F. John-Ferrer

Die Versprengten


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Fahrzeugen verstopft, in den Dörfern östlich von Warschau wimmelt es von Militär, und selbst der größte Optimist hat aufgehört, an den versprochenen Sieg zu glauben.

      Eine Straßenkreuzung kommt näher. Die Wegschilder stehen schief im Schnee.

      „So, Kumpels“, sagt Willi und deutet mit dem Kinn nach vorn. „Das dort ist Rawa. Nimm langsam ’s Gas weg, Onkel.“

      „Wie spät hab’n wir’s denn?“, fragt der Fahrer.

      Der Mitfahrer schiebt den Mantelärmel hoch und schaut auf die Uhr.

      „Halber viere, Jupp.“

      „Da wird’s wieder Nacht, bevor wir …“ Er bricht ab und beugt sich vor, schaut durch die leicht vereiste Windschutzscheibe und bremst plötzlich so jäh, dass der Wagen ins Rutschen kommt und sich quer zu stellen droht.

      „Mensch, biste jeck!“, ruft der Mitfahrer.

      „Raus!“, brüllt der Fahrer. „Flieger!“

      Der Lkw neigt sich nach rechts und bleibt schief im schneeverwehten Straßengraben hängen. Willi reißt die Tür auf und lässt sich hinausfallen. Zugleich hört er das Dröhnen näher kommender Flugzeuge. Es schwillt an, es füllt den Raum.

      Aus südöstlicher Richtung fliegen sie an. Russenbomber. Hundert, zweihundert oder noch mehr. Auf Rawa zu, das nur noch zwei Kilometer weit vom schief im Straßengraben hängenden Lkw liegt. In dem Dröhnen ihrer Motoren hört man die um Rawa stehende Flak schießen.

      Willi liegt in der Schneewehe und spürt die bissige Kälte nicht. Mit weit aufgerissenen Augen starrt er dem Pulk entgegen, zwischen dem kleine, schwärzliche Sprengwolken wachsen.

      Dann ertönt ein Rauschen und gleich darauf ein ohrenbetäubendes Krachen.

      Der erste Bombenteppich rast über Rawa hinweg. Qualm kocht empor und baut sich zu einer dunklen Wand auf, in der unzählige grelle Blitze zucken. Der Luftdruck presst Willi in den Schnee.

      Dort vorne muss die Hölle los sein. Die Rauchwand wächst noch immer. Bombenteppich auf Bombenteppich rauscht nieder. Die Einschläge tanzen jetzt in rasendem Rhythmus auf dem freien Feld und hinterlassen dunkle Flecke, über denen die Sprengwolken wie Pilze stehen.

      Endlich verstummt das Bersten und geht in ein hohles Dröhnen über. Die Bomber fliegen ab. Das Geräusch verliert sich in nordwestlicher Richtung.

      Willi Röttger bleibt noch eine Weile liegen. Emmes, denkt er, hoffentlich bist du nicht in der Stadt gewesen … Das muss ja entsetzlich gewesen sein … grauenhaft …

      Hinter Willi erhebt sich der Mitfahrer und sucht seine Mütze. Er ist blass und klopft sich den pulverigen Schnee vom Mantel.

      „Mensch“, sagt er heiser, „was haben wir für einen Massel gehabt, dass wir noch nicht drin waren.“

      Jetzt taucht der Fahrer auf; er lag auf der anderen Straßenseite und bleibt kopfschüttelnd stehen, starrt in Richtung Rawa, wo der Rauch brodelt und kocht und langsam abzieht.

      „He, Jupp!“, ruft der Mitfahrer. „Jetzt sind wir dran mit dem Bedanken … unser Kumpel da … nee sowas … Mensch, wie heißte eigentlich?“

      Willi murmelt seinen Namen; er ist noch ganz benommen von dem Schreck.

      „Du bist unser Glücksschweinchen jewese“, sagt der Fahrer und schlägt Willi auf die Schulter. „Um Minuten ist es jegang’n, Mann … um Minuten!“

      Pulvergestank und Brandgeruch wehen heran. Auf der Straße kommen ein paar Fahrzeuge und stauen sich hinter dem schief im Straßengraben hängenden Lkw. Rufe werden laut. Stimmen wirbeln durcheinander.

      Willi hat seinen Wäschebeutel und den Karabiner aus dem Lkw geholt, verabschiedet sich von den beiden Fahrern und geht rasch davon – auf Rawa zu, in dem ihn ein heilloses Durcheinander und Schlimmes erwarten wird.

