Alexander Herrmann

... und eine Prise Wahnsinn


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und ich hatten bereits 2008 unseren ersten „Michelin“-Stern erkocht und seitdem immer wieder bestätigt bekommen. Seit einem knappen Jahr gehörte ich zur Besetzung der neuen TV-Sendung „The Taste“ auf Sat.1, und ebenjenes „Palazzo“ hatte sich nach anfänglichen Startschwierigkeiten ebenfalls fest im Veranstaltungskalender der Region etabliert und war meistens ausgebucht.

      Ohne Zweifel befand ich mich also aufgrund all dieser Aktivitäten mitten im berühmten Hamsterrad, das meist nur von innen aussah wie eine Karriereleiter, in dem man aber auf den zweiten Blick nicht wirklich vorankam – zumindest, wenn man Vorankommen mit einem Mehr an Freizeit oder Urlaub gleichsetzte. Das allerdings war bei uns Köchen auch nicht anders als in den allermeisten Berufen, und es machte mir überhaupt nichts aus. So war das eben in einem halbwegs normalen Leben, dass man viel Zeit in seinen Job investierte, sein Bestes gab – und es jeden Morgen von Neuem losging. Der Unterschied zu anderen Werktätigen mit einem anstrengenden 8-, 10- oder 12-Stunden-Tag war aber, dass es sich bei meinem Hamsterrad um ein verdammt breites Exemplar handelte, weil sehr viele Menschen mit mir mitstrampelten. Genau das war der Grund, warum wir nun zusammen diese Fahrt unternahmen: Ich wollte mich mal bedanken bei meinen Leuten, die das ganze Jahr dafür gesorgt hatten, dass alles so gut funktionierte – und ich im Fernsehen herumspringen konnte oder in einem kulinarischen Zirkuszelt, ohne dass in Wirsberg das Chaos ausbrach. Als wir auf der Autobahn in Richtung Nürnberg waren, nahm ich mir das Mikrofon und wollte eine kurze Ansprache halten. Im Kopf ging ich durch, was ich überhaupt sagen wollte.

      Ich holte tief Luft und war kurz davor, zu einem feierlichen „Liebe Mitarbeiter“ anzusetzen, da fiel mir auf, dass meine Angestellten eigentlich viel mehr als bloße „Mitarbeiter“ waren. Das fing schon damit an, dass ich wie beschrieben mit dem Hotelpersonal aufgewachsen bin – und die gute Monika eben nicht eine „Hausdame“ für mich war, der treue Hans kein „Hausmeister“ und die resolute Gertrud auch keine „Kaltmamsell“ – sondern viel, viel mehr. Sie gehörten nicht unbedingt zur Familie, denn das war für mich nach dem einschneidenden Ereignis meiner Kindheit ein zu großes Wort: Meine Familie bestand seit dem Tod meiner Eltern nur noch aus meinen Großeltern sowie meinem Onkel und meiner Tante und später selbstverständlich aus meinen Kindern. Aber die Menschen damals und jene, die sich gerade mit mir in diesem Bus befanden, bildeten eine Einheit.

      Ich überlegte, was wohl der richtige Oberbegriff dafür war. Das Wort „Team“, das ich natürlich auch verwendete, traf es nicht, denn in einem Team musste man sich nicht unbedingt mögen. Harmonie aber war mir schon immer ganz wichtig, und ich hätte es keinen Tag lang ertragen, wenn es bei uns einen Stinkstiefel in der Truppe gegeben hätte, der den anderen ihre Erfolge neidete. So wie es oft beim Fußball zu beobachten war, wo elf Individualisten zu einem solchen „Team“ zwangsvereinigt wurden, was dann in der Praxis so aussah, dass jenen elf, die auf dem Rasen standen, elf weitere Spieler im Nacken saßen, die nur darauf warteten, dass einer von denen auf dem Feld einen Fehler machte, um dessen Platz einzunehmen. Ein „Team“ zu sein bedeutete also nicht zwangsläufig, dass ein guter Geist darin herrschte.

      Und da fiel mir ein, dass wir einfach eine „Gemeinschaft“ darstellten – eine überschaubare, bunt zusammengestellte soziale Gruppe, die jedoch durch ein starkes Wir-Gefühl eng miteinander verbunden war und in der es im Vergleich zu anderen Spitzenlokalen eine sehr geringe Fluktuation und eine äußerst lockere Herangehensweise gab. Vielleicht war das – ohne dass es mir jemals zuvor aufgefallen war – das große Geheimnis unseres Erfolgs: Wir alle miteinander waren eine starke Gemeinschaft, die ich anführen durfte und in der nicht Leistungsdruck und Strenge das Triebmittel waren, sondern der Zusammenhalt. Ich begann meine kleine Rede folglich mit „Liebe Gemeinschaft“ und musste lachen, weil mich danach alle so merkwürdig ansahen. Aber genau dieses Wort traf es, und die Grundlage für diese Haltung wurde kurioserweise durch den wohl größten Schicksalsschlag gelegt, den ein Kind erleben konnte.

