lieber junger Freund, ich bin ein Mann von gewisser Lebenskenntnis und – kurz und gut, ich bin in der Not erfahren. Gegenwärtig und bis die glückliche Wendung eintritt, die ich jetzt stündlich erwarte, kann ich Ihnen leider nichts als einen guten Rat geben. Doch ist er insofern wert, befolgt zu werden, als – kurz, ich habe ihn selbst nie befolgt und bin der elende Wicht, den Sie vor sich sehen.« Mr. Micawber, der bis zu den letzten Worten mit strahlendem Gesicht dagesessen hatte, machte eine Pause und nahm eine sehr düstere Miene an.
»Lieber Micawber«, flehte seine Gattin.
»Ich sage also«, fuhr Mr. Micawber fort, vergaß sich ganz und lächelte wieder, »der elende Wicht, den Sie vor sich sehen. Mein Rat ist: Verschieben Sie nie auf morgen, was Sie heute tun können. Aufschub ist der Dieb der Zeit. Fassen Sie ihn beim Kragen.«
»Meines armen Papas Grundsatz«, bemerkte Mrs. Micawber.
»Mein Herz«, sagte Mr. Micawber, »dein Papa war vortrefflich in seiner Art, und Gott sei vor, dass ich ihn je herabsetzen sollte. Aber nehmen wir ihn alles in allem – kurz, wohl niemand hatte in seinem Alter so stattliche Waden für Gamaschen und konnte ohne Brille die kleinste Schrift lesen wie er. Leider wandte er seinen Grundsatz auch auf unsere Hochzeit an, meine Liebe, und wir schlossen sie demzufolge so vorzeitig und schnell, dass ich mich bis heute noch nicht von den Unkosten erholt habe.«
Er sah seine Gattin von der Seite an und fügte hinzu: »Nicht dass es mich etwa gereute! Ganz im Gegenteil, meine Liebe!«
Hierauf beobachtete er ein paar Minuten tiefstes Stillschweigen.
»Meinen zweiten Rat«, fuhr er fort, »kennen Sie bereits, Copperfield. Jährliches Einkommen: zwanzig Pfund. Jährliche Ausgaben: neunzehn Pfund, neunzehn Schilling sechs Pence. Resultat: Wohlergehen. Jährliches Einkommen: zwanzig Pfund, jährliche Ausgaben: zwanzig Pfund sechs Pence. Resultat: Elend. Die Blüte ist dahin, das Laub verwelkt, der Gott des Tages geht unter über einem traurigen Schauspiel und – kurz, Sie sind im Saft. Wie ich.«
Um das Bild noch eindrucksvoller zu machen, trank Mr. Micawber mit einer Miene großer Befriedigung ein Glas Punsch aus und pfiff den »lustigen Kupferschmied«.
Ich unterließ nicht, ihm mit Worten zu versichern, dass ich mir seine Vorschriften sehr zu Herzen nehmen wollte, – unnötigerweise – denn ich war sichtlich gerührt.
Am nächsten Morgen traf ich die ganze Familie in der Landkutsche und sah sie mit trostlosem Herzen ihre Plätze einnehmen.
»Master Copperfield«, sagte Mrs. Micawber, »Gott segne Sie! Ich kann es nie vergessen, glauben Sie mir, und möchte es nicht, selbst wenn ich könnte.«
»Copperfield«, sagte Mr. Micawber, »leben Sie wohl! Glück und Wohlergehen! Wenn ich mich im Lauf der dahinrollenden Jahre überzeugen könnte, dass mein verlornes Leben eine Warnung für Sie gewesen ist, würde ich fühlen, dass ich nicht vergebens meinen Platz auf Erden ausgefüllt habe. Falls eine glückliche Wendung eintritt, wovon ich fest überzeugt bin, werde ich mich außerordentlich glücklich schätzen, wenn es in meiner Macht steht, Ihre Aussichten zu verbessern.«
Ich glaube, wie Mrs. Micawber mit den Kindern hinten auf dem Wagen saß und ich so klein auf der Straße stand und sehnsüchtig zu ihnen aufsah, da fiel der Schleier von ihren Augen und sie sah, was für ein winziges Geschöpf ich in Wirklichkeit war. Ich glaube es, weil sie mich plötzlich mit einem ganz veränderten Gesicht und mit mütterlichem Ausdruck in den Zügen heraufsteigen hieß und mich umarmte und mich küsste, wie ihr eignes Kind. Ich hatte kaum Zeit, wieder herunterzukommen, da fuhr die Kutsche fort. Ich konnte die Familie vor lauter Taschentücherschwenken kaum mehr sehen. In einer Minute waren sie verschwunden. Der Waisling und ich standen auf der Mitte der Straße und sahen einander mit leeren Blicken an, dann schüttelten wir uns die Hand und nahmen Abschied voneinander; sie ging ins St.-Lukas-Armenhaus zurück, wahrscheinlich, und ich an mein trauriges Tagewerk bei Murdstone & Grinby.
