Assistenzsysteme in einer älter werdenden Gesellschaft spielen können. Eine Vielfalt an Begriffen wie z. B. Assistive Technologien, Altersgerechte Assistenzsysteme oder Hilfsmittel wird genutzt, um zu diskutieren, welche Produkte bei unterschiedlichen Funktionsverlusten in den verschiedenen Lebensbereichen unterstützen können. In Deutschland hat sich im Gesundheitswesen der Begriff »Hilfsmittel« etabliert, international wird in der Regel »Assistive Technologien« verwendet.
Warum ist ein Buch zu »Hilfsmittel[n], Assistive[n] Technologien und Robotik« in der heutigen Zeit noch erforderlich? Die Halbwertszeit technologischer und regulativer Entwicklungen ist schließlich sehr hoch. Dazu kommt, dass Informationen im Internet tagesaktuell verfügbar sind. Hilfsmittel sind ein fester Bestandteil des Gesundheitswesens, erhält doch jede vierte versicherte Person eine entsprechende Verordnung (Grandt et al. 2017, S. 8). Mit 8,07 Milliarden Euro haben Hilfsmittel im Jahr 2017 3,7 % der Gesamtausgaben der Gesetzlichen Krankenversicherungen eingenommen (GKV-Spitzenverband 2018, S. 4). Dieser prozentuale Anteil schwankt seit vielen Jahren kaum. Es ist jedoch davon auszugehen, dass das 2017 in Kraft getretene Heil- und Hilfsmittelversorgungsgesetz zu höheren Ausgaben führen wird, da es einige Veränderungen gibt, die an der Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität ansetzen. Versicherte in den Gesetzlichen Krankenkassen, die ein Hilfsmittel nach SGB V, § 33 verordnet bekommen, haben nicht nur einen Anspruch auf die Dienstleistungen, die für die Bereitstellung notwendig sind, sondern auch auf eine entsprechende Einweisung, damit sie in der Lage sind, das Hilfsmittel sachgerecht einzusetzen. Neben dem Preis spielen sowohl die Qualität der Hilfsmittel als auch die Transparenz im Versorgungsprozess wichtige Rollen (Grandt et al. 2017, S. 20 ff.).
Ziel dieses Buchs ist es, eine Art grundlegender Wegweiser durch den Hilfsmitteldschungel zu sein. Besonders bei ca. 32.500 Produkten, die im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sind (GKV-Spitzenverband 2019), die bei vielfältigen Einschränkungen wie auch in den Bereichen des Sehens, des Hörens, der Mobilität und der Kommunikation eingesetzt werden können, kann man schnell den Überblick verlieren. Auch wenn einige der vorgestellten Produkte vielleicht aufgrund der schnellen technischen Weiterentwicklungen nicht mehr verfügbar sein können, gibt dieses Buch viele Anhaltspunkte, um gezielt nach geeigneten assistiven Produkten suchen zu können.
Zielgruppen dieses Buchs sind alle, die in medizinischen, pflegerischen, sozialarbeiterischen, ergotherapeutischen und anderen Gesundheitsberufen arbeiten oder sich in der Ausbildung befinden. Dazu gehören vor allem auch die medizinischen Berufe. So sind Ärztinnen und Ärzte diejenigen, die als einzige Hilfsmittel verordnen dürfen, allerdings ist dieser Themenkomplex in der Regel nicht im Studium verankert. Auch für viele andere Gesundheits- und Pflegeberufe kann eine kompakte Übersicht hilfreich sein.
Zu den Zielgruppen dieses Buchs gehören aber auch kranke, pflegebedürftige und behinderte Menschen und ihre Angehörigen. Hier liefert das Buch eine Einführung und einen Einblick in die technischen Möglichkeiten und trägt zum Verständnis des jeweiligen Funktionsverlusts bei.
Das erste Kapitel setzt sich mit den Begrifflichkeiten auseinander, um das Begriffswirrwarr rund um den Hilfsmittelbereich zu lichten. Das deutsche Gesundheitswesen verwendet den Begriff »Hilfsmittel« in den entsprechenden Gesetzen, Verordnungen und Richtlinien. Dem Begriff »Hilfsmittel« haftet die gleiche, etwas technische Aura an, die (nicht nur) in der Vergangenheit vielen Hilfsmitteln zu eigen war. Häufig haben Hilfsmittel eine sehr funktionale Ästhetik, die auf Ansprechendes und Wohlgefallen verzichtet. Von den betroffenen Menschen, die so ein Hilfsmittel benötigen, wird das Design als stigmatisierend empfunden. Heute wandelt sich das zunehmend – hat nicht zuletzt die Industrie ältere und pflegebedürftige Menschen als neuen Wachstumsmarkt erkannt. Unterstützt wird dies durch die rechtliche Verankerung der UN-Behindertenrechtskonvention und den damit verbundenen Diskussionen. Doch auch Aspekte der Usability bzw. der Gebrauchstauglichkeit werden zunehmend als wichtig erkannt, und öffentlich geförderte Projekte müssen inzwischen systematisch Akzeptanz und ethische Aspekte berücksichtigen, was mittlerweile auch zu ansprechenderen Produkten geführt hat. Das 1. Kapitel setzt sich mit diesen Fragen auseinander und gibt einen Überblick zu den Strukturen des Hilfsmittelbereichs und über die verfügbaren Informationsquellen, mit denen weitergearbeitet werden kann.
