der Wirt, »kostet das echte Stunning-Ale.«
»Also«, sagte ich und legte das Geld hin, »geben Sie mir ein Glas mit recht viel Schaum.«
Der Wirt sah mich über den Schenktisch vom Kopf bis zu den Füßen mit erstauntem Lächeln an, anstatt aber das Bier einzuschenken, beugte er sich hinter den Verschlag und sagte etwas zu seiner Frau. Diese trat mit einer Arbeit in der Hand hervor und gesellte sich zu ihm, um mich ebenfalls zu betrachten. Ich sehe uns drei noch; der Wirt in Hemdärmeln lehnt am Fensterrahmen, seine Frau blickt über die kleine Halbtür, und ich schaue außerhalb der Scheidewand verwirrt zu ihnen auf. Sie fragen mich allerlei aus, wie ich hieße, wie alt ich wäre, wo ich wohnte, was ich für eine Beschäftigung hätte und wie ich dazu gekommen. Auf alles erfand ich mir, um niemand zu kompromittieren, passende Antworten. Sie gaben mir das Ale, – wie ich vermute, war es nicht das echte, – und die Frau des Wirtes öffnete den Schenkverschlag, gab mir mein Geld zurück und küsste mich, halb bewundernd, halb mitleidig, aber jedenfalls recht mütterlich.
Ich weiß, ich übertreibe nicht, auch nicht unabsichtlich, die Dürftigkeit meiner Mittel oder die Bedrängnisse meines Lebens. Ich weiß, dass, wenn Mr. Quinion mir einmal einen Schilling schenkte, ich ihn immer nur für Tee oder ein Mittagessen ausgab. Ich weiß, dass ich als ärmliches Kind mit gewöhnlichen Männern und Knaben von früh bis spät mich abarbeitete. Schlecht und ungenügend genährt, schlenderte ich in meinen freien Stunden durch die Straßen. Wie leicht hätte aus mir ein kleiner Dieb oder Vagabund werden können.
Immerhin nahm ich bei Murdstone & Grinby eine gewisse Stellung ein. Mr. Quinion tat, was ein so vielbeschäftigter und im großen ganzen so gedankenloser Mann, der überdies mit einem so außergewöhnlichen Auftrag betraut war, tun konnte, um mich anders als die übrigen zu behandeln. Überdies verschwieg ich meinen Gefährten, wie ich an diesen Ort gekommen war, und äußerte nie das mindeste, dass ich mich darüber bekümmert fühlte. Dass ich im geheimen litt und auf das tiefste, das wusste nur ich. Und wie sehr ich litt, kann ich gar nicht beschreiben. Aber ich behielt meinen Schmerz für mich und verrichtete meine Arbeit.
Ich fühlte gleich am Anfang, dass ich mich vor Geringschätzung nicht würde schützen können, wenn ich meine Arbeit nicht so gut machte wie die übrigen. Ich wurde bald so geschickt und flink wie die beiden anderen Jungen. Obgleich auf bestem Fuß mit ihnen, unterschieden sich doch mein Benehmen und meine ganze Art und Weise von ihresgleichen, und es blieb immer eine Kluft zwischen uns bestehen. Sie und die erwachsenen Arbeiter nannten mich meist den »kleinen Gentleman« oder den »jungen Suffolker.«
Der Vormeister unter den Packern, namens Gregory, und ein anderer, der Kärrner namens Tipp, der eine rote Jacke anhatte, nannten mich zuweilen David, aber es geschah nur, wenn gerade eine sehr vertrauliche Stimmung herrschte und ich mich bemüht hatte, sie während der Arbeit mit einigen Überresten aus meiner Lesezeit, die immer mehr aus meinem Gedächtnis schwanden, zu unterhalten. Mehlkartoffel lehnte sich einmal dagegen auf, dass ich so ausgezeichnet wurde, aber Mick Walker brachte ihn sofort zum Schweigen.
Die Hoffnung auf eine Erlösung aus diesem Dasein hatte ich ganz entschieden aufgegeben. Ich fand mich nie in meiner Stellung zurecht und fühlte mich höchst unglücklich, aber ich ertrug es, und selbst Peggotty entdeckte ich teils aus Liebe, teils aus Scham in keinem Brief, obgleich ich ihr viele schrieb, die Wahrheit.
