Frida Michelson

Ich überlebte Rumbula


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ist uns schwer ums Herz; wer weiß, wo, wann und ob wir uns überhaupt wiedersehen werden, wenn die Erde unter den Füßen brennt.

      Mein Bruder Schalom5 ist als Freiwilliger zur Roten Armee gegangen. Ich beschließe, für eine Weile in Varakļāni bei unseren Verwandten unterzuschlüpfen. Ich bin davon überzeugt, dass die Rote Armee rasch mit dem Feind fertig wird. Meine Schwestern Sarah6 und Necham wollen jedoch in Riga bleiben. Beim Abschied schärfe ich ihnen ein, dass sie, wenn die Front näher rückt, Riga sofort verlassen und nach Russland fliehen sollten.

       Varakļāni

      Ich habe noch eine Fahrkarte ergattert und es geschafft, einen Zug nach Varakļāni7 zu bekommen, zu unseren Verwandten, den Talvinskis. Wie es sich zeigt, fahren viele Menschen in diese Richtung. Der Zug ist dermaßen überfüllt, dass die Türen der Wagen offen bleiben – sogar auf den Stufen stehen Leute. Als der Zug losfährt und Geschwindigkeit aufnimmt, strömt frische Luft in den Wagen, aber auch Rauch von der Lokomotive. Es herrscht Gedränge, die Reisenden haben besorgte Gesichter. Keiner spricht, nur hin und wieder ist das Aufschluchzen von Kindern zu hören. An den Bahnhöfen steigt weder jemand ein noch aus. Ich werde von der Menge fast erdrückt, vom Gewicht des Koffers fangen Hüften und Rippen an zu schmerzen. Erst in Krustpils steigt endlich ein großer Teil der Fahrgäste aus, und ich kann mich hinsetzen.

      Meine Sitznachbarin schaut aus dem Fenster und überlegt laut für sich: „Ich glaube, hier steigen die Leute in einen anderen Zug um und fahren weiter nach Daugavpils oder Zilupe, um über die Grenze nach Russland zu gehen.“ Ohne jede Vorwarnung fährt der Zug plötzlich los und wir lassen den überfüllten Bahnhof von Krustpils hinter uns.

      Ich überlege, ob es die richtige Entscheidung war, nach Varakļāni zu fahren. Was passiert, wenn die Deutschen Lettland einnehmen und besetzen?

      So erreichen wir Stirniene8, und ich haste in Richtung Ausstieg. Am Bahnhof stehen Pferdegespanne bereit, um die Passagiere je nach Bedarf weiterzubefördern. Abends gegen acht treffe ich in Varakļāni ein.

      Die Talvinskis freuen sich über mein Kommen, doch auch hier wird die Wiedersehensfreude von dem Auftauchen deutscher Bomber über Varakļāni überschattet.

      Es vergehen Tage voller Unruhe. Auf der Hauptstraße sind Lastwagen und Kriegsgerät unterwegs – die Roten treten den Rückzug an.9 Unter ihnen sieht man auch Fahrzeuge der einheimischen Bevölkerung – alle ziehen in einem großen Strom gen Osten.

      Bald lässt der Verkehr nach, und ein Meer übermüdeter Fußgänger taucht auf – sowohl Rotarmisten als auch Zivilisten, Familien mit Kindern. Einige von ihnen frage ich, woher sie kommen und wohin sie gehen. Niemand weiß etwas Sicheres zu sagen, man vermeidet, direkte Antworten zu geben.

      Es ist klar, dass die Front näher gerückt ist und diese Soldaten als Letzte geblieben waren. Demnach rücken die Deutschen vor. Aufregung und Panik machen sich breit. Wir wissen nun, dass es hier nicht mehr sicher ist und man irgendwohin fliehen, sich retten muss. Alle packen ihre Koffer, andere machen sich schon auf den Weg, dennoch geschieht alles in großer Heimlichkeit. Niemand spricht darüber.

      Auch meine Tante Talvinska packt, von der allgemeinen Stimmung angesteckt, ihre Sachen. Ihr Sohn hat ein Pferd besorgt, spannt es ein und lädt allerlei Gebrauchsgegenstände auf. Ich sitze auf dem Wagen und warte auf die Übrigen. Die Tante kann sich einfach nicht von ihren Bekannten losreißen, die sie umzustimmen versuchen:

      „Wo wollen Sie denn hin? Wir sind doch alte Leute und haben niemandem Böses getan, uns wird man in Ruhe lassen.“

      Die Tante beginnt zu zweifeln. In diesem Augenblick kommt ein jüdisches Mädchen zu uns und berichtet, sie sei mit dem Zug nach Zilupe gefahren, aber nicht über die Grenze gekommen. Niemand von der großen Masse an Flüchtlingen sei nach Russland reingelassen worden, deshalb sei sie nach Varakļāni zurückgekehrt. Nun wir wissen nicht mehr, was wir tun sollen.

