meine Mutter betreut hatte, wofür ich heute noch unglaublich dankbar bin.
Nach einem knappen halben Jahr schien es, als seien die anderen aus dem Gröbsten raus. Die Tränen wurden immer weniger, die ersten Gäste kamen zurück, und es begann im guten alten Posthotel wieder ein Stück Normalität. Erst in diesem Moment fing der Verlust auch bei mir an, langsam Wirkung zu zeigen. Meine Leistungen in der Schule ließen stark nach, und ich konnte derartige Probleme nicht mehr wie bisher mit meiner Mutter besprechen. Meine Oma war in Sachen Einfühlsamkeit und Verständnis ein ganz anderer Mensch als meine Mama, die noch dazu gelernte Lehrerin gewesen war und nur für das Hotel – beziehungsweise meinen Vater – ihren eigentlichen Beruf aufgegeben hatte. Mit meiner Großmutter dagegen mochte ich keine Hausaufgaben machen oder über schlechte Prüfungsnoten sprechen. Ihre Welt war das Haus, in dem sie praktisch ihr gesamtes Leben verbracht hatte. Sie wohnte mit Opa zwar nebenan, aber sie war sogar hier drinnen geboren worden: am 27. Januar 1915 im heutigen Zimmer 108 – am selben Tag, als Kaiser Wilhelm II. seinen 56. Geburtstag feierte. Auch deshalb interessierte sie sich nicht allzu sehr für die Geschehnisse draußen, und natürlich hatte sie ihre eigenen Probleme. Und wenn nicht, dann suchte sie sich manchmal welche. Es konnte vorkommen, dass an einem Sonntagmittag 30 Gäste die Sauerbratensoße über den grünen Klee gelobt hatten. Wenn sich aber ein einzelner überkritischer Dauernörgler, dem eh rein gar nichts passte, darüber beschwerte, sie sei nicht so sämig wie gewohnt ausgefallen, ging Oma in die Küche und tat kund:
„Also, die Soße heute war den Leuten viel zu dünn.“
So etwas zeigte bei den Mitarbeitern selbstverständlich Wirkung und führte nicht gerade zu einem besonders lockeren Betriebsklima. Mein Vater, der das immer abgepuffert hatte, war nicht mehr da, und Onkel Werner musste sich erst in den Ablauf hineinfuchsen. Vielleicht war Großmutters bisweilen schroffe Art generationenbedingt, denn sie hatte nicht nur zwei Weltkriege er- und überlebt. Sie durchlitt in den Jahren davor, dazwischen und vor allem nach 1945 Entbehrungen, von denen sich jemand wie ich glücklicherweise nicht im Entferntesten vorstellen konnte, wie schlimm sie gewesen sein mussten. Meine Urgroßeltern schickten sie schon als Kind in eine Schwesternschule nach Neuendettelsau, wo sie nach allen Regeln der Kirche gedrillt wurde. Sie musste sogar Französisch lernen – was dazu führte, dass sie auch mit über 100 noch munter mit französischsprachigen Gästen parlierte. Ihr ursprünglicher Berufswunsch war, Ärztin zu werden, doch das wurde ihr von ihrer Mutter energisch verwehrt. Ihr Bräutigam, Omas große Liebe, fiel während des Russlandfeldzugs. Später im Krieg diente unser Hotel, das damals eine kleine Bierwirtschaft war, kurzzeitig als Lazarett für verwundete Offiziere. Nach Kriegsende heiratete sie dann meinen Opa, der in Würzburg eigentlich Chemiker gelernt hatte und in Wirsberg zunächst eine Gewürzmühle besaß. Karl war ein enger Freund ihres Verlobten gewesen und schrieb ihr rührende Kondolenzbriefe, durch die sie sich näherkamen.
Vermutlich war zunächst weniger die pure Romantik als der Pragmatismus Auslöser für ihre Beziehung. Nach der Geburt ihrer beiden Söhne verloren die beiden ihre Tochter Petra im Alter von nur drei Jahren aufgrund einer Leukämieerkrankung. Herta hatte es also sicher nicht immer leicht gehabt. Trotzdem war mein Großvater zeit seines Lebens ein ganz anderer Typ als sie: gütig, ausgeglichen und sanft, immer mit einem netten Spruch auf den Lippen und kaum aus der Ruhe zu bringen. Aber er konnte sich gegen seine Frau nicht durchsetzen, und so ergriff er eines späteren Tages zumindest in beruflicher Hinsicht die Flucht und übernahm ein Hotel in Bad Alexandersbad.
Mir ging es rund um meinen zehnten Geburtstag immer mieser. Abgesehen davon, dass dieser Tag eh kein Anlass mehr zum Feiern sein konnte, gerade einmal 48 Stunden vor dem Jahrestag des Unglücks, verlor ich auch ansonsten etwas den Halt. Ich igelte mich ein, redete mit kaum jemandem, und in der Schule sackte ich regelrecht ab. Ich war gerade in die vierte Klasse gekommen und geriet schon nach kurzer Zeit erheblich ins Schwimmen. Am Jahresende in eine weiterführende Schule zu gelangen erschien zu diesem Zeitpunkt illusorisch. Das aber war logischerweise die Grundvoraussetzung, um in ein paar Jahren eine Lehre beginnen zu können. Nur mit Volksschule kam ich sicher nirgendwo unter, Hotelierskind mit Udo-Jürgens-Autogramm hin oder her.
