saßen sie um diese Erdhügel herum und wärmten sich gegenseitig. Der Regen hatte inzwischen aufgehört, und immer mehr Gefangene kamen aus ihren Höhlen. Mit stumpfem Blick sahen sie den Neuankömmlingen entgegen. Auf die Männer der Marschkolonne wirkten sie wie große Maulwürfe, die ein unerklärliches Ereignis an die Oberfläche gespült hatte.
Inzwischen hatte auch der Wind gedreht und trug der Marschkolonne den Geruch des Lagers zu. Es stank ekelerregend nach Latrine.
Georg und Krumbiegl schauten sich entsetzt an.
Plötzlich hörten sie aus der Spitze des Zuges eine Stimme laut rufen: »Ein Lied!«
Der Ruf wurde zunächst ignoriert, dann aber drängender wiederholt und weitergegeben.
»Ein Lied!«
Und dann ein weiterer Ruf, die gleiche Stimme: »Lili Marleen!«
Zuerst unsicher, vereinzelt und verschämt, dann lauter werdend und allmählich so etwas wie einen Chor bildend, nahmen die ersten Reihen der Gefangenen mit dursttrockenen Kehlen den Text und die Melodie auf, verfielen sogar in einen zögerlichen Marschtritt und passten ihn dem Rhythmus des Liedes an:
»Vor der Kaserne, vor dem großen Tor,
stand eine Laterne und steht sie noch davor …«
Das Lied wanderte einem Aufschrei gleich, wie ein Kanon, durch die endlose Reihe der Gefangenen. Ihre Körper streckten sich und sie sangen mit erhobenen Köpfen mit einer plötzlich aufkommenden Inbrunst das Lied von dem Mädchen, das vor der Kaserne auf ihren Liebsten wartet. Nun geriet auch das Lager in Bewegung. Immer mehr der elenden grauen Maulwürfe erhoben sich von ihren Hügeln, traten an die Stacheldrahtzäune, nahmen das Lied auf und sangen mit.
Ein Aufatmen ging durch die Reihen, als klar wurde, dass dieses Lager nicht ihr Ziel war, und der Anblick eines alten Fabrikgebäudes außerhalb des Lagers, durch Rotkreuzfahnen als Lazarett kenntlich gemacht, weckte in vielen der Leichtverwundeten, die seit der Gefangennahme noch keine Verbände gewechselt hatten, die Hoffnung, dort versorgt zu werden. Aber sie wurden enttäuscht. Der Marsch führte an dem Lager vorbei auf eine Brücke über die Ahr zu, die hier in den Rhein mündete, und weiter durch einen Ort, der den Krieg unbeschadet überstanden hatte.
Von den Bewohnern war niemand auf den Straßen zu sehen. Heruntergelassene Schaufensterrollos und vernagelte Fenster boten das Bild einer Geisterstadt. Ein vergessenes, inzwischen grau gewordenes und vom Regen durchnässtes Betttuch hing vom Balkon eines Hauses herab und bewegte sich klatschend im Wind. Doch hinter den Fenstern waren Menschen zu erahnen. Unsichtbare Augen blickten hinter Gardinen verborgen auf den endlosen Strom gebeugter Köpfe hinunter, der immer weiter anschwoll und fast die gesamte Breite der Straße einnahm. Georg nahm plötzlich eine Bewegung in einem Fenster im ersten Stock eines Hauses wahr. Eine alte Frau beugte sich heraus, rief etwas Unverständliches und warf den Männern einen wohl lang gehüteten Schatz zu: Äpfel! Georg hatte Glück, fing einen auf und winkte dankbar. Einen Augenblick lang trafen sich ihre Blicke, und die Frau winkte zurück. Für einen kurzen, verrückten Moment glaubte Georg, es sei seine Mutter, die ihm da gerade zugewunken hatte. Er steckte den Apfel behutsam, wie ein kostbares Geschenk, in die Manteltasche. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er und alle anderen im Zug seit drei Tagen nichts mehr gegessen hatten.
Der Ort war rasch durchquert, doch das Ende des Zuges passierte gerade erst die Ahrbrücke, als die Spitze der Marschkolonne vor dem scheinbar einzigen Zugang eines von einem doppelten Stacheldrahtzaun umgebenen Lagers anhalten musste. Ein Kommando GIs hatte sich trichterförmig davor aufgebaut. Dieses Lager erschien Georg wie eine genaue Kopie des ersten: Auch hier gab es keine Unterkünfte, auch hier lag eine graue apathische Menschenmasse auf dem Erdboden oder in Erdlöchern und war der Witterung schutzlos ausgeliefert. Aber dieses Lager besaß eine Besonderheit. Die Männer wollten zuerst ihren Augen nicht trauen, als sie langsam und gruppenweise durch das Tor geführt wurden. Direkt hinter dem Tor gab es tatsächlich kleine Mannschaftszelte! Davor standen oder saßen eng aneinandergerückt, so, als wollten sie sich gegenseitig Halt geben – Frauen! Sie waren alle noch jung und trugen die Uniformen der Luftwaffenhelferinnen. Mit grenzenloser Verlorenheit in den Augen blickten sie den Männern entgegen. Einige griffen sich mechanisch in die strähnigen, verfilzten Haare oder zogen ihre Uniformen zurecht, ein hilfloser Versuch, ihre Weiblichkeit zu retten, die dieser Ort mit seinen schon für Männer unwürdigen Verhältnissen ihnen genommen hatte.
