Soldaten versteckt halten. Kurz darauf tauchen mehrere bewaffnete Deutsche auf. Sie gehen in Richtung Kornfeld und führen bald eine Gruppe verletzter und erschöpfter Rotarmisten als Kriegsgefangene ab.
Solche Szenen wiederholen sich auch am folgenden Tag. Eine Gruppe Gefangener nach der anderen wird durch die Straßen getrieben. Wir blicken ihnen mitleidig nach, ohne den Blick von den Todgeweihten abzuwenden. Ich werde das Gefühl nicht los, dass uns dasselbe Schicksal bevorsteht.
Nach einigen Tagen wird bekannt gegeben, dass Juden keine Verbindung mehr zu Nichtjuden unterhalten dürfen – sie dürfen nicht mit ihnen in einer Schlange anstehen, keinen nichtjüdischen Arzt konsultieren oder anderweitig „arische“ Dienstleistungen in Anspruch nehmen. Lebensmittel können Juden fortan nur noch in einem speziell ihnen zugewiesenen Laden auf dem Marktplatz einkaufen.
Vor diesem Laden bilden sich jetzt jeden Tag lange Schlangen, doch mit Ware wird er schlechter beliefert als die übrigen Geschäfte – und so werden wir nie richtig satt. Dadurch kommt es vor, dass in der Schlange um den Platz und um die Zuteilung der Lebensmittel gestritten wird oder einfach nur aus heiterem Himmel. Die deutschen und einheimischen Passanten lachen dann hämisch, wenn sie das sehen, und machen spöttische Bemerkungen.
Einmal stand ein psychisch krankes jüdisches Mädchen in der Schlange – um die neunzehn, zwanzig Jahre alt. Sie konnte ihr Mienenspiel nicht kontrollieren. Es sah so aus, als würde sie Fratzen schneiden und ohne Grund lachen. Ihr Verhalten zog die Aufmerksamkeit der Deutschen auf sich. Sie beobachteten das Mädchen eine Weile, dann befahlen sie ihm, aus der Schlange hervorzutreten und zu singen und zu tanzen. Als sich das Mädchen weigerte, schlugen die Deutschen sie erbarmungslos mit ihren Peitschen. Das Mädchen fing an, bestialisch zu schreien, und die Deutschen bogen sich vor Lachen.
Jeden Tag werden von den Deutschen auf der Straße willkürlich jüdische Passanten, vorwiegend ältere Menschen, rausgegriffen und gezwungen irgendwelche Arbeiten zu verrichten. Meistens lassen sie sie wieder und wieder ein und dieselben Straßen, Höfe und Räume fegen …
Von Zeit zu Zeit veranstalten sie auch „Säuberungen“ in den Häusern wohlhabender Juden. Sie raffen Lebensmittel zusammen, stopfen sich die Taschen mit wertvollen Dingen voll und nehmen sich alles, was sie wollen. Hin und wieder verschleppen sie auch junge Jüdinnen in ihr Hauptquartier. Dort werden sie vergewaltigt, zusammengeschlagen und aus dem Fenster im ersten Obergeschoss geworfen. Um sich möglichst unattraktiv zu machen, waschen und kämmen sich die jüdischen Mädchen nicht mehr und tragen schmutzige Kleidung. So sahen die ersten Tage der Nazi-Okkupation in Varakļāni aus.
Eine offizielle Verordnung fordert, dass alle Bauern aus der Umgebung von Varakļāni sich am folgenden Sonntag auf dem Marktplatz versammeln sollen. Auch ich gehe hin, um zuzuschauen, verkleide mich aber so, dass mich niemand erkennen kann.
Dann fangen die Deutschen an, verschiedene Waren in die Menge zu werfen, hauptsächlich allerlei Kleinigkeiten – Zigarettenpäckchen, Streichhölzer, Kaffee, Nähzeug. Die Leute versuchen, die Sachen zu ergattern, reißen sie sich gegenseitig aus den Händen, manche prügeln sich und es kommt zu einem Handgemenge, Schreie ertönen – jemand wird sogar zu Tode getrampelt.
Die Deutschen schießen mehrfach in die Luft und verteilen nichts mehr. Die Menge murrt unzufrieden, die Situation ist bis aufs Äußerste aufgeheizt. Alle warten, dass noch etwas passiert.
Wahrscheinlich wollten sie damit ein Kennenlernen mit den Einwohnern organisieren und sich mit blumigen Reden als Befreier präsentieren. Mit Geschenken und Versprechungen wollten sie die Bevölkerung gewogen stimmen und gegen „Bolschewiken und Juden“ aufhetzen. Doch sie verloren die Kontrolle über die Menge, so dass die Reden ausblieben und die Veranstaltung scheiterte. Anschließend wurde verkündet, dass das Kennenlernen zu Ende sei und die Leute sich unverzüglich zu zerstreuen und nach Hause zu gehen hätten.
In der Stadt gehen Gerüchte um, dass alle Juden ermordet werden. Die lettischen Bekannten, Freunde, Nachbarn sprechen nicht mehr mit uns, gehen auf der Straße mit abgewandtem Kopf vorbei, als würde es uns nicht mehr geben. Die Freundschaft ist vorbei.
