nicht ganz geheuer gewesen war, hatte sie dafür gesorgt, dass keine Panik aufgekommen war, dass sich keines der Kinder gefürchtet hatte. Jetzt trat die Heimleiterin ans Fenster, um noch einmal in den weitläufigen Park zu sehen. Der riesige Regenwassersee war verschwunden, doch die Wege glänzten noch immer nass in der Dunkelheit. Man hörte, wie das Wasser von den vielen alten Bäumen, die ringsum das ehemalige Herrenhaus standen, tropfte. Doch was war das? Zu so später Stunde kam noch ein Auto über die Zufahrtsstraße zum Haus?
Frau Rennert trat ins Zimmer zurück, um hastig nach ihrer Brille zu greifen. Tatsächlich! Eben rollte der Wagen auf den Parkplatz. Im Schein der Laternen konnte sie erkennen, dass es sich um ein Polizeifahrzeug handelte. Ganz deutlich war das Blaulicht auf dem Dach zu sehen. Inständig hoffte die mütterliche Frau in diesem Moment, dass ihre Schützlinge bereits schliefen. Denn dieser Besuch würde neues Aufsehen erregen. Dann würde es möglicherweise die halbe Nacht hier keine Ruhe geben. Eilig knöpfte Frau Rennert ihre Bluse wieder zu. Sie dachte nicht mehr an ihre bleierne Müdigkeit, sondern überlegte, was wohl der Grund dafür sein mochte, dass die Polizei noch so spät kam. Erstaunlich flink lief sie die Treppe hinunter. Ob das Unwetter in Sophienlust irgendwo Schaden angerichtet hatte?
Angstvoll schloss Frau Rennert das Portal auf. Doch was sie dann im Schein der Laternen sah, ließ sie alle Sorge um den Besitz von Sophienlust vergessen. Da kam ein uniformierter Polizist mit langen Schritten durch den jetzt nur noch schwach rieselnden Regen. Er trug etwas in Decken Gehülltes auf dem Arm.
Frau Rennert wusste sofort, dass es ein Kind war, das man in wärmende Decken gehüllt hatte. Nur ein Kind wurde so behutsam und vorsichtig getragen.
»Mein Gott«, murmelte die Heimleiterin. Die Tatsache, dass ein Polizist dieses Kind brachte, sagte ihr schon, dass es allein, ohne Angehörige sein musste. Was mochte wohl geschehen sein?
Frau Rennert trat etwas zurück, um den Fremden ins Haus zu lassen.
»Darf ich?«, keuchte er. Das Regenwasser lief ihm übers Gesicht. Er schien völlig durchnässt zu sein.
»Kommen Sie herein.« Frau Rennert knipste die große Deckenlampe in der Halle an. In deren Schein erkannte sie das Grauen in den dunklen Augen des Mannes. Es musste etwas Furchtbares geschehen sein. Etwas, was selbst einem Mann, der daran gewöhnt war, Zeuge schlimmer Vorfälle zu werden, Schrecken einflößte.
»Ich bin Hans Strasser und gehöre zum Verkehrsstreifendienst der Maibacher Polizei. Ich habe hier ein kleines Mädchen und möchte Sie bitten, das Kind aufzunehmen, bis …« Strasser zog ein wenig die Achseln hoch, »… ja, bis sich Angehörige melden.«
Frau Rennert machte eine einladende Handbewegung zu der Sesselgruppe hin. Normalerweise fällte sie nie eine Entscheidung, ohne Denise von Schoenecker, die das Kinderheim Sophienlust für ihren Sohn Nick verwaltete, zuvor um Rat zu fragen. Doch jetzt wollte sie die Familie von Schoenecker, die auf dem benachbarten Gut Schoeneich wohnte, nicht in ihrer wohlverdienten Nachtruhe stören.
»Ich habe schon mehrfach von Sophienlust gehört und erfahren, dass es die Kinder hier besonders gut haben. Deshalb bringe ich die Kleine hierher und nicht ins Maibacher Waisenhaus. Ich hoffe doch, Sie haben Platz?« Hans Strasser sah Frau Rennert bittend an. Irgendwie hatte man den Eindruck, er tue in diesem Fall mehr als seine Pflicht.
»Wir haben immer Platz für dringende Fälle«, antwortete die Heimleiterin. »Ich bin überzeugt, dass Frau von Schoenecker nichts dagegen hat, wenn das kleine Mädchen bei uns bleibt.«
Dunkel erinnerte sich Hans Strasser an eine wunderschöne junge Frau, die er vor einigen Jahren auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung in Maibach kennengelernt hatte: Denise von Schoenecker.
»Sophienlust gehört ihrem kleinen Sohn, nicht wahr?«, erkundigte er sich.
»Oh, unser Nick ist inzwischen schon fünfzehn und im Begriff, sich in einen sehr selbstbewussten jungen Mann zu verwandeln. Seine Urgroßmama hat ihm Sophienlust vererbt und bestimmt, dass ein Heim für elternlose Kinder aus dem Gut werden soll.«
Sehr behutsam setzte Hans Strasser jetzt seine Last in einen Sessel und öffnete die Decke.
