stecken uns hier wie Karnickel in kleine Käfige!«, empörte sich Randauer.
Später sollten sie erfahren, dass die einzelnen Gevierte tatsächlich im Sprachgebrauch der Besatzungstruppen cages genannt wurden.
Georgs Schritte wurden schleppender. Er hatte einen heftigen Schlag gegen die linke Hüfte erhalten, der die ganze Seite allmählich taub werden ließ. Er verlagerte sein Gewicht auf die rechte Seite, zog das linke Bein nach und wünschte sich nichts sehnlicher, als sich irgendwo hinsetzen und ausruhen zu können. Aber sie wurden unerbittlich weitergetrieben. Krumbiegl und Randauer nahmen ihn zwischen sich und stützten ihn.
Die Gruppe marschierte immer weiter an leeren Drahtverhauen vorbei. Dass sie so weit in den unbelegten Teil hineingeführt wurden, konnte nur bedeuten, dass man sie von den anderen Gefangenen trennen wollte, weil man sie als Störenfriede eingestuft hatte. Vor einem der letzten Gevierte, nicht größer als zwei Fußballplätze, wurde die Kolonne angehalten. Zwei Soldaten öffneten einen schmalen Durchgang in dem Verhau.
Nachdem die GIs den Drahtverhau wieder verschlossen hatten, waren die Gefangenen unter sich. Georg versuchte ihre Zahl zu überschlagen. Weniger als zweihundert Mann, schätzte er, der überwiegende Teil bestand aus Mannschaften. Er ließ seinen Blick über die noch unschlüssig herumstehenden Männer schweifen, um festzustellen, wie viele Unteroffiziere außer ihm selbst es unter ihnen gab, und entdeckte vier. Offiziere und Portepee-Unteroffiziere waren schon kurz nach der Kapitulation der Truppe von den Mannschaften und Unteroffizieren getrennt worden. Oberleutnant Ferner, seinen Kompaniechef, hatte Georg nach der Trennung noch winken sehen, bis er in der Menge verschwunden war.
Georgs ganzes Fühlen und Denken begehrte schon jetzt gegen die zu erwartende Enge, das Ausgeliefertsein an Kälte und Nässe, Hunger und Durst und den Gestank der Latrinen auf. Aber es galt vor allem, eine gewisse Ordnung für das kleine Lager herzustellen, damit das Leben unter diesen Bedingungen für alle erträglich wurde. Wieder sah er zu den Männern hinüber, die unschlüssig herumstanden, sah, wie der Mund eines jeden einzelnen von ihnen stumme Verwünschungen formte, sah die Resignation in den hängenden Schultern. Einige hatten sich schon auf die nackte Erde gehockt und versteckten ihre Köpfe in den Händen. Manche dieser Hände verbargen ein verhaltenes Zucken, das immer heftiger wurde und allmählich die gebeugten Schultern erreichte. Georg musste sich abwenden, um nicht selbst laut loszuheulen.
Einen Teil der Männer kannte er. Sie hatten alles, was ein Krieg an Qualen bereitstellen kann, erlebt. Sie hatten gehungert, gefroren, Schmerzen ertragen, hatten Kameraden still, wimmernd und laut schreiend sterben sehen. Sie hatten das getan, was alle Soldaten aller Armeen der Welt taten. Sie hatten über ihre Vorgesetzten geschimpft, sich über schlechtes Essen beschwert, über zu wenig Schlaf geklagt, sich über gnadenlose Schikanen und ständiges Wacheschieben empört, ihre Frauen und Mädchen, ihr Zuhause vermisst und über alles, was einen Mann ärgern kann, geflucht. Und nun saßen sie hier. Verheizt und belogen von dem, auf den sie den Treueeid hatten ablegen müssen, von den Siegern zusammengetrieben wie Schlachtvieh, rechtlos und von Gott und der Welt verlassen.
Der Schmerz an seiner Hüfte unterbrach seine Gedanken. Unterhalb eines gerade verheilten Narbengewebes, das von einem Durchschuss herrührte, fühlte er ein hühnereigroßes beulenartiges Gebilde. Er ließ sich langsam auf den Boden sinken und beschloss, den Schmerz zu ignorieren. Der Boden war von dem morgendlichen Regen noch nass. Aber das machte ihm im Augenblick nichts aus. Erst einmal sitzen und ausruhen!
Wie oft hatten sie während der Kämpfe auf nassem Boden gelegen, waren durch modrig-glitschiges Laub gekrochen, hatten in Bachläufen Deckung gesucht und im Schnee geschlafen, dabei immer gewärtig, von irgendeinem heimtückischen Geschoss getroffen zu werden. Aber es war immer abzusehen gewesen, wie lange man der Nässe ausgesetzt sein würde. Irgendwie hatte es irgendwo immer ein Feuer gegeben, an dem sich die geschundenen Leiber ihr Leben wieder zurückholen konnten. Georg hatte zwar unterwegs einige kleine Feuer gesehen, aber in ihrem Käfig gab es kein Brennmaterial. Man müsste die verdammten Zäune verbrennen, dachte er und überlegte dabei, wie lange wohl der Pfosten ihm gegenüber brennen würde. Der Pfosten gehörte zum inneren Zaun des Doppelzauns, der das gesamte Lager umgab. Drei Meter vor diesem Zaun markierte ein kniehoch gespannter Draht den Sicherheitsabstand, den die Gefangenen einzuhalten hatten.