      Es vergeht eine Stunde, zwei … Wir erfahren, dass man mit Pferdegespannen nirgendwo mehr hinkommt und dass die Straßen unter dem Beschuss einheimischer Kollaborateure stehen würden.

      Meine Verwandten wollen nun außerhalb der Stadt bei einer befreundeten Bauernfamilie das Ende der Gefechte abwarten. Das Dörfchen liegt etwa drei Kilometer hinter Varakļāni. Dorthin fahren wir mit unserem Gespann. Gegen Abend sind wir da. Der Bauer führt uns ins Haus und hilft uns, uns für die Übernachtung einzurichten.

      Am nächsten Morgen verlassen wir das Haus, um uns ein Bild von der Lage zu machen. Aus dem nahen Wald kommt ein etwa zwanzig Jahre alter, breitschultriger Mann mit rosigem Gesicht und Bastschuhen an den Füßen. Ohne uns eines Blickes zu würdigen, tritt er an den Bauern heran. Sie gehen ein Stück abseits und unterhalten sich flüsternd. Danach sagt uns der Bauer, dass wir in die Stadt zurückkehren könnten – dort sei wieder alles ruhig und niemand würde uns behelligen.

      Der junge Mann wirkte wenig vertrauenerweckend, und wir sind nicht so richtig überzeugt, ob das stimmt. Der Bauer verspricht, selbst nach Varakļāni zu gehen, um sich einen Eindruck von der dortigen Lage zu machen. Mehrere Stunden später kehrt er zurück und bestätigt, dass in der Stadt tatsächlich alles friedlich sei, und rät uns, unverzüglich aufzubrechen.

      Zum Abschied werden wir noch üppig verköstigt, die Tante dankt dem Bauern, bezahlt großzügig für die Aufnahme, und wir kehren nach Varakļāni zurück. Tatsächlich ist dort alles ruhig.

      Ich schaue, wie es unseren Verwandten und Bekannten geht. Aber die meisten verstecken sich noch irgendwo. Einem meiner Cousins, Gūtmans, ist es offenbar noch gelungen, mit seiner Familie das Land zu verlassen. Ich erfahre, dass manche lediglich in die Dörfer der Umgebung geflüchtet sind und andere sich in Kellern versteckt haben. Insgesamt weiß keiner von dem anderen, jeder steht für sich allein.

      Am nächsten Tag tauchen die ersten Deutschen in der Stadt auf. Gerüchte gehen um, dass es sich um Fallschirmspringer handelt. Sie stoßen auf keinerlei Widerstand. Ganz im Gegenteil – es finden sich Einheimische, die sich anbieten, sie mit der Gegend vertraut zu machen, und ihnen zeigen, wo Juden wohnen. Die Deutschen beginnen sich in der Stadt einzurichten und machen auch Runden durch die Häuser der Juden, wobei sie Lebensmittel und nicht selten auch Schmuck fordern.

      Ein deutscher Soldat tritt an den Brunnen gegenüber von unserem Haus, und bevor er Wasser schöpft, ruft er uns zu:

      „Wenn das Wasser vergiftet ist und auch nur ein einziger Deutscher Schaden nimmt, werden Hunderte von Juden dafür mit dem Leben bezahlen!“

      Am nächsten Morgen besuche ich ein paar entfernte Verwandte, die gleich hinter der Stadtgrenze wohnen. Sie haben eine sechzehnjährige Tochter. Die Sonne scheint, und wir beide machen es uns vor dem Haus auf dem Rasen bequem. Ich versuche, die Anspannung der vergangenen Tage abzuschütteln, doch auf einmal wird unser Frieden von einer lauten Stimme auf Deutsch gestört: „Fräuleins! Fräuleins!“

      Das junge Mädchen wird schreckensbleich, schmiegt sich an mich und versteckt sich hinter meiner Schulter. Ein betrunkener Deutscher kommt auf uns zu gestolpert und fragt:

      „Sind Sie zu haben, Fräuleins?“

      Das arme Mädchen zittert noch mehr vor Angst, doch ich antworte ihm ruhig und kaltblütig:

      „Gehen Sie dort zu diesem Haus, da gibt es viele Frauen. Die werden Ihnen gefallen, glauben Sie mir, sie werden Ihnen sofort um den Hals fallen. Sie werden wirklich zufrieden sein –“, und zeige dabei auf ein großes Wohnhaus.

      Der Deutsche, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann, droht, er würde mit mir abrechnen, falls ich ihn belogen haben sollte, begibt sich aber dennoch in die angegebene Richtung. Wir laufen schnell ins Haus und verstecken uns auf dem Dachboden. Durch einen Spalt beobachten wir die Straße und warten ab, was nun passiert. Der Deutsche betritt tatsächlich das bewusste Haus, kommt aber bald wieder herausgewankt und schießt mit der Pistole in die Luft. Er sucht uns und fragt Passanten, wo wir geblieben sind. Jetzt zittere auch ich vor Angst. Erst als er die Suche abbricht und davonstiefelt, beruhigen wir uns einigermaßen.