      Rawa mit seinen ungefähr fünftausend Einwohnern gilt als strategisch wichtiger Punkt, weil fünf Straßen sich in der kleinen Stadt kreuzen. Sie liegt siebzig Kilometer südlich von Warschau und fünfundsiebzig Kilometer östlich von Litzmannstadt. Pioniere und Angehörige des 662. SMG-Bataillons haben in monatelanger Arbeit einen starken Befestigungsgürtel um den Ort und entlang den von Süden nach Norden verlaufenden Hügeln gezogen, wobei man mehr oder weniger rigoros auf die Mithilfe der polnischen Bevölkerung zurückgegriffen hat.

      Mit dem Bombenangriff auf Rawa scheint die lang erwartete Offensive der Sowjets ins Rollen gekommen zu sein. Sie haben Brückenköpfe bei Baranow, Pulawy und Magnuszew gebildet und, wie man allgemein weiß, starke Kräfte herangezogen.

      Willi Röttger hat die brennende Stadt schnell erreicht. Sie hüllt sich in Rauch. Ganze Straßenzüge stehen in Flammen. Auf dem Marktplatz brennen abgestellte Wehrmachtsfahrzeuge bis aufs Gerippe aus. Menschen laufen in kopfloser Angst herum. Geschrei und das unheimliche Prasseln des Brandes bilden eine unwirkliche Geräuschkulisse. Soldaten und Zivilisten rennen durcheinander. Was an Fahrzeugen noch intakt geblieben ist, startet, um in rücksichtsloser Eile aus der Stadt zu kommen.

      Ein Offizier versucht, Ordnung in das Durcheinander zu bringen, aber niemand hört auf ihn, und schließlich verschwindet er.

      Willi schwitzt vor Aufregung und Angst. Über Rawa fliegen jetzt sowjetische Schlachtflieger. Das schmetternde Krachen ihrer Bomben mischt sich in das Dröhnen der erneut schießenden Flak. Da prallt Willi auf eine Frau, die aus einem brennenden Haus stürzt.

      „Pan … pan …“, kreischt sie und ringt verzweifelt die Hände, „meine Kind … meine kleine Kind …“

      Noch ehe Willi begreift, ertönt ein mahlendes Schieben. Er packt die Frau am Handgelenk und zieht sie fort; sie stürzt, sie schreit schrill, sie reißt sich los, und Willi rennt allein weiter.

      Hinter ihm kracht das Haus zusammen und schleudert brennende Dachbalken durch die Luft.

      Es ist eine Hölle, durch die Willi rennt. Es gilt, das bisschen Leben in Sicherheit zu bringen und aus diesem Irrsinn herauszukommen.

      Der Obergefreite kommt durch. Jetzt hat er den Stadtrand erreicht, an dem entlang ein tiefer Bach fließt. Auf der anderen Seite liegt der neue Panzergraben. Dort drinnen hocken Soldaten und pressen sich an die Betonwände.

      Willi muss verschnaufen. Er lehnt sich außer Atem an die Grabenwand und wischt sich über das schwitzende Gesicht.

      „Wo … wo liegt die fünfte Kompanie, Kumpel?“, fragt er einen Soldaten, der sich mit zitternden und frostklammen Händen eine Zigarette zu drehen versucht.

      „Kann ich dir nicht sagen – irgendwo drüben bei den Bunkern.“

      Willi nimmt sein Gewehr und steigt aus dem Panzergraben.

      „Mann – pass auf!“, schreit ihm jemand nach. „Tiefflieger!“

      Sie sind schon da. In geringer Höhe rasen sie über das von Bomben zerfressene Gelände. Die Bordwaffen rattern.

      Willi hat sich hingeworfen und hält den Atem an. Er spürt den Fahrtwind des Schlachtfliegers, er hört das Prasseln der Geschosse.

      Auf! Weiter!

      Willi stolpert und rennt auf einen der Hügel zu, auf den eine Trampelspur hinaufführt. Höhe 114. Dort muss der Gefechtsstand der fünften liegen.

      Die Schlachtflieger sind verschwunden. Irgendwo hinter dem rauchenden Rawa rummeln sie herum: Die Flak in ihren Schneeburgen stellt das Feuer ein. So etwas wie Ruhe breitet sich über den Raum.

      Noch während Willi den Schneepfad hinaufstolpert, hört er in östlicher Richtung Kanonendonner.

      Der Eingang des großen, mit Schnee getarnten Bunkers liegt auf der Westseite des Hügels. Eine mit Asche bestreute Treppe führt hinab.

      Willi atmet erst ein paar Mal durch. Schwein gehabt, denkt er und schaut den Weg zurück, den er gekommen ist.

      Das monotone Weiß der Landschaft zwischen Bunker und Stadtrand