Ein völlig durchnässtes kleines Persönchen kam zum Vorschein. Es hatte langes blondes Haar, große dunkle Augen und ein hübsches Gesichtchen. Wilde Angst und panisches Entsetzen spiegelten sich in den ausdrucksvollen Kinderaugen. Das war so auffällig, dass Frau Rennert unwillkürlich erschrak. Sie hatte schon viele verängstigte Kinder in Sophienlust gesehen, doch noch nie war die Furcht in einem Kindergesicht so grenzenlos gewesen.
Die mütterliche Frau strich liebevoll über den blonden Scheitel. »Hab keine Angst«, flüsterte sie. »Hier geschieht dir nichts. Wir helfen dir, kleine …« Fragend sah sie auf den Verkehrspolizisten.
»Anja heißt sie. Anja Möllendiek«, half er rasch aus.
Das Kind presste beide Ärmchen vor das Gesicht und verdeckte damit die Augen. Der kleine Mund war fest geschlossen. Kein Laut kam über die blassen, blutleeren Lippen.
»Liebe kleine Anja, du darfst nicht traurig sein. Morgen wirst du die Kinder kennenlernen, die in Sophienlust zu Hause sind.«
Voll Zärtlichkeit legte Frau Rennert den Arm um das kleine verängstigte Geschöpf. Alles in ihm schien voll Abwehr zu sein. Seltsam steif und aufrecht saß die Kleine da. Erstaunlich für ein Kind, das vermutlich nicht älter als fünf Jahre war.
In diesem Augenblick kam Schwester Regine, die auf Sophienlust die Jüngsten betreute, die breite teppichbespannte Treppe herab. »Ich hörte Stimmen und wollte nachsehen«, entschuldigte sie sich ein wenig verlegen.
»Sie kommen gerade richtig, Schwester Regine«, meinte Frau Rennert. »Wir haben einen neuen Gast, der ganz durchgefroren ist. Ich glaube, ein warmes Bad und danach ein kuscheliges Bett wären wohltuend.«
»Tatsächlich. Und was für ein hübsches kleines Mädchen!« Schwester Regine, die niemals genug Kinder um sich haben konnte, war sichtlich erfreut. »Ich werde unseren kleinen Gast sofort versorgen«, meinte sie und nahm den neuen Schützling auf den Arm.
Die Heimleiterin, die Anja bei Schwester Regine in den besten Händen wusste, nickte zustimmend. »Darf ich jetzt etwas über die näheren Umstände erfahren?«, wandte sie sich an Hans Strasser, sobald die Kinderschwester mit der Kleinen im Obergeschoss verschwunden war.
»Wir wurden zu einem Verkehrsunfall gerufen, der sich auf der Bundesstraße zwischen Wildmoos und Bachenau ereignet hat, ganz in der Nähe von hier. Wir fuhren noch während des Gewitters hin. Was wir dort vorfanden, war grausam.« Hans Strasser schüttelte den Kopf. Noch würgte ihn das blanke Entsetzen, wenn er an das entsetzliche Bild dachte, das sich den Polizisten am Unfallort geboten hatte.
»Anjas Eltern?«, fragte Frau Rennert ahnungsvoll und ließ sich in den Sessel nieder, in dem zuvor das kleine Mädchen gesessen hatte.
Breitbeinig stand Hans Strasser in seiner nassen Uniform vor der Heimleiterin. Er war viel zu aufgeregt, um sich jetzt setzen zu können. Schon manchmal hatte er Protokolle an einem Unfallort aufgenommen, doch noch nie hatte ihn ein Geschehen so aufgewühlt wie dieses.
»Sie sind beide tot«, berichtete er leise. »Auch der kleine Bruder von Anja, der mit im Wagen war.« Ein Schauer rieselte über Strassers Rücken, als er an den entsetzlichen Anblick dachte, den die Verunglückten geboten hatten. Und das Schlimmste war, dass die kleine Anja das alles gesehen hatte. Für ein fünfjähriges Mädchen musste es ein furchtbares Erlebnis bedeuten, die Eltern und den kleinen Bruder so zu sehen.
Diese Auskunft war auch für Frau Rennert niederschmetternd. Entsetzt schlug sie beide Hände vors Gesicht.
»Der Wagen kam infolge der herabstürzenden Wassermassen von der Straße ab. Aquaplaning nennt man das. Er prallte frontal gegen einen Baum. Die Möllendieks und der kleine Junge müssen sofort tot gewesen sein. Anja ist wahrscheinlich herausgeschleudert worden und ins Gras gefallen. Wir fanden sie später dicht neben dem zertrümmerten Fahrzeug.« Hans Strasser schluckte. Er wollte die schrecklichen Bilder am liebsten vergessen. Doch er wusste, dass er noch lange daran denken würde.
Frau