Alexander Herrmann

... und eine Prise Wahnsinn


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einmal der Klodeckel-Flokati meines Onkels in Flammen stand. Onkel Werner war vor Kurzem aus dem Ausland zurückgekehrt und wohnte ebenfalls mit im Hotel. Werner guckte nach oben, sah, dass bereits das Plastikrohr an der Badezimmerdecke zusammengeschmolzen war, und schlug Alarm.

      Kurze Zeit später war die örtliche Feuerwehr da, wenig später traf dann auch die Verstärkung aus den umliegenden Dörfern ein. Monika hatte mich geweckt, mir meinen Kuschelpanther in die Hand gedrückt und war mit mir hinaus auf die Straße geeilt. Dort standen wir dann beide im Schlafanzug und schauten zu, wie die Einsatzkräfte den Brand bekämpften. Genauer gesagt: wie die eine Hälfte zunächst ihren eigenen Brand bekämpfte und sich gemütlich ein Pils an unserer Hausbar zapfte, während die andere Hälfte weitere Rettungsmaßnahmen einleitete. Meine Eltern versuchten derweil, die ebenso trinkfreudigen Gäste aus der Kommunalpolitik in unserer voll besetzten Jägerstube davon zu überzeugen, dass es doch sicherer sei, den Raum zu verlassen. Das musste man sich mal vorstellen: In unserem Lokal saß die komplette Riege der oberfränkischen CSU-Führung, während das Haus brannte. Niemand schien sich dafür zu interessieren, wie gefährlich die Situation war, was möglicherweise an der bereits recht fortgeschrittenen Abendstunde lag. Wo heutzutage wahrscheinlich ein Spezialkommando einen zusätzlichen Eingang in das Gebäude sprengen würde, herrschte vor mehr als 40 Jahren eine aus jetziger Sicht geradezu unglaubliche Gelassenheit auf allen Seiten. Erst als das Löschwasser in der Stube durch die Decke tropfte und der erste Kellner einen Regenschirm aufspannte, bequemten sich die Politiker einen Raum weiter – und die Feuerwehr nahm ihre Arbeit auf. Angesichts der Brandschutzauflagen, die es mittlerweile für gastronomische Betriebe einzuhalten gilt, kann ich heute noch nicht fassen, was alles hätte passieren können. Doch es ging zum Glück alles gut – und nach ein paar Wochen waren die Schäden wieder behoben.

      Schon zu Vorschulzeiten machten Monika und ich jeden Morgen unsere Runde, wenn die Frühaufsteher unter den Gästen bereits im Speisesaal saßen. Genauer gesagt folgte ich ihr von Zimmer zu Zimmer, um mir ausführlichst die Handlungen der Gruselfilme erzählen zu lassen, die am Vorabend in der ARD oder im ZDF liefen und die ich natürlich nicht sehen durfte – schon allein, weil ich stets um acht Uhr schlafen gehen musste. Unsere furchtlose Hausdame hingegen hatte eine besondere Vorliebe für diesen Kram, was mich faszinierte. Als Gegenleistung für diese streng geheimen Informationen über „Dracula“, „Tanz der Vampire“ oder „Tarantula, die Riesenspinne“ half ich Monika beim Bettenmachen, weshalb ich auch heute noch Horrorstreifen mag – und in der Lage bin, Bezug, Kissen und Decke so akkurat zu falten, wie es nur im Hotel gemacht wird oder allenfalls noch bei der Bundeswehr.

      Dann war da noch die gute Gertrud, unsere bereits knapp 80-jährige Kaltmamsell, die in dieser Eigenschaft in der Küche – wie die Bezeichnung schon sagt – seit Ewigkeiten für die Zubereitung der kalten Speisen zuständig war. Gertrud, die um die Jahrhundertwende geboren worden und von daher eine ungemein vielseitige Zeitzeugin war, wusch zentnerweise Salate und bastelte kunstvoll die damals schwer angesagten Aspiks zusammen. Vor allem aber ließ sie mich jedes Mal wieder von ihrem großartigen Plätzchenteig naschen und den Teig für ihre weit über den Ort hinaus berühmten Kuchen und Torten kneten. Nur ihren Kaba mochte ich nicht so gerne, weil sie ihn, wahrscheinlich wegen ihrer Erfahrungen mit all den Entbehrungen der beiden miterlebten Kriege, mit Wasser – Marion vom Empfang hingegen mit Milch – zubereitete.

      Und es gab zu meinem Glück auch noch den Gramp Hans, unseren treuen Hausmeister. Dieser Mann kümmerte sich nicht nur um alles, was im und rund ums Hotel repariert werden musste – was ihm auch immer gelang. Er war zudem ein Weltenbummler und ein Abenteurer, kurz: ein Begleiter, wie man ihn sich als kleiner Junge nur wünschen konnte. Hans war grauhaarig, gut aussehend und wusste auf fast jede Frage eine passende Antwort. An seinen freien Nachmittagen nahm er mich oft in seinem alten VW-Pritschenwagen zu den nahe gelegenen Fischweihern mit. Dort saßen wir stundenlang und angelten, mit allen Tricks, die ein erfahrener Angler nur anwenden konnte. Er baute sich all seine Werkzeuge selbst zusammen, konnte binnen weniger Minuten ein riesiges Lagerfeuer entfachen und schaffte es, aus den Weihern die allergrößten Fische an Land zu ziehen, die dann auf den Tellern der erstaunten Gäste landeten. Wenn man so will, war Hans der fränkische Indiana Jones, für mich zumindest.

