Die harten Linien waren nur noch zu erahnen oder hatten sich aufgelöst. Dort, wo sie nicht mehr zu sehen waren, hoben sie die Grenze zur Außenwelt auf und erzeugten die Illusion, durch den Zaun hindurchgehen zu können. Das Ostufer des Rheins war als dicker schwarzer Balken in dem Grau auszumachen. Es erhob sich steil und endete als hochgehobene Fläche, auf der ein helleres Grau auflag. Irgendwo im Nordwesten versteckten sich die Ahrberge in dem Dunstschleier. Davor bohrten sich die Türme einiger hoch gelegener Kirchen und Schlösser seltsam verdreht in die Nebelfetzen.
Sie saßen jetzt schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängend, eng zusammengedrängt und sich gegenseitig wärmend, auf den ausgebreiteten Zeltbahnen. Die Zeltbahnen boten ihnen zwar einen trockenen Sitz, sie konnten aber nicht verhindern, dass die feuchte Kälte des Bodens durch sie hindurchkroch und sich in ihre Kehrseite krallte.
Der Tag ging übergangslos in eine von grauen Wolkenmassen gefärbte Dämmerung über, die ihre erste Nacht im Lager ankündigte. Der feine Nieselregen drang allmählich durch die tief heruntergezogenen Mützen, fand seine Bahn durch hochgeschlagene Mantelkrägen und ließ die Rücken der Gefangenen frösteln. Aber langsam wurde ihnen wärmer. Das dichte Aufeinanderhocken erzeugte eine Wärme, die die Feuchtigkeit, die von ihren Körpern und aus ihrer Kleidung aufstieg, in einer nebelhaft verdampfenden Dunstschicht über ihnen sichtbar machte. Zu dem sauren, pelzigen Geschmack des Hungers auf ihren Zungen schmeckten sie jetzt ihre eigene abgestandene Wärme, die sie an den seifigen Geschmack dampferfüllter Waschküchen erinnerte. Nur der Geruch war anders.
Aber es gab etwas, das selbst hier Trost spenden konnte, jedenfalls für Georg. Seine Hand fuhr in die Uniformjacke und holte eine von einem Einkochglasgummi zusammengehaltene lederne Brieftasche hervor. Sie war ziemlich dick, ohne das Gummiband wäre der Inhalt herausgequollen. Er öffnete sie nicht, um den kostbaren Inhalt nicht nass werden zu lassen. In diesem Augenblick genügte es ihm, die Brieftasche nur zu umklammern und festzuhalten. Die Briefe darin waren dem Datum nach geordnet und waren von seinen Eltern und von Marie geschrieben worden. Die meisten, es waren auch die längsten, waren von Marie. Georg nahm sich vor, jeden Abend, wenn es nicht regnete, einen der Briefe zu lesen. Er kannte sie zwar alle schon auswendig, aber sie würden ihm das, was er am meisten vermisste, auch an diesen trostlosen Ort holen. Seine Finger umschlossen die Brieftasche mit hartem Griff, fanden und verschränkten sich und führten die Hände unwillkürlich zum Gebet zusammen. Ungeordnete Gedanken, gestammelte Wortfetzen schossen ihm plötzlich durch den Kopf, bildeten Worte, Sätze, bis sie sich schließlich in einem Gebet wiederfanden. Erst als ihm die Bitte einfiel, Gott möge den verdammten Krieg endlich beenden, wurde ihm bewusst, dass für ihn und seine Kameraden hier der Krieg vorbei war. Anderswo im Reich wurde aber noch gekämpft. Bis vor ein paar Tagen waren in den Nächten die von Nordwesten einfliegenden Bombergeschwader zu hören gewesen. Jetzt, wo der Himmel sich wieder zugezogen hatte und die Bomberpiloten keine freie Sicht mehr hatten, waren die Nächte zwar wieder ruhig, aber der Krieg schien nur zu schlafen und neue Kräfte zu sammeln.
Georg atmete tief durch und fühlte sich auf eine seltsame Art erleichtert. Er hatte sich wieder dem anvertraut, den seine Mutter und Pfarrer Hülsenbeck ihm immer als letzte Zuflucht empfohlen hatten. Er hatte sich dem anvertrauen können, von dem er nicht wusste, ob er ihm überhaupt zugehört hatte oder ob er überhaupt da war – und wenn er da war, ob er für ihn da war.
Plötzlich war auch das Gefühl wieder da, das ihn mit Unterbrechungen schon seit ein paar Tagen immer wieder überkam. Es kam aus der Körpermitte und machte sich in allen Gliedern bemerkbar. Eine dumpfe Faust schien seinen Magen zu umklammern. Hin und wieder spürte er ein Stechen und Ziehen, das bis in die Gesäßmuskeln und Oberschenkel kroch und dort wütend verharrte. Dann wieder kroch dieses Gefühl nach oben in den Brustkorb, engte ihn ein und füllte seine Mundhöhle mit einem eigenen Geschmack. Es war der Geschmack des Hungers. Er lag auf seiner pelzigen Zunge und schmeckte nach fadem Speichel. Wann hatte er eigentlich zum letzten Mal richtig gegessen? Er erinnerte sich nur noch an eine Hand voll Kekse und an Haferflocken, die er trocken heruntergewürgt hatte. Da fiel ihm der Apfel ein, den ihm heute Morgen – war das wirklich erst heute Morgen gewesen? – eine alte Frau zugeworfen hatte. Georg erhob sich langsam und kramte den Apfel hervor. Es war ein schöner Apfel, und es war ein großer Apfel! Er rieb ihn an seinem Mantel, hob ihn an die Nase, nahm den Duft wahr und biss vorsichtig hinein, fast ehrfürchtig, so, als wolle er ihm nicht wehtun. Er spürte, wie der Saft des Fruchtfleisches den Kampf mit dem Geschmack des Hungers aufnahm – und gewann. Langsam kauend kostete er diesen ersten Bissen aus und ließ sich Zeit mit dem zweiten. Seine Zunge spürte lange der frischen Säure des Apfels nach und versuchte den Geschmack festzuhalten. Bedächtig verzehrte er ihn, nichts blieb am Ende übrig. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so lange an einem Apfel gegessen zu haben.