Alle Anzeichen deuten auf einen unausweichlichen Tod hin, und mich überkommt Verzweiflung und quälende Angst. Es ist unmöglich, an irgendetwas anderes zu denken, bei jedem Klopfen an der Tür oder einer fremden Stimme erbebe ich. Wahrscheinlich kommen sie uns jetzt holen, gleich ist es so weit …
Wir beschließen, uns zu vergiften, bevor man uns zur Ermordung führt. Die Tante hat ein wenig Rattengift, das sie für alle verteilt. Wir wollen nicht, dass Deutsche nach uns hier einziehen und sich wohlfühlen, deshalb zerkratzen wir die Möbel, reißen die Tapeten herunter, schütten Tinte auf den Teppich, verwüsten den gesamten Haushalt und schlachten die Hühner …
So vergehen mehrere Tage. Am 15. Juli wird bekannt gegeben, dass alle, die als Flüchtlinge nach Varakļāni gekommen sind, an ihren Wohnort zurückkehren können. Ich gehe aufs Polizeirevier, um mich zu erkundigen, ob es wahr sei, dass man nach Hause zurückkehren dürfe und ob ich eine Bescheinigung bekommen könne, die mir gestattet, nach Riga zu fahren. „Sie können fahren, wohin Sie wollen“, antwortet mir der Polizist, „aber wir stellen keinerlei Genehmigungen aus und übernehmen keine Garantie für die Fahrt.“
Ich bin fest entschlossen, sofort loszufahren, muss aber irgendwie zum Bahnhof kommen. Ich gehe zum örtlichen lettischen Fuhrunternehmer mit der Bitte, mich für einen guten Preis zum Bahnhof zu bringen, aber er lehnt kategorisch ab: Ariern sei es strengstens untersagt, mit Juden zu sprechen, geschweige denn sie zu befördern.
Ich muss also einen jüdischen Fuhrmann finden. Ich bekomme die Adresse eines Juden und wende mich mit derselben Bitte an ihn, doch er hat Angst zu fahren: Unterwegs könne man uns beide erschießen, er aber habe Frau und Kinder. Endlich gelingt es mir, einen anderen Juden, der ein Pferd besitzt, zu finden und zu überreden. Am Nachmittag bringt er mich zum nächstgelegenen Bahnhof – nach Stirniene, acht Kilometer hinter Varakļāni.
Auf dem Bahnhof sind bereits viele Menschen versammelt – Männer, Frauen, Kinder, offensichtlich gestrandete Flüchtlinge.
„Wie sind Sie denn hergekommen?“, frage ich einige.
„Genauso wie Sie“, wird mir unwillig geantwortet.
Sie sind verschlossen, und jede Familie bleibt für sich, von keinem ist Genaueres herauszubekommen. Bald fährt der Zug nach Krustpils ein. Die Menschen steigen ein, und der Zug fährt weiter.
Nicht weit von mir sitzen zwei Jüdinnen, Mutter und Tochter. Die Mutter weint, schnieft und jammert – möglicherweise wurde einer ihrer Angehörigen ermordet. Die Tochter versucht, sie zu beruhigen. Die neben ihnen sitzenden Lettinnen stellen unverhohlen ihr Missfallen zur Schau und setzen sich demonstrativ auf andere Plätze.
Am Abend erreichen wir Krustpils, doch der Zug fährt nicht weiter: Endstation. Der größte Teil der Fahrgäste bleibt jedoch im Wagen; erst morgen soll ein Zug nach Riga fahren.
Die Zeit verstreicht nur langsam. Ich schaue aus dem Fenster und sehe, wie im Bahnhofsgebäude Juden in einer Schlange am Fahrkartenschalter stehen und registriert werden. Mir scheint, dass einige von ihnen mit demselben Zug wie ich aus Varakļāni gekommen sind. Die Frage, was das alles zu bedeuten hat, lässt mir keine Ruhe. Ich steige aus dem Zug und gehe in Richtung Fahrkartenschalter, doch eine Frau in der Schlange bedeutet mir mit der Hand, ich solle nicht näherkommen. Unauffällig gehe ich weiter.
Eine meiner Mitreisenden kommt mir entgegen und sagt mit gedämpfter Stimme: „Weißt du, was ich gesehen habe?“ Und ohne eine Antwort abzuwarten, fährt sie fort: „Ich habe gesehen, wie Juden in einen Güterwaggon gepfercht wurden. Als sie drinnen waren, wurde er mit Brettern zugenagelt. Dort …“ Sie weist in die Richtung.
Tatsächlich steht dort ein mit Brettern vernagelter Waggon, der an zwei Stellen auf Deutsch mit Kreide mit „183 Juden“ beschriftet ist.
Als wir wieder im Zug sind, erzählt sie es auch den übrigen Reisenden. Ihre Worte jagen mir kalte Schauer über den Rücken, doch ich verrate mich nicht. Ich beginne ein ungezwungenes Gespräch mit meinen Sitznachbarinnen. Allmählich versiegen die Gespräche. Ich tue so, als sei ich müde, und