Charles Dickens

David Copperfield


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      Mr. Dick hat­te grau­es Haar und ein blü­hen­des Ge­sicht, wie be­reits er­wähnt. Den Kopf trug er son­der­bar ge­beugt, aber nicht we­gen des Al­ters, und sei­ne großen Au­gen stan­den weit her­vor und hat­ten einen ei­gen­tüm­li­chen wäs­se­ri­gen Glanz, was mich zu­sam­men mit sei­nem zer­streu­ten We­sen, sei­ner Un­ter­wür­fig­keit ge­gen mei­ne Tan­te und sei­ner kin­di­schen Freu­de, wenn sie ihn lob­te, auf den Ge­dan­ken brach­te, er müs­se ein we­nig ver­rückt sein, ob­gleich ich mir dann nicht er­klä­ren konn­te, wie er hier­her kam. Er war wie ein schlich­ter Gent­le­man mit wei­tem grau­em Mor­gen­rock, Wes­te und wei­ßen Ho­sen be­klei­det, trug sei­ne Uhr und sein Geld lose in der Ta­sche und klim­per­te da­mit, als ob er sehr stolz dar­auf wäre.

      Ja­net, ein hüb­sches fri­sches Mäd­chen, etwa neun­zehn oder zwan­zig Jah­re alt, schi­en ein wah­res Mus­ter von Net­tig­keit zu sein. Spä­ter er­fuhr ich, dass sie eine aus der Rei­he der weib­li­chen Schütz­lin­ge war, die mei­ne Tan­te nach und nach mit der Ab­sicht in Dienst ge­nom­men, Män­ner­fein­din­nen aus ih­nen zu ma­chen, die aber am Schluss ge­wöhn­lich Bä­cker ge­hei­ra­tet hat­ten.

      Das Zim­mer sah eben­so sau­ber aus wie Ja­net und mei­ne Tan­te. Wenn ich nur einen Au­gen­blick dar­an den­ke, rie­che ich wie­der die See­luft, ver­mischt mit dem Duf­te der Blu­men, sehe die alt­mo­di­schen und glän­zend po­lier­ten Mö­bel mei­ner Tan­te, ih­ren ge­weih­ten Tisch und Stuhl, den großen run­den Schirm im Bo­gen­fens­ter ste­hen, den mit Läu­fern be­deck­ten Tep­pich, die Kat­ze, den Kes­sel­stän­der, die zwei Ka­na­ri­en­vö­gel, die Punsch­bow­le, ge­füllt mit trock­nen Ro­sen­blät­tern, den ho­hen Schrank mit sei­nen Fla­schen und Töp­fen und wun­der­voll ge­gen al­les ab­ste­chend mein stau­bi­ges Ich auf dem Sofa.

      Ja­net war fort­ge­gan­gen, um das Bad zu hei­zen, als zu mei­nem größ­ten Schre­cken mei­ne Tan­te plötz­lich ganz starr vor Ent­rüs­tung wur­de und nach Luft schnap­pend auf­schrie:

      »Ja­net! Esel!«

      So­fort kam Ja­net die Trep­pe her­auf­ge­sprun­gen, als ob das Haus in Flam­men stün­de, stürz­te auf einen klei­nen Ra­sen­fleck vor dem Haus hin­aus und ver­scheuch­te zwei von Da­men ge­rit­te­ne Esel, die ge­wagt hat­ten, ihre Hufe auf den Ra­sen zu set­zen, wäh­rend mei­ne Tan­te ihr auf dem Fuß folg­te, den Zaum ei­nes drit­ten Esels, auf dem ein Kind saß, er­griff, das Tier um­dreh­te, es zur Sei­te zog und dem un­glück­li­chen Jun­gen, der den Esel ge­führt und die hei­li­ge Stel­le zu ent­wei­hen sich un­ter­stan­den hat­te, eins hin­ter die Ohren gab. Bis heu­te weiß ich nicht, ob mei­ne Tan­te ein Recht auf die­sen Ra­sen­fle­cken be­saß, aber je­den­falls hat­te sie es sich in den Kopf ge­setzt, und das ge­nüg­te ihr. Es war in ih­ren Au­gen eine große Un­tat, die nach be­stän­di­ger Ahn­dung ver­lang­te, wenn ein Esel die­sen jung­fräu­li­chen Fleck be­trat. Moch­te sie in wel­cher Be­schäf­ti­gung im­mer be­grif­fen und die Un­ter­hal­tung noch so in­ter­essant sein, der An­blick ei­nes Esels gab dem Gang ih­rer Ge­dan­ken so­fort eine an­de­re Rich­tung und un­ver­züg­lich stürz­te sie auf ihn los. Krü­ge voll Was­ser und Töp­fe stan­den an ge­hei­men Plät­zen be­reit, um die Füh­rer der Esel zu be­gie­ßen, Stö­cke lau­er­ten hin­ter den Tü­ren, Aus­fäl­le wur­den zu al­len Stun­den ge­macht und un­un­ter­bro­chen wü­te­te der Krieg. Vi­el­leicht war al­les das eine an­ge­neh­me Un­ter­hal­tung für die Jun­gen, und wahr­schein­lich mach­te es den Klü­gern un­ter den Eseln, die die Sa­che durch­schau­ten, in der ih­nen eig­nen Hart­nä­ckig­keit eine be­son­de­re Freu­de, ge­ra­de des­halb die­sen Weg zu be­tre­ten.

