C. Otto Scharmer

Theorie U - Von der Zukunft her führen


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erinnere mich, wie ich einmal einen Außendienstmitarbeiter eines US-Autokonzerns interviewte, der für Kundengespräche über Reparaturen und Rückrufaktionen zuständig war. Ich bat ihn, mir zu schildern, wie das funktioniere. Er sagte: »Na ja, es ist immer dasselbe.« Dasselbe was? »Es gibt immer dieselben drei Stadien«, erklärte er:

      »Stadium 1: Die Techniker im Unternehmen streiten ab, dass überhaupt ein Problem vorliegt. Sie behaupten, die Kunden lägen völlig falsch. Dann kommen immer weitere Informationen rein. Wenn es unmöglich wird, die Augen weiterhin vor dem Problem zu verschließen, wechseln sie in das 2. Stadium, in dem sie akzeptieren, dass das Problem existiert, es aber auf eine andere Abteilung schieben. Dann, nach einem weiteren längeren Zeitraum, in dem das Problem verheerende Ausmaße annimmt, sind sie allmählich bereit für das 3. Stadium: In Stadium 3 hören die Leute auf, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben und sagen: ›Okay, wir haben tatsächlich ein akutes Problem, das wir so schnell wie möglich lösen müssen. Wie stellen wir das an? Wer kann welchen Beitrag leisten?‹«.

      Zu dieser Abfolge der Stadien 1 bis 3 kommt es nicht nur in Autokonzernen, sondern auch in unseren großen öffentlichen Systemen. Praktisch alle großen Herausforderungen, vor denen unsere Welt steht, werden auf diese Weise gehandhabt. Doch in Anbetracht der Dringlichkeit dieser Herausforderungen stellt sich die Frage, wie wir den Prozess, der uns in Stadium 3 bringt, beschleunigen können. Wie kommen wir von Leugnen und Absencing zum Presencing?

      Der Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass die Linie zwischen Presencing und Absencing nicht zwischen uns und den anderen verläuft. Sie verläuft direkt durch jeden Einzelnen von uns. Sie repräsentiert den Abgrund, vor dem wir Tag für Tag, auf allen Ebenen, von Mikro bis Mundo, stehen. Angesichts des Abgrunds müssen wir innehalten und in den Spiegel schauen, wo wir erkennen, dass die Probleme im Außen widerspiegeln, was in unserem Innern ist. Deshalb müssen wir den inneren Standort, von dem aus wir handeln, verändern.

      Wie machen wir das? Indem wir in den Spiegel sehen und unsere Aufmerksamkeit und unsere wahre Intention wieder in Einklang bringen. Bild 4 zeigt, wie ein Teil dieser Neuausrichtung stattfindet.

       Beobachtung 4: Institutionelle Inversion

      Die vierte Beobachtung betrifft das Phänomen der Inversion oder Umstülpung. Tabelle V.1 fasst das gesamte vorliegende Buch auf einer einzigen Seite zusammen. Ich nenne das die Matrix der sozialen Evolution. (Ich danke meiner Kollegin und Freundin Claudia Madrazo für den Begriff.) Sie umreißt im Wesentlichen die Entfaltung der evolutionären Inversion.

      Wenn Sie die Matrix der sozialen Evolution verstehen, könnten Sie sich die Lektüre des restlichen Buches eigentlich sparen. Ich bin überzeugt, dass alle Menschen, die aufmerksam auf ihre Erfahrungen achten, diese Tabelle ausfüllen könnten. Doch die Essenz dieses Buches hat nichts mit einer einzelnen Person zu tun: Es geht darum, die tiefere soziale Grammatik unserer Zeit sichtbar zu machen, die evolutionäre Grammatik und Verlaufskurve der kollektiven Felder, die wir als Individuen, Gruppen, Institutionen und größere soziale Systeme hervorbringen. Wäre ich mutig, würde ich Sie nicht bitten, dieses fast unerträglich dicke Buch zu lesen, sondern Ihnen diese leere Matrix ohne jeden Text in die Hand drücken und Sie auffordern, sie selbst auszufüllen.

      Wie am Umfang dieses Buches zu erkennen, bin ich natürlich nicht so mutig. Doch Sie könnten das Ausfüllen der Matrix jetzt als Übung durchführen: Schauen Sie auf die Tabelle, und lesen Sie nur die Überschriften der beiden Hauptachsen. Nehmen Sie dann ein leeres Blatt Papier, übertragen Sie darauf die Überschriften und füllen Sie die leere Matrix aus. Wenn Sie aufmerksam auf alle subtilen Dimensionen Ihrer eigenen Erfahrungen geachtet haben, bin ich sicher, dass Sie am Ende etwas erhalten werden, das der Tabelle V.1 sehr ähnlich ist. Der Grund, warum ich so sicher bin, ist, dass ich zehn Jahre meines Lebens damit verbracht habe, genau das zu tun: Ich habe mich mit Erneuerern und Veränderungsakteuren in der Praxis getummelt, an den Frontlinien des sozialen, ökonomischen und kulturellen Wandels, und Fragen gestellt, Geschichten gehört und versucht, mir einen Reim auf alles zu machen.

