fragt Lechner hastig.
„I woass von nix. Ich hab bloß g’soffa … dann hab i mi hing’legt und bin eing’schlafa.“
„Menschenskinder“, murmelt Lehmann, „man sollt es nicht für möglich halten.“
„Also abgehauen“, murmelt Lechner kopfschüttelnd. „Einfach abgehauen, ohne uns etwas zu sagen … wie die Schweine vom Trog.“ Er wendet sich Huber zu. „Los, zieh dich an, du Nachtwächter! Stahlhelm auf! Knarre mitnehmen! Du kommst jetzt mit uns.“
Huber nickt eifrig; er scheint plötzlich nüchtern geworden zu sein. „Bin glei fertig, Seppei … glei … Marandjosef, Marandjosef“, murmelt er, als er sich anzieht. „Fort san’s alle, die Bazi … zurückg’lassen habn’s mi …“
Wenn die Situation nicht so ernst wäre, man könnte lachen. Der Krieg spielt mit den Menschen wie mit Puppen.
Zehn Minuten nach dem Geschehnis im Bunker Nordstern trabt der Pionierzug im Gänsemarsch nach Rawa. Das Lachen ist verstummt, keiner spricht. Man denkt an die Herren, die sich leise aus dem Staub gemacht oder sich sonst wie in Sicherheit gebracht haben; man weiß nichts von der Lage; man ist sich nur über eins klar: Es wird auf Biegen oder Brechen gehen; man will leben.
Der Pionierzug ist genau 38 Mann stark und in drei Gruppen aufgegliedert. Die Männer sind schwer bewaffnet. Die fünf MG stellen eine beachtliche Feuerkraft dar, ganz abgesehen davon, dass jeder noch zwei Panzerfäuste neuester Ausführung und eine Menge Handgranaten mit sich führt.
Huber trabt mit und bildet den Schluss. Der Münchener ist jetzt nüchtern und fragt sich noch immer, wie alles kam. Ein unerhörtes Glück hat der Metzger gehabt! Darüber sind sich alle einig.
Seit Lechner vor dem ungelösten Rätsel über das spurlose Verschwinden der 5. Kompanie steht, ist er fest entschlossen, keinerlei Rücksicht mehr zu nehmen und den Anschluss an die abgerückten Einheiten zu finden.
Wieder einmal hat man alles zurückgelassen, wofür man Kraft, Schlaf und monatelange Arbeit hergegeben hat. Wieder einmal geht es um die zwei großen Probleme dieser Zeit: Freiheit oder Tod.
Sie wollen in die Freiheit zurück, die weit von ihnen abgerückt zu sein scheint.
In der Stadt ist es still. Der feindliche Artilleriebeschuss hat sich nördlich Rawa konzentriert und erweckt die Meinung, dass der Feind die Stadt in seinem Besitz wähnt.
Sie ist es anscheinend noch nicht ganz.
Trrrrr … trr … ertönt es in schnellem Rhythmus.
„Das sind die Unseren“, sagt Lechner leise zu Lehmann, der dicht hinter ihm geht, „aber sie sind schon aus der Stadt.“
„Wir müssen schau’n, dass wir durchkommen, Sepp.“
„Na klar – irgendwo wird schon ’ne Lücke sein.“
Sie nähern sich dem Panzergraben, der um die Stadt herumführt.
Starkes Motorengeräusch und gedämpftes Kettengeklirr verraten, dass russische Panzer durch die Straßen fahren. Dann und wann kracht es, kurze Feuerstöße aus russischen Maschinengewehren lassen darauf schließen, dass noch nicht alle Deutschen auf und davon sind.
Sepp Lechner lässt den in Gruppen dahinschleichenden Zug aufschließen.
„Hört her, Kameraden. Wir versuchen, im Panzergraben um die Stadt herumzukommen. Russische Infanterie scheint nicht da zu sein. Mit den Panzern werden wir zur Not fertig. – Los jetzt. Mir nach! Seid leise!“
Lechner springt in den etwa fünf Meter tiefen Panzergraben, der um die ganze Stadt läuft und an verschiedenen Stellen überbrückt ist.
Schnee liegt im Graben und dämpft die Schritte. Die Dunkelheit ist günstig.