Sein Zeitgefühl sagte ihm, dass es später Vormittag sein musste und es bis zum Mittag nicht mehr weit war. Überprüfen konnte er dieses Gefühl nicht, weil ihm kurz nach der Gefangennahme seine Uhr von einem GI abgenommen worden war. Den anderen war es nicht anders ergangen. Alles, was irgendeinen Wert hatte, Uhren, Zigarettenetuis, Orden, ja sogar Eheringe, war ihnen unter Drohungen abgenommen worden. Nur mit dem Taschenmesser hatte er es geschickter angestellt. In einem Augenblick der Unruhe hatte er es zwischen seine Stiefel fallen lassen und dann mit dem Absatz in den aufgeweichten Boden gedrückt. Nach der Filzorgie hatte er es dann unbemerkt in seinen Strumpf stecken können. Es war ein schönes, starkes Messer mit zwei Klingen und einem Korkenzieher. Das Messer, die Fotos und die Briefe waren das Einzige, was ihm noch aus einem Leben geblieben war, das weit weg zu sein schien. Einer Welt, der er entrissen worden war, obwohl er sie nie hatte verlassen wollen, einer Welt, in der es für ihn nie Einsamkeit, Verlorenheit, Hunger und Durst, Schmerzen und Kälte gegeben hatte, in der Geborgenheit, Zuneigung und Wärme das Leben ausgemacht hatten. All das, was jener anderen Welt angehörte, passte jetzt in eine einzige Hand.
Georg blickte über den Doppelzaun, den dahinter vorbeifließenden Rhein und den am jenseitigen Ufer aufragenden Gebirgsstock in die Richtung, in der er seinen Heimatort vermutete. Es konnten nicht mehr als hundertundfünfzig Kilometer bis zum Lennebogen sein. Er versuchte sich vorzustellen, wie sich das Leben dort jetzt abspielte. Die letzten Briefe, die sie ausgetauscht hatten, datierten noch von vor Weihnachten. Da hatten sie sich noch alle gegenseitig das Wichtigste, was man sich in dieser Zeit wünschen konnte, gewünscht – zu überleben und wieder zusammen zu sein. Nur hundertundfünfzig Kilometer hinter dem Stacheldraht trennten sie von der Erlösung aus der Ungewissheit!
Schwerfällig stand er auf und humpelte auf die Männer seiner Kompanie zu. Aus Gewohnheit waren sie zusammengeblieben und hielten sich von den anderen Gefangenen ein wenig abseits. Die Gruppe mit ihren vertrauten Gesichtern und Gewohnheiten bot in dieser Situation der Ungewissheit so etwas wie Sicherheit. Georg überschlug die Anzahl der Männer aus seiner ehemaligen Kompanie, die noch übrig waren. Einundzwanzig Männer hatten es bis hierher geschafft. Der große Rest war entweder gefallen oder lag mehr oder weniger tot in einem Klosterlazarett irgendwo in der Eifel. Die meisten der Überlebenden waren schon so lange dabei wie Georg, aber ein paar von ihnen, wie etwa der Älteste der Kompanie, ein schon über Vierzigjähriger, waren ihr erst kurz vor der Invasion zugeteilt worden. Georgs Blick verharrte einen Moment lang auf diesem Mann. Er war still und in sich gekehrt, kam von irgendwo aus dem Ruhrgebiet, und von ihm wusste er nur, dass er sich um seinen sechzehnjährigen Sohn halb krank sorgte. Seit sie in den Winterkämpfen die ersten HJ-Kindersoldaten gesehen hatten, war er ein Nervenbündel. Was ihn so quälte, war die Befürchtung, dass auch sein Sohn in das letzte Aufgebot gesteckt worden sein könnte. Wortkarg war er schon von Beginn an gewesen, aber nun sprach er fast gar nichts mehr. Zuweilen und immer ganz ohne Vorwarnung hatte Georg bei ihm aber so heftige Zornesanfälle erlebt, dass er ihn aus heiklen Situationen möglichst herauszuhalten versucht hatte, um ihn, aber auch die anderen zu schützen.
»Klümper«, rief Georg dem Mann zu, und dann zu den anderen gewandt: »Leute, kommt doch mal alle zusammen! Wir müssen uns jetzt überlegen, wie das hier um uns herum weitergehen soll. Ihr habt die Zustände im ersten Lager mitgekriegt. Wir sollten uns hier und jetzt überlegen, wie wir uns hier organisieren können. Dazu müssen wir zusammenbleiben und uns gegenseitig helfen und beschützen. Wenn dieser Käfig erst einmal vollgestopft ist, haben wir hier die Hölle!«
Die Männer blickten sich an, einige nickten und bildeten dann zögernd einen lockeren Halbkreis um Georg. Das taten sie ganz automatisch, so, wie sie es während des ganzen Krieges getan hatten, wenn während der Kampfhandlungen ein Einsatz besprochen worden war. Sie waren wie eine Herde Schafe ohne Hirten und darum ganz froh darüber, dass jemand die Initiative ergriff und sie zu Beginn einer wahrscheinlich unabsehbaren Zeit des Wartens und Untätigseins mit Fragen zu beschäftigen versuchte, die ihrer aller Dasein in diesem Stück Niemandsland