      Ich hatte nie die Absicht, irgendetwas zu erfinden. Ich wollte einfach nur aufdecken, was bereits da war – sichtbar machen, was sich im Offensichtlichen verbirgt oder unter den Schichten konventioneller Verhaltensgewohnheiten versteckt. Nachdem einige sehr erfahrene Praktiker das von mir entwickelte U erstmals gesehen hatten, wurden sie ganz still und sagten dann zu mir: »Das ist erstaunlich, aber es ist nicht völlig neu. Ich wusste nur nicht, dass ich es weiß.«

      Ich wusste nur nicht, dass ich es weiß. Deshalb bin ich überzeugt, dass die meisten Menschen mit tiefen Veränderungs- oder kreativen Lebenserfahrungen diese Matrix selbst ausfüllen können. Doch bezweifeln viele, dazu in der Lage zu sein, weil sie nicht wissen, dass sie (schon) wissen. Aus diesem Grund werde ich das Buch nicht gleich an dieser Stelle beenden.

      Beginnen wir mit den beiden Achsen. Die horizontale Achse zeigt vier verschiedene Ebenen des Systems: Mikro (Individuen), Meso (Gruppen), Makro (Institutionen) und Mundo (Ökosysteme) zusammen mit den vier Handlungsweisen, die diesen Ebenen entsprechen: Aufmerksamkeit zuwenden (Mikro), kommunizieren (Makro), organisieren (Makro) und koordinieren (Mundo).

      Die vertikale Achse veranschaulicht die Ebene der Wahrnehmung oder des Bewusstseins, von der aus jede dieser Aktionen ausgeführt werden kann. Die Qualität der Ergebnisse (und Auswirkungen) in jeder Art von System ist abhängig von der Qualität der Wahrnehmung oder des Bewusstseins, das zur Ausführung dieser Aktionen genutzt wird. Die Form folgt dem Bewusstsein. Mit anderen Worten, die Qualität der Ergebnisse ist abhängig von der vertikalen Positionierung in der Matrix.

       Tab. V.1: Die Matrix der sozialen Evolution

      Während die horizontalen Ebenen leicht zu erklären sind (Mikro zu Mundo), scheinen die vertikalen Entwicklungsdimensionen auf den ersten Blick etwas komplizierter zu sein. Doch wenn man sich mit der Literatur befasst, von der Phänomenologie zur Entwicklungspsychologie, von Edmund Husserl zu Robert Kegan, Clare W. Graves, Don Beck, Susanne Cook-Greuter, Ken Wilber und Bill Torbert, und wenn man die eigene Erfahrung unter die Lupe nimmt, dann erkennt man, dass Menschen über all diese Traditionen und Fragestellungen hinweg zu den gleichen grundlegenden Unterscheidungen und Markern der vertikalen Entwicklung gekommen sind. Vertikale Entwicklung bezieht sich auf das entstehende Selbst. In der Matrix der sozialen Evolution habe ich die Entwicklungsstufen und Bewusstseinszustände auf vier elementare Modi vereinfacht, die sich tagtäglich vor unseren Augen abspielen (die Angaben in Klammern in der folgenden Aufzählung verweisen auf die entsprechenden Entwicklungsstufen des Spiral-Dynamics-Modells; Beck a. Cowan 1996, vgl. Kapitel 5 und Zeile 10 in Tabelle 20.1):

      1) Habituelles Bewusstsein: Inszenierung von Mustern der Vergangenheit – das Universum als meine mentale Projektion (rot: traditionell)

      2) Egosystem-Bewusstsein: Subjekt-Objekt-Bewusstsein – die Welt als eine Reihe von Objekten, die von mir selbst getrennt sind (orange: Leistung)

      3) Stakeholder-Bewusstsein: Das Universum als eine Reihe von Beziehungen, mit denen ich mich verbinden kann (grün: pluralistisch).

      4) Ökosystem-Bewusstsein: Das Universum als Feld, das sich selbst fühlt und erkennt und weiterhin – durch mich – im Entstehen begriffen ist (türkis: evolutionär).

      Der Blick in die Matrix ist wie der Blick in einen Spiegel der Gemeinschaft. Wir sehen die Muster, die wir gemeinsam gestalten, wenn wir – von Augenblick zu Augenblick – das soziale Feld hervorbringen.

      Was genau geschieht, wenn wir uns auf der Matrix nach unten bewegen (von Mikro zu Mundo)? Wir sehen Zweierlei. Zum einen