Allmählich, nachdem jeder nun eine einigermaßen erträgliche Sitzposition gefunden hatte, wich die Unruhe aus dem zusammengedrängten Gefangenenhaufen, und auch Georg merkte, dass ihm die Augen zufielen. Einmal wurde er wach, weil er das Gefühl hatte, ein großer Stein läge auf seiner Brust und drücke ihn zu Boden. Aber es war nur Krumbiegls Kopf, der auf seiner Schulter ruhte. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Georg beneidete ihn und wagte sich nicht zu bewegen, um ihn nicht aufzuwecken. Um auch wieder einschlafen zu können, schloss er die Augen. Aber diesmal wollte es nicht gelingen. Er versuchte sich etwas Erfreuliches ins Gedächtnis zu rufen, aber wann hatte es so etwas zuletzt für ihn gegeben? Langsam drängte sich dann ein Gesicht in seine Vorstellungen. Marie! Sie lachte ihn an. Der Zopf war gelöst, und das blonde Haar fiel ihr in langen weichen Wellen auf die Schultern. Ihr Gesicht schob sich dem seinen entgegen, und er sah deutlich die Grübchen auf ihren Wangen und die kleine Narbe auf dem Nasenrücken. Es war während des Heimaturlaubs gewesen, dass er sie so gesehen hatte, bei ihrem letzten Beisammensein. Am nächsten Morgen war er wieder zurück in die Normandie gefahren.
Es war ein schöner Tag im Mai, der Abend war mild und hell. Sie warteten, bis die Lichter in den Häusern erloschen waren, dann trafen sie sich am Tor der alten Scheune der von der Beekes. Als Georg das Tor einen Spalt breit öffnete, quietschte das verdammte Ding. Sie hielten den Atem an, aber in den Häusern regte sich nichts, und sie huschten hinein. Georg nahm eine Petroleumlampe vom Haken, zündete sie an und drehte den Docht fast ganz herunter. Das flackernde Licht erhellte den Raum nur spärlich, es zeigte den kleinen Leiterwagen mit hochgestellter Deichsel, einige ineinandergestapelte Weidenkörbe, von den Balken herabhängendes Tauwerk und das fast gänzlich geleerte Heulager im Hintergrund. Ihre Schatten auf dem Boden in der trüben Beleuchtung verschwammen und gingen unmerklich in die Dunkelheit über.
Marie schmiegte sich aufgeregt an Georg. Er nahm ihren Kopf in seine Hände und küsste sie. Dabei kam ihm der Duft frisch gewaschener Haare in die Nase. Sie schlang ihre Arme um Georgs Nacken und zog ihn fest an sich. Er spürte durch den dicken Uniformstoff hindurch ihre kleinen festen Brüste und das aufgeregte Pochen ihres Herzens. Langsam, sich aneinander klammernd, gingen sie auf das Heulager zu. Georg zog die Pferdedecke von der Trennwand herunter und breitete sie auf der Heuunterlage aus.
Als sie sich niederließen, spürte Georg Maries heißen Atem an seinem Hals. Sie wandte ihm den Kopf zu, und er sah trotz des trüben Lichts ihre Augen feucht schimmern. Er küsste ihre Tränen fort, und sie hielten einander lange fest umschlungen. Seit sie in die Scheune geschlichen waren, hatten sie noch kein Wort geredet. Sie mussten auch nicht reden, sie wussten ja, was sie füreinander waren und empfanden, und sie wussten, warum sie hierhergekommen waren. Mit leiser Stimme, die beherrscht klingen sollte, brach Marie schließlich das Schweigen. Sie bat ihn, auf sich aufzupassen, sie nicht zu vergessen und gesund zurückzukommen. Er versuchte sie ebenso leise zu beruhigen und erklärte ihr, dass dort, wo er stationiert war, wohl nichts mehr passieren könne. Die Alliierten hätten wohl nach der Schlappe von Dieppe eingesehen, dass eine Landung in der Normandie für sie keine Aussicht auf Erfolg haben würde.
Marie ließ sich gerne beruhigen, spürte aber hinter seinen Worten doch eine gewisse Unsicherheit. Wie von selbst begannen sie einander die Kleidung zu öffnen. Die Knöpfe seiner Uniformjacke widersetzten sich zuerst Maries Bemühungen. Georg hatte leichtere Arbeit mit ihrem Kleid. Als er es ihr über den Kopf zog, bemerkte er erst, dass sie nichts darunter trug. Er schälte sich hastig aus dem Rest seiner Kleidung. Sie legten sich zueinander, hielten sich umschlungen und spürten nun eine ganz andere Wärme des anderen.