      Drei­mal, ehe das Bad fer­tig war, wur­de Lärm ge­schla­gen und beim letz­ten und ver­zwei­felts­ten ge­riet mei­ne Tan­te in ein Ge­fecht mit ei­nem fünf­zehn­jäh­ri­gen Bur­schen mit sand­gel­bem Haar, den sie mit dem Kopf an die Gar­ten­tür sto­ßen muss­te, ehe er zu be­grei­fen schi­en, worum es sich han­del­te. Die­se Un­ter­bre­chun­gen ka­men mir umso lä­cher­li­cher vor, als sie mir ge­ra­de Fleisch­brü­he ein­flö­ßte, – sie hat­te sich of­fen­bar ein­ge­re­det, ich stün­de dicht vor dem Hun­ger­to­de und dürf­te an­fangs nur in klei­nen Quan­ti­tä­ten Nah­rung zu mir neh­men. In Er­war­tung des Löf­fels hielt ich noch den Mund of­fen, da leg­te sie das Be­steck auf den Tel­ler, rief: »Ja­net! Esel!« und eil­te hin­aus zum Kamp­fe.

      Das Bad war eine wah­re Er­qui­ckung für mich. Das Schla­fen im Frei­en hat­te mir Glie­der­schmer­zen ge­macht, und ich fühl­te mich so matt, dass ich kaum fünf Mi­nu­ten hin­ter­ein­an­der wach blei­ben konn­te. Als ich mich ge­ba­det, zog ich, das heißt, sie zo­gen mir – näm­lich mei­ne Tan­te und Ja­net – ein Hemd und ein Paar Ho­sen Mr. Dicks an und wi­ckel­ten mich in zwei oder drei große Schals. Ich sah wie ein Pa­ket aus und es war mir schreck­lich heiß. Da mich über­dies ein Ge­fühl von Mat­tig­keit und Schläf­rig­keit über­wäl­tig­te, schlum­mer­te ich bald auf dem Sofa ein. Vi­el­leicht träum­te ich wie­der von dem Bil­de; ich er­wach­te mit der Vor­stel­lung, dass mei­ne Tan­te sich über mich ge­beugt, mir das Haar aus dem Ge­sicht ge­stri­chen, mei­nen Kopf be­que­mer ge­legt und mich dann lan­ge be­trach­tet hät­te. Die Wor­te »hüb­scher Jun­ge« oder »ar­mer Jun­ge« schie­nen mir auch noch in den Ohren zu klin­gen, aber sonst war bei mei­nem Er­wa­chen nichts da, das mich hät­te glau­ben ma­chen kön­nen, mei­ne Tan­te hät­te ge­spro­chen, denn sie saß un­be­weg­lich am Bo­gen­fens­ter und blick­te hin­ter dem grü­nen Schirm her­vor aufs Meer hin­aus. Wir aßen, bald nach­dem ich er­wacht war, zu Mit­tag. Ein ge­bra­te­nes Huhn und ein Pud­ding ka­men auf den Tisch; ich selbst sah auch aus wie ein tran­chier­ter Vo­gel und konn­te mei­ne Arme nur mit großer Schwie­rig­keit be­we­gen. Aber da mei­ne Tan­te mich selbst ein­ge­wi­ckelt hat­te, durf­te ich mich doch nicht be­kla­gen! Die gan­ze Zeit über lag es mir sehr am Her­zen, zu er­fah­ren, was sie mit mir an­zu­fan­gen ge­den­ke. Aber sie nahm ihre Mahl­zeit in tiefs­tem Schwei­gen ein, nur manch­mal sah sie mich an und rief aus »Gott er­bar­me sich un­ser!« Und das war gar nicht ge­eig­net, mei­ne Be­sorg­nis­se zu ver­scheu­chen.

      Nach­dem das Tisch­tuch ent­fernt war, kam Sher­ry, und ich er­hielt auch ein Glas. Mei­ne Tan­te schick­te wie­der nach Mr. Dick, der uns dann Ge­sell­schaft leis­te­te und so klug dreinsah, wie er nur konn­te, als sie ihn auf­for­der­te, mei­ner Ge­schich­te zu­zu­hö­ren, die sie durch eine Rei­he von Fra­gen aus mir her­aus­lock­te. Wäh­rend mei­ner Er­zäh­lung wand­te sie kein Auge von Mr. Dick, der, wie ich glau­be, sonst ein­ge­schla­fen wäre. Wenn er sich ver­lei­ten ließ, zu lä­cheln, wies ihn ein Stirn­run­zeln mei­ner Tan­te in sei­ne Schran­ken zu­rück.

      »Was nur dem ar­men un­glück­li­chen Baby ein­ge­fal­len sein muss, dass sie noch ein­mal hei­ra­te­te«, sag­te mei­ne Tan­te, als ich fer­tig war. »Ich kann es nicht be­grei­fen.«

      »Vi­el­leicht hat sie sich in ih­ren zwei­ten Mann ver­liebt«, mein­te Mr. Dick.

      »Ver­liebt?« wie­der­hol­te mei­ne Tan­te. »Was re­den Sie da? Zu wel­chem Zweck?«

      »Vi­el­leicht«, sim­pel­te Mr. Dick, nach­dem er ein we­nig nach­ge­dacht, »viel­leicht tat sie es zu ih­rem Ver­gnü­gen.«

      »Zu ih­rem Ver­gnü­gen! Na­tür­lich! Ein Mords­ver­gnü­gen für das arme Baby, ihr schlich­tes Herz ei­nem Schwei­ne­hund zu schen­ken, der sie in je­der Art ent­täusch­te. Was hat sie sich ei­gent­lich da­bei ge­dacht, möch­te ich gern wis­sen? Sie hat­te doch schon einen Mann ge­habt, hat­te Da­vid