Charles Dickens

David Copperfield


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und mir zu über­le­gen, was am bes­ten zu tun sei, als eine Dame, über ihre Müt­ze ein Ta­schen­tuch ge­bun­den, mit Gar­ten­hand­schu­hen, ei­ner Gar­ten­schür­ze und in der Hand ein großes Mes­ser aus dem Hau­se trat. Ich er­kann­te in ihr so­fort Miss Betsey nach der Art, wie sie aus dem Hau­se stelz­te. Genau so war sie nach der Er­zäh­lung mei­ner Mut­ter auch in un­serm Gar­ten her­um­stol­ziert.

      »Fort!« sag­te Miss Betsey und schüt­tel­te den Kopf und fuhr mit dem Mes­ser durch die Luft, als ob sie ein Ko­te­lett her­aus­schnei­den woll­te.

      »Fort! Kei­ne Jun­gen hier!«

      Ich sah ihr zu, das Herz auf der Zun­ge, wie sie in eine Ecke des Gar­tens ging und sich bück­te, um et­was aus­zu­gra­ben. Dann, ohne einen Fun­ken Mut in mir, aber mit de­sto mehr Verzweif­lung, trat ich lei­se ein, stell­te mich ne­ben sie und be­rühr­te sie mit dem Fin­ger.

      »Wenn Sie ge­stat­ten wür­den, Ma’am«, fing ich an.

      Sie fuhr zu­sam­men und blick­te auf.

      »Wenn Sie ge­stat­ten wür­den, Tan­te!«

      »Eh«, rief Miss Betsey mit ei­nem Ton des Er­stau­nens aus, wie ich nie einen ähn­li­chen ge­hört hat­te.

      »Wenn Sie ge­stat­ten wür­den, Tan­te, ich bin Ihr Nef­fe!«

      »O Gott!« sag­te mei­ne Tan­te und setz­te sich mit­ten im Gar­ten­weg hin.

      »Ich bin Da­vid Cop­per­field aus Blun­der­sto­ne in Suf­folk, wo Sie an dem Abend, als ich ge­bo­ren wur­de, mei­ne lie­be Mut­ter be­such­ten. Ich bin seit ih­rem Tode sehr un­glück­lich ge­we­sen. Man hat mich ver­nach­läs­sigt und nichts ge­lehrt, ich war auf mich selbst an­ge­wie­sen und wur­de zu ei­ner Ar­beit ver­wen­det, die gar nicht für mich pass­te. Des­we­gen bin ich fort­ge­lau­fen zu Ih­nen. Gleich am An­fang wur­de ich be­raubt und muss­te den gan­zen Weg zu Fuß ge­hen und habe in kei­nem Bett ge­schla­fen, seit ich auf der Rei­se bin.«

      Hier war es mit mei­ner Fas­sung zu Ende und mit ei­ner Hand­be­we­gung, mit der ich ihre Auf­merk­sam­keit auf mei­nen zer­lump­ten Zu­stand len­ken woll­te, als Be­weis, was ich ge­lit­ten, brach ich in ein bit­ter­li­ches Wei­nen aus.

      Mei­ne Tan­te, aus de­ren Ge­sicht je­der an­de­re Aus­druck als Ver­wun­de­rung ge­wi­chen war, saß, mich groß an­star­rend, auf dem Kies­weg, bis ich zu wei­nen an­fing. Dann stand sie in großer Hast auf, pack­te mich beim Kra­gen und schlepp­te mich in das Wohn­zim­mer. Ihr ers­tes war hier, einen ho­hen Schrank auf­zu­schlie­ßen, ver­schie­de­ne Fla­schen her­aus­zu­neh­men und mir aus je­der et­was in den Mund zu gie­ßen. Sie muss blind drauf­los ge­grif­fen ha­ben, denn ich weiß ge­wiss, dass ich Anis­was­ser, An­cho­vissau­ce und Sala­tes­sig ge­schmeckt habe. Als ich selbst nach dem Ge­nuss die­ser Stär­kungs­mit­tel noch im­mer ganz au­ßer Fas­sung war und von Schluch­zen ge­schüt­telt wur­de, leg­te sie mich auf das Sofa, steck­te mir einen Schal un­ter den Kopf, das Ta­schen­tuch von ih­rem Kopf un­ter mei­ne Füße, da­mit ich nicht den Über­zug be­schmut­zen konn­te, und setz­te sich hin­ter den be­reits er­wähn­ten grü­nen Schirm. Ihr Ge­sicht konn­te ich nicht se­hen, ich hör­te nur, wie sie von Zeit zu Zeit ei­ni­ge »Gott sei uns gnä­dig!« wie Flin­ten­schüs­se her­vors­tieß.

      Nach ei­ner Wei­le klin­gel­te sie.

      »Ja­net«, sag­te sie, als das Mäd­chen her­ein­kam. »Geh hin­auf, emp­fiehl mich Mr. Dick und sage ihm, ich möch­te ihn ger­ne spre­chen.«

      Ja­net mach­te er­staun­te Au­gen, als sie mich ganz steif auf dem Sofa lie­gen sah, denn ich ge­trau­te mich nicht, eine Be­we­gung zu ma­chen, um nicht mei­ne Tan­te zu er­zür­nen, – und ging dann hin­aus, um ih­ren Auf­trag aus­zu­füh­ren. Mei­ne Tan­te mar­schier­te, die Hän­de auf dem Rücken, im Zim­mer auf und ab, bis der Herr, der mich aus dem obe­ren Fens­ter an­ge­zwin­kert hat­te, la­chend her­ein­trat.

