Frida Michelson

Ich überlebte Rumbula


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waren ohne Unterbrechung in großen Gruppen aus dem Zentralgefängnis weggebracht worden, aber keiner von ihnen wurde jemals wiedergesehen. Später erfuhr man durch die Einwohner der Gegend um den Wald von Biķernieki von ihrem Schicksal – den ganzen Juli über seien Lastwagen voller Menschen an ihren Häusern vorbeigefahren, und aus dem Wald seien ununterbrochen Schüsse zu hören gewesen. Bei der Rückfahrt seien die Lastwagen leer gewesen. Danach zweifelte niemand mehr daran, dass die Nazis sie dort im Wald von Biķernieki ermordet hatten.21

      Doch was hatte es zu bedeuten, dass Schneider, Schuhmacher und andere Handwerker freigelassen werden? Vielleicht benötigen die Deutschen sie in ihren Armeewerkstätten? Aber die Ärzte? Jüdischen Ärzten ist es doch untersagt, Arier medizinisch zu behandeln und umgekehrt.

      Verschiedene Theorien gingen herum. Vielleicht gestatteten die Nazis aus Furcht vor dem Ausbruch von Epidemien unter den Juden, die keinen Zugang mehr zu Krankenhäusern und anderer medizinischer Versorgung hatten, die Einrichtung einer kleinen Ambulanz für Juden am südlichen Ende des Ghettos an der Ecke Maskavas und Līvānu iela?

      Alle Maßnahmen zur Isolierung der Juden von der „arischen“ Welt werden mithilfe der sogenannten Judenräte durchgeführt, die vermeintlich als Selbstverwaltungsinstanzen gebildet wurden.22 Um das Los der terrorisierten Juden zu erleichtern, wenden sich einige Mitglieder des Judenrates an die deutschen Behörden; bald jedoch stellt sich heraus, dass schon die Idee der Bildung eines Judenrates selbst eine insgesamt betrügerische Scheinaktion war, die nur dazu dient, die Vernichtung der Todgeweihten besser zu organisieren.

      Am nächsten Tag nehme ich allen Mut zusammen, noch einmal in meine Wohnung zu gehen. Es ist ein beklemmendes Gefühl. Die Juden, die unterwegs sind, gehen mit auf Brust und Rücken aufgenähten Sternen auf der Fahrbahn. Wie gewohnt benutze ich den Gehsteig. Ein Jude hält mich an und belehrt mich:

      „Sie sind wahrscheinlich gerade erst in Riga eingetroffen und wissen noch nicht, dass es uns Juden schon lange untersagt ist, den Gehsteig zu benutzen. Nehmen Sie sich in Acht, jemand könnte Sie sehen und melden! Dafür droht die härteste Bestrafung!“

      Ich verlasse den Fußweg und sehe mich vorsichtig um. Die Juden gehen auf dem Kopfsteinpflaster, genauer gesagt, im Rinnstein zwischen Fahrbahn und Gehweg, um nicht unter die Räder von Fuhrwerken oder Automobilen zu geraten. Es ist gefährlich und erniedrigend und vermittelt den Ariern unmissverständlich, dass sie im neuen Europa über der „minderwertigen Rasse“ stehen.

      Gebrandmarkt mit dem gelben Zeichen, das wie ein Herbstblatt an ihnen haftet, schreiten die Juden getrennt von den anderen in einer langen Reihe wie im Gänsemarsch dahin. Als ich dieses Bild zum ersten Mal erblicke, muss ich unwillkürlich lächeln, obwohl die Situation todtraurig ist.

      Ich stehe vor meiner Wohnungstür und horche – alles ist still. Ich klingele. Die Verwalterin Krisone öffnet, übergibt mir entsprechend der Order von Polizist Svipste den Schlüssel und verlässt die Wohnung.

      Ich beginne, meine Habe durchzusehen, und versuche herauszufinden, was mit meinen Schwestern geschehen sein könnte. In den Schränken finde ich Kleider von Sarah und Nechama, die sie beim Verlassen des Landes mit Sicherheit mitgenommen hätten. In der Wohnung herrscht große Unordnung, alles ist schmutzig und stinkt. Unsere besten Sachen und auch die Kisten mit der gestohlenen Kleidung in Sarahs Zimmer sind weggeschafft worden.

      Ich habe Angst, mich länger dort aufzuhalten, und überlege, zu welcher meiner lettischen Bekannten ich gehen könnte, um ihnen meine Sachen anzubieten. Die Gedanken bleiben bei Frau Mežule stehen – ich kenne sie gut, sie ist eine meiner Vorkriegskundinnen. Ich beschließe, zu ihr zu gehen.

      Als ich ankomme, begrüßt sie mich herzlich, und ich berichte ihr meinen Kummer. Ich zeige ihr Muster von Kleiderstoffen, sie müsse nur zur Krisone gehen und sich als meine Kundin ausgeben, die ihre Stoffe abholen wolle. Nachdem sie sich für Stoffart und -farbe entschieden hat, geht Frau Mežule zur Verwalterin und erhält das Geforderte auch.