      Damals, in den Tagen und Wochen nach dem Unfall, ging es zunächst weiter wie gewohnt. Ich stand auf, wusch mich und zog mich halbwegs ordentlich an, was ich allerdings auch vor dem Tod meiner Eltern schon allein bewerkstelligen konnte. Dann ging ich hinunter, trank meinen Kakao, den mir idealerweise Marion zubereitet hatte, schmierte mir mein Pausenbrot und marschierte zur Schule. Die anderen Kinder sowie die Lehrer behandelten mich mit Samthandschuhen, und auch zu Hause versuchten alle, sich wenigstens mir gegenüber nichts anmerken zu lassen. Natürlich stand jeder im Hotel unter Schock, aber der Betrieb musste ja irgendwie weitergehen. So sehr allen voran meine Großeltern, aber auch Monika, Gertrud und Hans um meine Eltern trauerten, so sehr bemühten sie sich, alles am Laufen zu halten. Es ging um nicht weniger als unsere Existenz.

      Klar war, dass meine Großeltern es nicht allein schaffen würden, Hotel und Restaurant zu leiten. Einerseits, weil meine Oma ein nicht immer ganz einfacher Charakter war: So sehr sie im langen Herbst ihres Lebens die gute Seele unseres Hauses war, so streitbar und eigensinnig war sie in früheren Zeiten gewesen, obwohl sie ganz harmlos aussah mit ihrer zarten Erscheinung, der stets gebräunten Haut und den eleganten Kleidern, die sie meist trug. Sie geriet auch immer wieder mit meinem Vater aneinander. Erst vor einem unserer letzten Kurzurlaube waren die beiden sich ziemlich in der Wolle gelegen, weil Großmutter unbedingt einen Kachelofen in unserer Jägerstube einbauen lassen wollte. Für Papa kam das nicht infrage, weil solch ein Trumm in seinen Augen unpraktisch war und Plätze kostete.

      „Vergiss es, Herta. Da passt kein Ofen rein“, sagte mein Vater und hielt den Fall für erledigt. Immerhin war er es, der für die Gastronomie und damit auch für die Einrichtung der Stuben zuständig zeichnete.

      Doch kaum waren die Rücklichter des Ferrari um die Kurve in der Sessenreuther Straße verschwunden, marschierten die Handwerker zum Hintereingang des Hotels hinein. Oma hatte längst alles akribisch vorbereitet und stellte meine Eltern nach deren Rückkehr einfach vor vollendete Tatsachen – sprich einen felsbrockengroßen, tonnenschweren und massiv gemauerten Kachelofen.

      „Jetzt steht er doch schon. Den kann man ja gar nicht mehr ausbauen“, sagte sie lapidar und freute sich, wieder einmal alle ausgetrickst zu haben.

      Mit ihr als Chefin konnte es also auf Dauer eher nicht gut gehen. Vor allem meinen Opa aber hatte der Verlust seines ältesten Sohns schwerer getroffen, als er sich eingestehen wollte. Er bekam Probleme mit dem Herzen und war nun auch schon in einem Alter, in dem sich andere längst zurückzogen. Es zeigte sich, dass einige langjährige Gäste plötzlich ausblieben: entweder, weil sie selbst nicht wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten, oder – und das war wahrscheinlich der häufigere Grund –, weil sie befürchteten, dass der Service und die Küche ohne Mama und Papa nicht mehr so gut funktionieren würden, auch wenn das keiner offen aussprach. Die hohe Bindung zu unseren Stammgästen, die beinahe freundschaftlichen Beziehungen und die Vertrautheit, die jahrelang die Grundlage des Erfolgs gewesen waren, drohten dem Posthotel jetzt auf die Füße zu fallen.

      Deshalb fassten meine Großeltern einen Plan. Mein Onkel und meine Tante, die sich damals gerade erst kennengelernt hatten, sollten in Wirsberg einsteigen – und zwar so schnell wie möglich. Melitta brachte immerhin Gastronomiekenntnisse mit, sie hatte früher in einem Hotel im nahen Weißenstadt gearbeitet, wo sie aufgewachsen war. Für Onkel Werner jedoch, den jüngeren Bruder meines Vaters, war die Leitung des Hauses eigentlich undenkbar. Zwar hatte er seit einiger Zeit wieder bei uns Quartier bezogen, nachdem er eine Zeit lang mit seinem besten Freund zusammen in Afrika gelebt und dort Geschäfte gemacht hatte. Werner war aber kein Wirt und kein Koch, sondern gelernter Bankkaufmann und verkaufte außerdem Versicherungen. Unser Dorf war ihm viel zu klein. „Werner, es hilft nichts. Du musst hier ran“, sagte mein Opa. „Sonst geht das hier alles den Bach runter.“

      Mein Onkel überlegte kurz und sagte schließlich zu. Eigentlich hatte er gar keine andere Wahl, denn ihm war die Familie wichtiger als das persönliche Wohlergehen. Innerhalb weniger Wochen machte er sich mit der Materie vertraut und übernahm immer mehr Aufgaben meines Vaters – mit Ausnahme der Küche, die nun Jürgen Beyer in seinem Sinne fortführte. Auch Jürgen wurde für mich viel mehr als einer unserer Mitarbeiter: Er brachte mir geduldig das Kartenspielen bei und später die ersten Handgriffe am Herd, und er versorgte mich mit Lebensweisheiten wie jener, dass derjenige, der saufen kann, am nächsten Tag auch zum Arbeiten taugt, was vor allem zu Zeiten der Kerwa, also der Kirmes, wichtig war. Abgesehen