      »Mr. Dick«, sag­te mei­ne Tan­te, »sei­en Sie jetzt kein Narr. Nie­mand kann ge­schei­ter sein als Sie, wenn Sie wol­len. Also bit­te, nur so ver­nünf­tig wie mög­lich!«

      Der Gent­le­man mach­te so­gleich ein erns­tes Ge­sicht und sah mich an, als woll­te er mich bit­ten, nur ja nichts von der Sze­ne vor­hin am Fens­ter zu ver­ra­ten.

      »Mr. Dick«, fuhr mei­ne Tan­te fort, »Sie ha­ben mich ein­mal Da­vid Cop­per­field er­wäh­nen hö­ren. Tun Sie jetzt nicht, als ob Sie kein Ge­dächt­nis hät­ten, denn Sie und ich wis­sen das bes­ser.«

      »Da­vid Cop­per­field«, sag­te Mr. Dick, der sich mei­ner trotz­dem nicht zu er­in­nern schi­en, »Da­vi­d Cop­per­field? Ach ja, rich­tig. Da­vid. Stimmt.«

      »Also«, sag­te mei­ne Tan­te, »dies ist sein Sohn. Er wäre sei­nem Va­ter so ähn­lich wie mög­lich, wenn er nicht sei­ner Mut­ter so gli­che.«

      »Sein Sohn«, sag­te Mr. Dick, »Da­vids Sohn? Wirk­lich?«

      »Ja«, fuhr mei­ne Tan­te fort, »er hat hüb­sche Sa­chen an­ge­stellt. Er ist da­von­ge­lau­fen. Ach, sei­ne Schwes­ter, Betsey Trot­wood, wäre nie da­von­ge­lau­fen.«

      Mei­ne Tan­te schüt­tel­te mit Ent­schie­den­heit den Kopf voll Ver­trau­en auf den Cha­rak­ter und das Be­tra­gen des Mäd­chens, das nie ge­bo­ren wor­den war.

      »O Sie glau­ben, sie wäre nie da­von­ge­lau­fen?« sag­te Mr. Dick.

      »Ach Gott, der Mann!« rief mei­ne Tan­te är­ger­lich. »Was er wie­der re­det. Ich weiß doch, dass sie es nie ge­tan ha­ben wür­de, sie wür­de mit ih­rer Pa­tin bei­sam­men ge­we­sen sein, und wir hät­ten ein­an­der sehr lieb ge­habt. Von wo, zum Kuckuck, hät­te sei­ne Schwes­ter, Betsey Trot­wood, fort­lau­fen sol­len und wo­hin denn?«

      »Nir­gends«, sag­te Mr. Dick.

      »No also«, er­wi­der­te mei­ne Tan­te, durch die Ant­wort be­sänf­tigt.

      »Wie kön­nen Sie so zer­streut sein, Dick, wo Ihr Ver­stand so scharf ist wie die Lan­zet­te ei­nes Chir­ur­gen. Jetzt se­hen Sie hier den jun­gen Da­vid Cop­per­field, und die Fra­ge, die ich Ih­nen vor­le­ge, ist, was soll ich mit ihm an­fan­gen?«

      »Was Sie mit ihm an­fan­gen sol­len«, frag­te Mr. Dick ver­le­gen und kratz­te sich hin­ter den Ohren. »An­fan­gen sol­len?«

      »Ja«, sag­te mei­ne Tan­te mit ei­nem erns­ten Blick und den Zei­ge­fin­ger in die Höhe hal­tend. »Ich brau­che einen ver­nünf­ti­gen Rat.«

      »Hm, wie wäre es«, sag­te Mr. Dick nach­denk­lich und mich mit lee­rem Blick an­se­hend, »ich wür­de –« mein An­blick schi­en ihm plötz­lich einen Ge­dan­ken ein­zu­flö­ßen – und er er­gänz­te rasch: »ich wür­de ihn wa­schen.«

      »Ja­net«, sag­te mei­ne Tan­te und dreh­te sich mit ei­nem stil­len Tri­umph, den ich da­mals noch nicht ver­stand, um: »Mr. Dick hat im­mer recht. Hei­ze das Bad.«

      Ob­gleich ich das größ­te In­ter­es­se an dem Ge­spräch hat­te, konn­te ich mich doch nicht ent­hal­ten, wäh­rend des­sel­ben mei­ne Tan­te, Mr. Dick und Ja­net ge­nau zu be­ob­ach­ten und mich im Zim­mer um­zu­se­hen.

      Mei­ne Tan­te war eine große Dame mit stren­gen Zü­gen, aber durch­aus nicht bös aus­se­hend. Es lag eine Un­beug­sam­keit in ih­rem Ge­sicht, in ih­rer Stim­me, ih­rem An­zug und in ih­rer Hal­tung, dass ich mir den Ein­druck er­klä­ren konn­te, den sie auf ein