Aber ich hatte die Absicht, nicht mehr lange dort auszuhalten. Nein. Ich hatte mir vorgenommen, wegzulaufen, – so oder so, – um auf irgendeine Weise die einzige Verwandte, die ich noch auf der Welt besaß, meine Tante, Miss Betsey, aufzusuchen und ihr mein Leid zu klagen.
Ich habe schon erzählt, dass ich nicht weiß, wie mir dieser verzweifelte Gedanke eingefallen war. Aber einmal entstanden, blieb er und setzte sich in mir fest, wie kaum jemals im Leben später irgendein anderer. Ich war durchaus nicht überzeugt, dass ich große Hoffnungen hegen durfte. Aber ich war fest entschlossen, meinen Plan auszuführen.
Immer und immer wieder seit jener schlaflosen Nacht, wo mir der Gedanke durch den Kopf gefahren, hielt ich mir die alte Geschichte bei meiner Geburt vor Augen, die ich schon in den schönen, alten Zeiten meine Mutter hatte so gern erzählen hören und fast auswendig wusste. Meine Tante kam in diese Geschichte hineingeschritten und schritt wieder hinaus, wie eine Furcht und Grauen einflößende Gestalt; aber an einen ganz kleinen Zug ihres Benehmens erinnerte ich mich so gern, und er gab mir einen winzigen Schatten von Ermutigung. Ich konnte nicht vergessen, dass meine Mutter geglaubt, sie hätte gefühlt, wie die Tante ihr schönes Haar nicht mit unsanfter Hand berührte. Und wenn es vielleicht eine bloße Einbildung meiner Mutter gewesen sein mochte, so machte ich mir doch daraus ein kleines Bild von meiner schrecklichen Tante, auf dem sie milder gestimmt von dem mädchenhaften Eindruck meiner Mutter, die doch so gut und lieblich gewesen, dreinsah. Wohl möglich, dass mir all das lange im Kopf herumgespukt und dazu beigetragen hatte, nach und nach meinen Entschluss zu befestigen.
Da ich nicht einmal wusste, wo Miss Betsey lebte, schrieb ich einen langen Brief an Peggotty und fragte sie so nebenbei, ob sie sich nicht erinnern könnte. Ich gab vor, ich hätte von einer Dame dieses Namens in einer Stadt, die ich aufs Geratewohl nannte, gehört und möchte gerne wissen, ob es meine Tante wäre. In demselben Brief sagte ich Peggotty, dass ich eine halbe Guinee zu einem Zweck, den ich ihr später mitteilen würde, brauchte und bat sie recht sehr, mir diese Summe zu leihen.
Peggottys Antwort ließ nicht lange auf sich warten und war wie gewöhnlich voll Zärtlichkeit. Sie legte die halbe Guinee bei, ich fürchte, sie musste unendliche Schwierigkeiten gehabt haben, sie aus Mr. Barkis’ Koffer herauszubekommen – und teilte mir mit, dass Miss Betsey in der Nähe von Dover wohne, ob aber in Dover selbst, Hythe, Sandgate oder Folkstone könne sie nicht sagen. Einer unserer Leute bei Murdstone & Grinby klärte mich darüber auf, und ich erfuhr, dass alle diese Orte dicht beieinander lägen. Daher beschloss ich, mich gegen Ende der Woche auf den Weg zu machen.