Im Gänsemarsch bewegt sich der Pionierzug vorwärts. Als eine Brücke auftaucht, bleibt der vorausgehende Feldwebel stehen und horcht. Dann winkt er zum Weitergehen.
Die erste Brücke liegt hinter ihnen.
Rechts brummt etwas. Ketten klirren.
„Panzer!“, flüstert Lechner seinem Hintermann zu.
„Panzer …“, geht es leise von Mund zu Mund.
Der russische Panzer brummt heran, kommt an den Rand des Grabens.
„Hinlegen …“, zischt Lechner.
Der Pionierzug sinkt in den knietiefen Schnee und presst sich an die vereiste, grifflose und schräg aufsteigende Grabenwand. Sie halten den Atem an.
Der russische Panzer steht irgendwo in der Nähe. Man hört das Leerlaufen des Motors. Dann ertönen Stimmen. Die Besatzung unterhält sich.
Plötzlich grellt ein Scheinwerfer auf und leuchtet in den eine sanfte Biegung vollführenden Panzergraben.
Die Pioniere rühren sich nicht. Sie pressen sich in den Schnee, an die linke Grabenseite, um dem Lichtarm zu entgehen.
Es geschieht nichts. Der Schweinwerfer verlöscht wieder, die Russen fahren weiter.
„Junge, Junge“, flüstert Emmes, der dicht vor Willi das MG 42 schleppt, „wenn die uns g’spannt hätt’n!“
„Hör auf, Emmes – der Dreizehnte ist ja schon um.“
„Erst wenn wir von hier weg sind“, flüstert Emmes. Der Zug bleibt noch ein paar Augenblicke liegen.
„Wir müssen uns beeilen“, sagt Lechner zu Lehmann. „Sobald es hell wird, müssen wir von hier weg sein, sonst fangen sie uns.“
„Meinst du nicht, dass es besser wäre, wir lösten uns auf, Sepp?“
„Wie meinst du das?“, fragt Lechner.
„Gruppenweise weitergehen. So ein großer Haufen fällt leichter auf als ein paar Mann. Fünf MG, fünf Gruppen.“
„Nee, Kurt – gefällt mir nicht. Wir verlieren, wenn wir irgendwo mit dem Russen zusammenrasseln, an Feuerkraft.“
„… Und marschieren womöglich alle achtunddreißig in Gefangenschaft … wenn nicht Schlimmeres.“
Lechner überlegt.
„Gut“, sagt er schließlich, „dann also getrennt weiter. Ich nehme mir zehn Mann mit und gehe voraus. An jeder Brücke halte ich und peile die Lage; dann schicke ich dir einen Mann zurück, der euch nachholt … und so weiter, bis wir drüben sind.“
Damit ist auch Lehmann einverstanden. Er teilt den Entschluss dem Zug mit. Die Soldaten nicken, ein paar murmeln: „Nicht schlecht.“
Zehn Mann melden sich freiwillig und wollen mit Sepp Lechner die Vorhut bilden, den Rest teilt Lechner in kleine Gruppen ein.
Emmerich Sailer und Willi Röttger gehören zur letzten Gruppe; sie zählt acht Mann und verfügt über ein MG. Emmerich Sailer übernimmt die Führung des Haufens.
Noch ein paar Instruktionen, dann löst sich Feldwebel Lechner mit seinen Leuten vom Zug und schleicht sich im Panzergraben weiter. Die anderen warten.
Es klappt alles. Man kommt gut voran. Schon hat man den Südteil Rawas erreicht, als Lechners Gruppe plötzlich einen Russenpanzer auf der Südbrücke stehen sieht.
Es ist bereits dämmerig geworden. Die Russen auf dem Panzer unterhalten sich laut und lassen eine Flasche kreisen, als plötzlich einer schreit und aufgeregt in den Panzergraben zeigt.
In den nächsten Sekunden ist die scheinbare Ruhe dieses frühen Morgens dahin. Der Panzer schwenkt seine Kanone und feuert ein paar Mal rasch hintereinander in den Graben. Die Granaten krachen. Splitter zischen durch die Luft, schlagen in die schrägen Wände und heulen als Querschläger davon.
Lechner hat noch so viel Geistesgegenwart, zurückzuspringen. Die Leute prallen aufeinander. Ein Knäuel entsteht, das sich nicht schnell genug zur Flucht wenden kann.
Da