Greise und Arbeitsunfähige würden in ein anderes Lager verlegt werden, die arbeitsfähigen Männer wiederum in einem abgesonderten Teil des Ghettos bleiben und Arbeiten in der Stadt verrichten. Gleichzeitig wird bekannt gemacht, dass sich ein jeder reisefertig zu machen habe, wobei pro Person höchstens 25 Kilogramm Gepäck und Lebensmittel mitgenommen werden dürften. Dieser Befehl kommt wie ein Blitz aus heiterem Himmel und verursacht Panik und Chaos. Wohin sollen bei dem strengen Winterwetter so viele Menschen gebracht werden – und obendrein fast ohne Habe? Würden die Familien die Strapazen der ungewissen Reise ohne die Hilfe der Ehemänner, großen