Dörte Maack

Wie man aus Trümmern ein Schloss baut


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in die Gepäckablage, verstauen die kleinen Koffer und Rucksäcke, die Hündin und ihr Führhundgeschirr kommen unter den Tisch. Wir füllen den verbliebenen Platz mit Knabbergemüse, Trinkflaschen, Malbüchern, Buntstiften, Memory-Karten und dem Player mit den Kinderhörspielen.

      »Papa, wo ist mein Schnitzmesser?«, »Schnuffel, hast du die Reisepässe der Kinder eingesteckt?«, »Mama, wann kriege ich endlich ein Eis?!«, plappern alle durcheinander, während Lila eine Sitzreihe weiter nach vorn robbt. Hier knistert es interessant und Menschen lassen leckere Kekskrümel zu Boden fallen.

      Ich muss jetzt dringend pinkeln. Wo ist mein Blindenstock? Er ist tief verbuddelt zwischen Sandspielzeug, Hundefutter und Badeklamotten. Martin kann mich nicht hinführen. Das Risiko, die Kinder alleine zu lassen, wäre zu groß, denn dann würde die gesamte Fami­liendynamik, die wir gerade erfolgreich in den Zugfahrmodus gebracht hatten, gefährlich ins Wanken geraten. Ein Begleitservice für mich ist ausgeschlossen, aber auch nicht nötig, befinde ich. »Bleib du bei den Kindern, ich geh’ mal kurz zur Toilette«, werfe ich Martin zu, bevor ich mich auf den Weg mache. Was soll auf diesen fünf Metern schon schiefgehen?

      Ich folge dem Gang des Großraumwagens an ein paar Sitzreihen vorbei. Der Gang ist so eng, dass ich trotz heftiger Schaukelei des Wagens nur unwesentlich aus der Bahn geworfen werde. Am Ende des Ganges öffnet sich eine Schiebetür mit einem leise surrenden Geräusch ganz automatisch. Ich gehe hindurch und folge weiter dem Teppichboden. Links ertaste ich die kühle Fensterfront. Jetzt verändert sich die Akustik und ich merke, dass die beiden Ausstiegstüren links und rechts von mir sind. Ich bin also auf dem richtigen Weg, gleich muss die Zugtoilette kommen. Liegt sie rechts oder links? Im Gang ist niemand, den ich fragen kann. Ich taste nach der rechten Wand. Kaum berühre ich diese Wand, öffnet sich mit einem schnarrenden Geräusch wieder eine Schiebetür. Das ist ja richtig klasse: Ich habe die Toilette schon gefunden und sie ist frei! Ich trete schnell durch die Tür und bin irritiert. Das kann nicht die Toilette sein. Toilettenräume im ICE sind eng und schmal. Verglichen damit stehe ich in einem großen Saal. Die Schiebetür hinter mir steht noch weit offen. Eine männliche Stimme von links unten sagt etwas, das klingt wie »Banster sie nicht schlonk Tür infekt … äh hmm versetzt, nein …!« Ich folgere blitzschnell: Dieser offensichtlich sehr kleine Mann mit der nuscheligen Aussprache steht vor der eigentlichen Toilettentür in einem Vorraum. Er wartet, weil die Kabine noch besetzt ist. Mit meinem charmantesten Lächeln wende ich mich dem fremden Mann zu und frage sehr freundlich: »Oh, warten Sie hier auch?« Im nächsten Satz würde ich ihm erklären, dass ich blind bin und man mir das nicht gleich ansieht, da ich keinen Blindenstock dabeihabe, was wiederum daran liegt, dass ich nur wenige Schritte von hier entfernt mit meiner Familie sitze. So plante ich den weiteren Verlauf unserer Unterhaltung, doch so weit kommen wir nicht. Der kleine Mann wurschtelt hektisch irgendwas und eilt wortlos mit schnellen Schritten aus der großen Türöffnung davon. Ich finde das ziemlich unhöflich. Vielleicht dauerte ihm das Warten zu lange oder er befürchtete, dass ich mich vordrängeln möchte? Ich warte noch einen weiteren Moment ab. Es tut sich nichts und in der Toilettenkabine ist auch nichts zu hören. Ich suche links nach dem Türgriff der Kabine. Was ich finde, überrascht mich: Dort, wo eben noch der kleine Mann zu mir sprach, ist keine Tür, dort ist die Toilettenschüssel. Schlagartig ist mir klar, dass der Mann nicht klein war. Er hat auf der Toilette gesessen. Ich bin in der geräumigen Rolli-Toilette. Hier ist der Absperrmechanismus für Nicht-Eingeweihte nicht ganz einfach zu bedienen und der Mann hat es offensichtlich nicht verstanden, die Tür abzusperren.

      Da erreiche ich blindes Huhn nun mein Ziel mit so viel Leichtigkeit und bringe einen ahnungslosen Mitreisenden in eine echte Scheißsituation. Ich schließe lächelnd die immer noch weit geöffnete große Schiebetür und drücke auf den speziellen Schließknopf. Unsere Italienreise fängt richtig gut an, denke ich.

      Zwanzig Jahre nach der Diagnose »unheilbare Augenerkrankung – Erblindung unausweichlich« kann ich von Herzen über meine Blindheit lachen. Ich bin angekommen in einem farbenfrohen Leben, das für mich lange absolut unerreichbar zu sein schien.