      Sein Hobby war das Goldschürfen. Wenn er Urlaub hatte, kratzte er alle Ersparnisse zusammen, flog kreuz und quer in der Welt herum und tat sich oft mit dubiosen Glücksrittern zusammen, um den einen großen Schatz zu finden, der ihn reich machen würde. Leider fand er ihn nicht. Dafür schickte er uns immer Postkarten aus fernen Ländern, die wir im Hotel staunend herumreichten. Nachdem er in Rente gegangen war, widmete er sich seiner Leidenschaft noch intensiver, und bis weit in die 90er-Jahre hinein schrieb er mir Briefe, etwa aus Paraguay oder Uruguay. Darin berichtete er mir von seinen gefährlichen Aktivitäten und erzählte etwa davon, dass er aus Sicherheitsgründen nur mit einer Schrotflinte auf dem Bauch schlief.

      Es war ein großes Glück, so viele Menschen um mich herum zu haben, die wie eine Familie für mich da waren, ohne dass sie zur eigentlichen Familie gehörten. Trotzdem waren natürlich meine Eltern sowie Opa und Oma meine engsten Bezugspersonen. Und für die war klar, dass ich als Stammhalter eines Tages in Vaters Fußstapfen treten und sein Nachfolger als Küchenchef und erster Hotelier am Platz in Wirsberg werden würde.

      Überhaupt Wirsberg: Meine Heimat ist ein Markt mit nicht ganz 2.000 Einwohnern, knapp zehn Kilometer östlich von Kulmbach und ungefähr 15 Kilometer nördlich von Bayreuth. Es gibt zehn Ortsteile, die Einöd heißen oder Schlackenmühle. Um den Marktplatz herum, gegenüber dem Posthotel, stehen einige schöne Fachwerkhäuser und eine Kirche, in der das Bild eines Schülers von Lucas Cranach hängen soll, genau weiß man das nicht. Wirsberg verfügt über eine Apotheke, eine Jugendherberge, eine kleine Tankstelle und einen Naturlehrpfad. Die Nachbargemeinden sind Gefrees, Marktschorgast oder Trebgast, und für größere Einkäufe muss man schon nach Neuenmarkt oder Himmelkron fahren. Es geht also bei uns, um es freundlich zu formulieren, sehr beschaulich zu.

      Nun ist Oberfranken inzwischen trotz aller noch immer vorhandenen strukturellen Herausforderungen eine herrliche Region mit vielen Freizeitmöglichkeiten, in der sich in den letzten Jahren unheimlich viel getan hat. Damals jedoch lag Wirsberg zwar nicht ganz am Arsch der Welt, aber zumindest konnte man ihn von hier aus ziemlich gut sehen. Und was man leider auch gut erkennen konnte – zumindest, wenn man ein paar Kilometer weiter in Richtung Norden fuhr und der Nebel nicht allzu dicht im Fichtelgebirge festhing –, waren die hässlichen Begleiterscheinungen der Zonengrenze zur DDR und zur Tschechoslowakei: die Türme, Grenzanlagen und Zäune, die den tristen, grauen Horizont noch ein bisschen trister und grauer machten. Ab und zu fuhren wir dorthin, um uns zu gruseln: auf die andere Seite der Autobahn A9, die bei Rudolphstein oder hinter Rehau zur berüchtigten Transitstrecke nach Berlin wurde, und sahen hinüber in den Ostblock, wo in den langen Wintern die Schlote immer sehr dunklen Rauch ausstießen.

      Heute hingegen, 30 Jahre nach dem Gott sei Dank erfolgten Fall der unsäglichen Mauer, ist unsere Gegend sogar beinahe der offizielle Mittelpunkt Europas – zumindest befindet sich seit dem EU-Austritt Großbritanniens dieser geografisch so symbolträchtige Ort tatsächlich nur rund 150 Kilometer entfernt im unterfränkischen Veitshöchheim. Seinerzeit aber war unsere Lage am Rande des Nichts und kurz vor dem real existierenden Sozialismus gleichbedeutend mit einem Leben im Niemandsland, das von der großen Politik irgendwie vergessen worden war. Nürnberg oder gar München waren für uns nicht nur rein entfernungsmäßig sehr weit weg, sondern fast wie aus einer anderen Welt, und man konnte sich kaum vorstellen, dass sich unser kleines, entlegenes Wirsberg im selben Bundesland befinden sollte. Andererseits führte diese Abgeschiedenheit zu einer gewissen Gelassenheit der Menschen, die ich auch heute noch sehr schätze. Hier regte man sich schon immer viel weniger über Kleinigkeiten auf, nahm die Dinge, wie sie eben waren, und machte das Beste aus den Gegebenheiten. Wie anders die Uhren bei uns ticken, konnte man allein schon daran erkennen, dass unser Bürgermeister bis vor Kurzem noch derselbe Herr war, der seinerzeit als offizieller Vertreter der Gemeinde am Grab meiner Eltern stand. Erst bei der Kommunalwahl 2020 wurde der gute Hermann Anselstetter nach sage und schreibe 42 Jahren von Jochen Trier abgelöst, mit dem ich zusammen in die Schule ging. Man kennt und kannte sich in solch kleinen Ortschaften, und das ist gut so. Wirsberg ist meine Heimat, nirgends ist es schöner.

      „Alexander“, sagte also mein