Mr. Micawbers Bedrängnisse vermehrten noch die Last, die ich innerlich zu tragen hatte. In meiner Verlassenheit war ich der Familie sehr anhänglich geworden und ging immer herum, beschäftigt mit Mr. Micawbers Sorgen und beschwert von der Last seiner Schulden.
Jeden Samstagabend, der immer ein Fest für mich bedeutete, teils, weil es etwas Großes war, mit sechs oder sieben Schillingen nach Hause zu gehen, in die Läden zu blicken und zu denken, was man sich da alles kaufen könnte, teils, weil das Geschäft zeitlicher geschlossen wurde, machte mir Mrs. Micawber die herzzerreißendsten Mitteilungen. Auch Sonntag früh, wo ich die Portion Tee oder Kaffee, die ich mir am Abend zuvor gekauft hatte, in einem kleinen Rasiertopf wärmte und lange beim Frühstück schwelgte.
Durchaus nicht ungewöhnlich war es, dass Mr. Micawber bei Beginn unserer Samstagsabend-Unterhaltung noch heftig schluchzte und gegen Ende ein lustiges Matrosenlied sang. Ich habe ihn zum Abendessen nach Hause kommen sehen mit einer Flut von Tränen und der Erklärung, es bliebe nichts mehr übrig als das Schuldgefängnis, und dann schlafen gehen mit einer Berechnung beschäftigt, was es kosten würde, das Haus mit Bogenfenstern zu versehen, im Falle »eine glückliche Wendung eintreten« sollte, wie sein Lieblingsausdruck lautete. Und Mrs. Micawber war genauso.
Ich genoss eine merkwürdige freundschaftliche Gleichstellung, die, wie ich vermute, eine Folge unserer in gewisser Beziehung ähnlichen Verhältnisse war, bei diesen Leuten, trotz unseres lächerlichen Altersunterschiedes, ließ mich aber nie bewegen, eine der vielen Einladungen, mit ihnen zu essen und zu trinken, anzunehmen, denn ich wusste recht gut, wie schlecht sie mit Bäcker und Fleischer standen, und dass sie oft nicht genug für sich selbst hatten, bis Mrs. Micawber mich eines Tags ganz ins Vertrauen zog. Das tat sie in folgender Weise.
»Master Copperfield«, sagte sie, »ich betrachte Sie nicht wie einen Fremden und zögere daher nicht, Ihnen zu gestehen, dass Mr. Micawbers Bedrängnisse sich zu einer Krisis zuspitzen.«
Das betrübte mich sehr, und ich sah Mrs. Micawbers verweinte Augen mit größter Teilnahme an.
»Mit Ausnahme der Kruste von einem Holländer Käse, die den Bedrängnissen einer jungen Familie nicht angemessen ist«, sagte Mrs. Micawber, »ist auch nicht ein Bissen mehr in der Speisekammer. Als ich noch bei Papa und Mama war, hatte ich noch die Gewohnheit, von einer Speisekammer zu sprechen. Jetzt gebrauche ich das Wort eigentlich ganz gedankenlos. Was ich sagen will, ist, dass wir nichts mehr zu essen im Hause haben.«
»O Gott!« rief ich sehr beunruhigt.
Ich besaß noch zwei oder drei Schillinge von meinem Wochenlohn, es muss also wohl Mittwoch gewesen sein, und ich zog sie eilfertig aus der Tasche und bat Mrs. Micawber mit aufrichtiger Rührung, sie als ein Darlehen anzunehmen. Aber sie küsste mich nur und sagte, dass daran gar nicht zu denken sei.
»Nein, lieber Master Copperfield! Das sei ferne von mir! Aber Sie sind sehr diskret für Ihre Jahre und können mir einen anderen Dienst erweisen, wenn Sie wollen, den ich mit Dank annehmen würde.«
Ich bat Mrs. Micawber, ihn mir zu nennen.
»Das Silberzeug habe ich selbst fortgeschafft«,