      Nach einer Weile will ich noch mal in meine Wohnung gehen, klingele zuerst aber an der gegenüberliegenden Wohnungstür bei Frau Lamberte23. Als sie mich erblickt, wird sie ganz aufgeregt und berichtet, dass es in der vergangenen Nacht hier ein fürchterliches Spektakel gegeben habe – man hätte mich gesucht. Gegen meine Wohnungstür sei so laut gehämmert worden, dass alle Nachbarn wach geworden seien und sie im Treppenhaus nachgesehen habe, was da los ist. Vor der Tür hätten zwei „Bebänderte“ gestanden und sie angeschnauzt, sie solle augenblicklich verschwinden, sonst würden sie schießen. Am Morgen habe sich herausgestellt, dass es sich um die Brüder der Verwalterin gehandelt habe, zwei freiwillige Handlanger der Nazis – Pērkonkrustler. Sie waren gekommen, um mich zu verhaften, angeblich als Kommunistin. Die Krisone habe später mit ihren prominenten Verwandten geprahlt und dem Status, den ihre Brüder unter dem neuen Regime innehätten.

      „Sie haben Glück gehabt“, beendet die mitfühlende Nachbarin ihren Bericht, „dass Sie nicht zu Hause übernachtet haben – diese Bestien hätten Sie nicht am Leben gelassen.“

      Mir ist nun klar, dass ich mich hier nicht mehr blicken lassen darf.

      Ein nächster Erlass ordnete an, dass alle arbeitsfähigen Juden arbeiten müssen. Ich muss also schleunigst Arbeit finden. Sonja Bobrowa vermittelt mich als Dienstmagd an einen deutschen Offizier, der sich in der ehemaligen Wohnung ihres Bruders Dāvids in der Elizabetes iela Ecke Jumaras iela24 mit seinem Adjutanten einquartiert hatte. Sonjas Bruder Dāvids wurde in den ersten Tagen der Okkupation festgenommen und erschossen, seine Frau Šeina hingegen schaffte es, zusammen mit dem Kind, dem kleinen Ābrams, das Land zu verlassen. So war von der ganzen Familie nur noch Sonjas alte Mutter Estere in der Wohnung zurückgeblieben.25

      Zu meinen Pflichten gehört es, die Wohnung des Offiziers sauber zu halten, die Wäsche zu waschen und andere Hausarbeiten zu verrichten. Am Anfang war das nicht so einfach, weil ich mich erst an die Pedanterie und Gepflogenheiten der Deutschen gewöhnen musste. Der Adjutant brachte mir aber bei, alles nach deutscher Art und Weise zu verrichten. Wie alle anderen Juden auch, erhielt ich für meine Arbeit weder Lohn noch Brot. Und trotzdem konnten mich viele um meine neue Arbeitsstelle beneiden, beispielsweise diejenigen, die den ganzen Tag unter freiem Himmel Reparaturarbeiten machen oder Schutt wegräumen mussten, oder auch die vielen Juden, die in verschiedenen deutschen Militäreinrichtungen schwere Zuchthausarbeit leisten mussten.

      Als ich einmal von der Arbeit heimging, kam mir ein Junge in Schuluniform entgegen. Er kam näher und trat mir plötzlich so kräftig in den Unterleib, dass ich zu Boden aufs Pflaster fiel. Ich fing an zu weinen – nicht so sehr aus körperlichem Schmerz als wegen der erlittenen Erniedrigung. Nachdem ich wieder aufgestanden war, wandte ich mich an einen Polizisten, der an der Straßenecke stand, um mich zu beschweren.

      „War er ein Jude oder ein Nichtjude?“, erkundigte sich der Polizist, offenbar gewillt, mich in Schutz zu nehmen.

      „Das ist doch einerlei, er ist ein Rabauke. Schauen Sie, dort ist er, dieser Junge da in Schuluniform“, rief ich entrüstet aus.

      Der Polizist lachte auf und erklärte:

      „Er kann mit dir machen, was er will – dir ins Gesicht spucken, dich erwürgen, das ist sein Recht. Er ist hier der Herr!“

      Mich packte das Entsetzen. In seinen Augen war ich weniger als ein Hund – ein Insekt, das jeder ohne jede Konsequenzen einfach zertreten konnte.

      Mein Arbeitgeber, der Offizier, führt ein gutes Leben. Jeden Tag kommen lettische Fräuleins zu ihm. Sie schließen sich ein, lachen und vergnügen sich.

      Eines Morgens, als ich zur Arbeit komme, treffe ich drei auffällig gekleidete junge Frauen an. Als sie mich sehen, fangen sie an zu lachen. „Die Jüdin ist zum Arbeiten gekommen? Na, heute wirst du eine Menge zu tun haben. Geh’ gleich mal zur Toilette, da wartet schon schöne Arbeit auf dich.“

      Lachend schlagen die Mädels die Tür hinter sich zu. Sie hatten die Toilette absichtlich dermaßen besudelt, dass ich es nicht zu beschreiben vermag. Das alles spurlos in Ordnung zu bringen, war einfach ekelhaft. Ein derart niederträchtiges Verhalten hatte ich nie zuvor erlebt.

      Eines