Die Kapitel zu den Funktionsverlusten in den Bereichen des Sehens, des Hörens, der Mobilität und der Kommunikation geben jeweils einen Einblick in die Zahlen, Daten und Fakten dieser Gebiete. Im Anschluss werden verschiedene Assistive Technologien vorgestellt und neue Entwicklungen aufgezeigt. Das Kapitel »Ausblick« geht auf Fragen der Akzeptanz und technologischen Weiterentwicklung ein. Verschiedene theoretische und konzeptionelle Ansätze tragen dazu bei, die Akzeptanz bzw. Nicht-Akzeptanz von Hilfsmitteln zu erklären. Deutlich wird, dass eine weitere Professionalisierung der Gesundheitsfachberufe rund um das Thema Assistive Technologien und Hilfsmittel notwendig ist.
Ein solches Buch kann nur entstehen, wenn die passenden Rahmenbedingungen gegeben sind. Die Frankfurt University of Applied Sciences hat schon seit vielen Jahren die Bedeutung dieses Themas erkannt und in Kooperation mit dem Sozialverband VdK Hessen-Thüringen e. V. die Dauerausstellung »Barrierefreies Wohnen und Leben« am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit eingerichtet. Mit der Frankfurter Stiftung für Gehörlose und Schwerhörige wurde ein weiterer Partner gewonnen und die Themen in die neue Dauerausstellung »Hallo Freiheit! Zusammen über Barrieren« überführt und um Einblicke in die Welt der Gehörlosen und Schwerhörigen erweitert. Die Ausstellung dient der Ausbildung der Studierenden, Schülerinnen und Schülern der Altenpflege- und Gesundheitsfachschulen, der Information betroffener Menschen und ihrer Angehörigen und der Qualifizierung von Fachkräften in den Gesundheits- und Sozialberufen und weiterer Berufsgruppen.
Prof. Dr. Barbara Klein
1 Herausforderungen im Alltag bewältigen – Assistive Technologien, Hilfsmittel und Robotik für ein selbstständiges Leben
In einer immer älter werdenden Gesellschaft stellt sich die Frage, wie ein selbstständiges Leben auch mit Funktionsverlusten noch ermöglicht werden kann. Altersbedingte Veränderungen, chronische Erkrankungen und zunehmende Gebrechlichkeit führen oft zu Einschränkungen im Alltag. Viele fragen sich, wie lange sie (noch) selbstständig Zuhause leben können. Bevor einzelne Funktionseinschränkungen einer älteren und/oder pflegebedürftigen Person betrachtet werden und erläutert wird, wie Menschen in diesen Phasen durch Assistive (oder andere) Technologien und Hilfsmittel unterstützt werden können, werden einige soziodemografische Veränderungen beleuchtet, die die Wahrscheinlichkeit, dass diese von Nutzen sein können, deutlich erhöhen. Welchen Herausforderungen sehen sich nicht nur die pflegebedürftigen Personen gegenüber, sondern auch Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und Angehörige? Welche Hürden müssen überwunden werden, um Hilfsmittel einsetzen zu können? Hierfür werden zuerst einmal wesentliche Begriffe rund um Hilfsmittel vorgestellt: Was genau sind Assistive Technologien, Hilfsmittel oder Medizinprodukte? Was verbirgt sich hinter Konzepten wie »Barrierefreies Bauen« oder »Universal Design«?
Anschließend wird auf die rechtliche Einordnung der Hilfs- und Pflegehilfsmittel in die Versorgungsstruktur und ihre Finanzierung eingegangen. Zum Abschluss wird ein typischer Prozessablauf der Leistungserbringung (wie bekommt man eigentlich Hilfsmittel?) dargestellt.
1.1 Zahlen, Daten und Fakten zu soziodemografischen Veränderungen
Eine steigende Lebenserwartung und beinahe konstant niedrige Geburtenzahlen sind ein Kennzeichen vieler Industrienationen. Eine Folge dieser Entwicklungstrends sind nicht nur immer älter werdende Menschen, sondern auch ein erhöhter Anteil hochaltriger Menschen. Zu den hochaltrigen bzw. hochbetagten Menschen werden Personen ab einem Alter von 80 Jahren gezählt. Die 13. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung zeigt, dass im Jahr 2013 4,4 Millionen 80-Jährige und ältere Menschen in Deutschland lebten. 2030 geht man von einer Steigerung von 40 % aus und 2060 wird es mit etwa 9 Millionen mehr als doppelt so viele hochaltrige Menschen wie 2013 geben (Statistisches Bundesamt 2015, S. 21).
Mit dem Altern geht das Phänomen einer zunehmenden Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu werden, einher. Ende 2017 gab es 3,4 Millionen pflegebedürftige Menschen in Deutschland, von denen 76 %, also mehr als drei Viertel, zu Hause versorgt wurden. 1,76 Millionen wurden dabei von ihren Angehörigen