      Ungeküsste Frösche

      »Nie wieder Pinneberg«, hatte ich Ende der 80er-Jahre voller Übermut nachts an eine Häuserwand gesprüht. Ich hatte das Abitur in der Tasche und war so wahnsinnig froh, endlich aus der Kleinstadt rauszukommen. Nach einer Party war ich nicht ganz nüchtern, hatte eine Spraydose mit roter Farbe dabei und kam mir damit so cool wie eine Berliner Hausbesetzerin vor. Meine Sprühaktion brachte es sogar ins Pinneberger Tageblatt. Nicht, weil in Pinneberg zuvor noch nie jemand eine Wand besprüht hätte, sondern weil am nächsten Tag Kommunalwahl in Schleswig-Holstein war. Die Bürgermeisterwahlen interessierten mich gar nicht, aber die von mir ganz zufällig ausgewählte graue Betonwand war, so stand es im Lokalblatt, eine Mauer des Pinneberger Rathauses. Das war eine Verwechslung des Redakteurs, denn wie fast alle Bauten in Pinneberg war dieses Rathaus ein unscheinbarer Zweckbau der 60er-Jahre und kaum von anderen Gebäuden in der Innenstadt zu unterscheiden. Im Tageblatt hielt man meine persön­liche spätpubertäre Befreiungsaktion für eine gezielte politische Tat einer noch unbekannten Pinneberger Untergrundgruppe. »Irgendwann musste hier doch mal etwas Interessantes passieren«, hatte der Redakteur vermutlich gehofft.

      Die harmlose Kreisstadt Pinneberg in Schleswig-Holstein war immer schon das liebste Spottobjekt der benachbarten Hamburger, obwohl keiner so richtig weiß, wie genau es dazu kam. Vielleicht liegt es am Autokennzeichen. Das PI auf dem Nummernschild steht aus Sicht der Großstädter für »Provinzidiot« oder vielleicht auch für »pennt immer«. Pinneberg gilt in Hamburg als Inbegriff der Langeweile und Hässlichkeit. Als Pinneberger muss man irgendwie mit diesem Stigma klarkommen. Man belügt sich selbst ein bisschen und tut so, als gehöre man zu den Weltstadtbewohnern. »In nur zwanzig Minuten bist du mit der S-Bahn mitten in der City«, war damals wie heute der Lieblingssatz eines Pinnebergers. Mit »City« ist dann natürlich nicht die kleine Pinneberger Fußgängerzone gemeint. Zur weiteren Stärkung des geschundenen Selbstbewusstseins sucht man sich als Pinneberger seinerseits gern Spottopfer. Früher fand man sie in den umliegenden Dörfern. Die Pinneberger definierten deren bäuerliche Bevölkerung als die eigentlichen Provinzidioten, die Prisdorfer zum Beispiel. Prisdorf ist das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin und das bis zum Abitur meine Heimat war.

      Ich lebte in einem großen schmucken Bauernhaus mit einem riesigen Heuboden, mit Kuhstall, Schweinestall, Hühnerstall. Ein gutmütiger Collie, viele Katzen in allen Farben, ein großer Gemüsegarten und zwei Streuobstwiesen mit Bäumen zum Draufklettern, ein kleiner Fluss hinter dem Haus und saftige grüne Wiesen voller pastellfarbenem Wiesenschaumkraut und tiefgelben Sumpfdotterblumen. Das war in rosiger Rekonstruktion meiner Kindheitserinnerungen das norddeutsche Bullerbü. Ich war Lisa mit blonden geflochtenen Zöpfen. Wie sie hatte auch ich zwei Brüder. Nur waren sie viel älter als Lasse und Bosse bei Astrid Lindgren und mussten deshalb schon sehr viel auf dem Hof mitarbeiten. Aber ich war nicht nur die wohlbehütete, brave Lisa, ich war auch die eigensinnige, wilde Pippi, die viel allein spielte: In der Wildnis pflückte ich bunte Blumensträuße, baute ein Floß, saß in den Bäumen, kuschelte die Katzenbabys oder übte Saltos im Heu. Gegenüber wohnte Tommy, der im richtigen Leben Bernd hieß. Er war so alt wie ich, hatte blonde strubbelige Haare und Sommersprossen. Beide waren wir nicht im Kindergarten und verbrachten sehr viel Zeit miteinander. Gemeinsam badeten wir als Nackedeis in der Kuhtränke auf der Hausweide, heirateten heimlich im Kuhstall mit zwei der roten Plastikringe, die die Hühner am Bein trugen. Manchmal haben Bernd und ich uns geprügelt. Ich war stärker und konnte kratzen wie eine Katze. Das tat weh und Bernd lief dann weinend nach Hause zu seiner Mutter. Wir haben unsere Wunden geleckt, schnell alles vergessen und uns noch am selben Tag wieder vertragen.

      Die beste Zeit war der Sommer. Dann war unser großer Gemüsegarten ein üppiges Paradies. Alles, was reif war, erntete ich und stopfte die farbenfrohe Beute direkt in meinen Mund: Himbeeren, Stachelbeeren, Erbsen, junge Karotten und Radieschen und natürlich die Erdbeeren. Manchmal musste ich beim Strohfahren, beim Kühehüten, Kälbertränken oder bei der Milchkontrolle ein bisschen mithelfen.

      Meine beiden Brüder waren vierzehn und sechszehn Jahre älter. Mit mir hatte keiner mehr gerechnet. Ich war nicht geplant und für mich gab es keine Pläne. Später würde der ältere meiner Brüder sagen: »Wir wurden noch erzogen, aber