„Alexander, so geht’s nicht weiter“, sagte mein Opa. „Du musst wieder in die Spur kommen. Aber ich weiß schon, wie wir das anstellen. Ich hab da jemanden für dich, der dir weiterhelfen kann.“
Er marschierte zu seinem guten Freund Gerhard Opel, dem liebevoll-strengen Schulleiter aus dem Nachbarort, der mich fortan als wahrscheinlich überqualifiziertester Nachhilfelehrer aller Zeiten unter seine Fittiche nahm. Herr Opel war nicht nur ein Universalgenie, das alle Fächer blind beherrschte. Er verstand es außerdem, die Zusammenhänge so zu erklären, dass sie selbst ein gerade ziemlich lernunwilliges Kind verstand. Ich fand jedenfalls rasch einen Draht zu ihm und setzte mich, wenn auch anfangs missmutig, auf den Hintern und fing an, zu pauken. Es konnte ja nicht angehen, in der vierten Klasse sitzenzubleiben. Auch Werner und Melitta übernahmen bei mir mehr und mehr die Elternrolle und bemühten sich nach Kräften, meine Trauer und ihre Begleiterscheinungen abzupuffern.
Zwischenzeitlich hatten wieder die Festspiele stattgefunden und wohl auch aufgrund des Mitleids unserer Gäste staubte ich in diesem Jahr besonders ab. Drei Wochen lang trug ich jeden Koffer, den ich in die Finger bekommen konnte, was mir eine Einnahme von satten 800 DM einbrachte – ein unfassbares Vermögen für ein Kind. Von einem Teil der Kohle, die durch das obligatorische Geburtstagsgeld sogar noch aufgestockt wurde, kaufte ich mir unter anderem ein sündhaft teures, aber unglaublich cooles und vor allem für Zehnjährige absolut verbotenes „Überlebensmesser“, praktischerweise direkt vor Ort in der „Süddeutschen Messerfabrik“ in Gefrees, wo man auch Dolche, Hirschfänger, Bajonette, Schwerter und andere Schmankerln im Angebot hatte und es damals in Sachen Altersbeschränkung etwas lockerer sah. Passend dazu bestellte ich mir aus den Versandkatalogen, die bei uns immer irgendwo in einer Büroschublade zu finden waren, ein halbes Dutzend hochwertige Wurfsterne, die ich, von den anderen unbemerkt, direkt beim Briefträger per Nachnahme an der Rezeption bezahlte. Ich kaufte mir in meiner Gefühlsmischung aus Niedergeschlagenheit und Trotz lauter solches Zeug, das mir meine Eltern niemals erlaubt hätten und mich in meiner momentanen und selbst gewählten Rolle als einsamer Kämpfer bestärkte. Da ich mit den Sternen natürlich nicht auf dem Hotelgelände das Werfen üben konnte und das Messer gut in meinem Zimmer versteckte, bekamen weder die Großeltern noch Onkel und Tante etwas von alledem mit, und das war auch besser so.
Zu der Zeit konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, quasi mein gesamtes Leben wie schon mein Vater oder meine Oma in diesem Hotel zu verbringen. Stattdessen wollte ich jetzt Tierarzt werden. Diesen Plan hatte ich schon zu Papas Lebzeiten gehabt. Ich meinte das durchaus ernst, denn ich mochte Tiere sehr, aber er tat dies immer als kindliche Spinnerei ab. Dabei versuchte ich mit großer Ernsthaftigkeit, in dieser Hinsicht Anamnesen aufzunehmen, und als ich bei unserem Eyk einmal einen heftigen Hundeschnupfen diagnostizierte, behandelte ich diesen sogleich mit Eukalyptussalbe. Nach wenigen Sekunden taten die ätherischen Öle das, was sie auf einer sensiblen Hundeschnauze besser nicht tun sollten, und der arme Eyk zerlegte in seiner Hilflosigkeit fast das gesamte Zimmer, bevor ich ihn in die Badewanne bugsieren konnte, um das Zeug wieder von ihm abzuwaschen. Danach fiel ich in seiner Gunst vorübergehend etwas ab.
„Mein Sohn, du hast sicher mehr Talent, Schnitzel zu panieren, als Tiere zu behandeln“, hatte mein Vater nach dem Vorfall gesagt, obwohl ich noch nie ein Schnitzel paniert hatte. Aber gerade war das sehr, sehr weit weg.
Zu meinem eigenen Erstaunen jedoch gelang Herrn Opel innerhalb weniger Monate ein kleines Wunder: Er brachte mich zurück in die Spur. Durch viel Verständnis für meine private Situation wurden meine Noten langsam wieder besser. Und nachdem mein Onkel und mein Großvater mich mit dem Betrieb in diesen Wochen weitgehend in Ruhe gelassen und auch schulisch keinerlei Druck auf mich ausgeübt hatten, begann ich mich langsam wieder mit dem Gedanken anzufreunden, irgendwann selbst am Herd zu stehen und doch keine Karriere als Veterinär zu beginnen. Schließlich konnte das Haus nichts für den Unfall, und das, was mein Vater und seine Kollegen dort unten Tag für Tag unter Hochdruck zustande brachten, hatte mich immer schon fasziniert. Rund um Weihnachten und Silvester arbeitete ich zum ersten Mal richtig in der Küche mit. Gut, es war anfangs bloß die Spülküche, und nach drei Wochen, in denen ich im Akkord die Speisereste von den Tellern kratzte und über mehrere Stunden