Auf einmal kam Bewegung in eine der Frauengruppen. Die Männer sahen, dass ein GI ein halbes Brot auf sein Bajonett gesteckt hatte und es den Frauen nun durch den Zaun hindurch entgegenhielt. Zögernd ging eine der Frauen auf den Zaun zu und streckte die Hand nach dem Brot aus. Doch in dem Augenblick, in dem sich ihre Hand dem Brot näherte, stach der Soldat zu. Fassungslos blickte die junge Frau auf das Blut, das von ihrer Hand auf den Boden tropfte. Sie steckte ihre Hand zwischen die Oberschenkel und fiel weinend auf die Knie. Der GI schüttelte sich vor Lachen.
Zwei Frauen lösten sich aus der Gruppe und versuchten, die Verletzte wieder auf die Beine zu stellen, deren lautes Klagen in ein leises Wimmern überging. Eine andere Frau näherte sich dem Zaun, fasste in den Stacheldraht, rüttelte daran und schrie dem GI immer wieder Verwünschungen zu. Das Lachen verschwand von seinem Gesicht. Wütend und Unterstützung suchend blickte er zu den ihm am nächsten stehenden Kameraden hinüber, doch er erntete von ihnen nur Kopfschütteln. Der neben ihm stehende Soldat packte sein Gewehr, schob den Helden unsanft zur Seite und knurrte ihm ein paar drohende Worte zu. Dies kam keinen Augenblick zu früh, denn die erste Gruppe der Gefangenen aus der Marschkolonne hatte inzwischen Front gemacht und stand den GIs am Zaun drohend gegenüber. Nun fühlten sie sich sichtlich nicht mehr wohl in ihrer Haut. Die ersten wichen bereits zurück und spürten wohl schon den Stacheldrahtzaun in ihrem Rücken, während sie vergeblich auf einen Befehl zum Handeln in der bedrohlicher werdenden Situation zu warten schienen.
Georg hatte schon während des Marsches festgestellt, dass die Truppen, die dem Bewachungskommando angehörten, aus verschiedenen Truppenteilen zusammengewürfelt waren. Welcher Offizier welche Einheit kommandierte, war den GIs offenbar unbekannt. Aus einem Gefühl der Verunsicherung heraus senkten sie nun ihre Karabiner und hielten sie zögernd den auf sie zukommenden Gefangenen entgegen. Einer lud ihn sogar durch und hob ihn an die Schulter. Die Unruhe dieses Mannes war offensichtlich: Sein Atem ging stoßweise, und die Spitze seines Bajonetts vollführte tanzende Kreise vor dem Gesicht eines großen, mageren Gefangenen, der sich ihm näherte, anscheinend entschlossen, keine weiteren Demütigungen mehr hinzunehmen. Nervös legte der GI den Sicherungshebel zurück, als Georg den Bann brach.
»Krumbiegl, Randauer, bleibt stehen!«, kommandierte er. »Der Kerl drückt gleich aus lauter Angst ab! Er hat die Hosen gestrichen voll!« Er drückte seine Kameraden zurück.
Krumbiegl und Randauer reagierten unwillig, folgten aber schließlich der Aufforderung, und zu Georgs Erleichterung kam auch die ganze Front der Gefangenen langsam zum Stehen. Zwischen ihnen und den Bajonetten der GIs war weniger als eine Armlänge Raum. Der ganze Vorgang hatte nicht länger als eine Minute gedauert.
Erst jetzt begriff das Begleitkommando, dass sich hier so etwas wie eine Revolte angebahnt hatte. Trillerpfeifen schrillten durch die Luft, das große Tor wurde geschlossen, und die Gruppe der aufgebrachten Gefangenen wurde von den Nachfolgenden getrennt. Ein Offizier hatte die Situation erkannt und versuchte sie nun unter Kontrolle zu bringen, indem er die Gefangenen von einem herbeigepfiffenen Eingreifkommando umstellen ließ. Einige der Soldaten prügelten sofort erbarmungslos mit Gewehrkolben auf die nächststehenden Gefangenen ein. Diese bargen die Köpfe zwischen den Schultern und versuchten, die auf sie niedersausenden Stöße und Schläge mit ihren Unterarmen zu parieren. Am Rande nahm Georg dennoch wahr, wie ein GI sich angewidert abwandte und sich plötzlich Auge in Auge mit der Frau sah, die den Übeltäter so wild beschimpft hatte. Sie klammerte sich noch immer an den Stacheldraht, und in ihrem Blick lag eine Mischung aus Angst, Wut, Verlorenheit und Hoffnungslosigkeit. Der Soldat wich ihrem Blick aus, und seine Mundwinkel zuckten unkontrolliert, als er sich abwandte.
Die Gefangenengruppe wurde eng eskortiert auf einen langen und breiten Hauptweg geführt, der sich schnurgerade irgendwo im Nichts verlor. Rechts und links des Weges erstreckten sich, wie im ersten Lager, einzelne voneinander getrennte Gevierte