Charles Dickens

David Copperfield


Скачать книгу

der Wirt, »kos­tet das ech­te Stun­ning-Ale.«

      »Also«, sag­te ich und leg­te das Geld hin, »ge­ben Sie mir ein Glas mit recht viel Schaum.«

      Der Wirt sah mich über den Schenk­tisch vom Kopf bis zu den Fü­ßen mit er­staun­tem Lä­cheln an, an­statt aber das Bier ein­zu­schen­ken, beug­te er sich hin­ter den Ver­schlag und sag­te et­was zu sei­ner Frau. Die­se trat mit ei­ner Ar­beit in der Hand her­vor und ge­sell­te sich zu ihm, um mich eben­falls zu be­trach­ten. Ich sehe uns drei noch; der Wirt in Hem­d­är­meln lehnt am Fens­ter­rah­men, sei­ne Frau blickt über die klei­ne Halb­tür, und ich schaue au­ßer­halb der Schei­de­wand ver­wirrt zu ih­nen auf. Sie fra­gen mich al­ler­lei aus, wie ich hie­ße, wie alt ich wäre, wo ich wohn­te, was ich für eine Be­schäf­ti­gung hät­te und wie ich dazu ge­kom­men. Auf al­les er­fand ich mir, um nie­mand zu kom­pro­mit­tie­ren, pas­sen­de Ant­wor­ten. Sie ga­ben mir das Ale, – wie ich ver­mu­te, war es nicht das ech­te, – und die Frau des Wir­tes öff­ne­te den Schenk­ver­schlag, gab mir mein Geld zu­rück und küss­te mich, halb be­wun­dernd, halb mit­lei­dig, aber je­den­falls recht müt­ter­lich.

      Ich weiß, ich über­trei­be nicht, auch nicht un­ab­sicht­lich, die Dürf­tig­keit mei­ner Mit­tel oder die Be­dräng­nis­se mei­nes Le­bens. Ich weiß, dass, wenn Mr. Qui­ni­on mir ein­mal einen Schil­ling schenk­te, ich ihn im­mer nur für Tee oder ein Mit­ta­ges­sen aus­gab. Ich weiß, dass ich als ärm­li­ches Kind mit ge­wöhn­li­chen Män­nern und Kna­ben von früh bis spät mich ab­ar­bei­te­te. Schlecht und un­ge­nü­gend ge­nährt, schlen­der­te ich in mei­nen frei­en Stun­den durch die Stra­ßen. Wie leicht hät­te aus mir ein klei­ner Dieb oder Va­ga­bund wer­den kön­nen.

      Im­mer­hin nahm ich bei Murd­sto­ne & Grin­by eine ge­wis­se Stel­lung ein. Mr. Qui­ni­on tat, was ein so viel­be­schäf­tig­ter und im großen gan­zen so ge­dan­ken­lo­ser Mann, der über­dies mit ei­nem so au­ßer­ge­wöhn­li­chen Auf­trag be­traut war, tun konn­te, um mich an­ders als die üb­ri­gen zu be­han­deln. Über­dies ver­schwieg ich mei­nen Ge­fähr­ten, wie ich an die­sen Ort ge­kom­men war, und äu­ßer­te nie das min­des­te, dass ich mich dar­über be­küm­mert fühl­te. Dass ich im ge­hei­men litt und auf das tiefs­te, das wuss­te nur ich. Und wie sehr ich litt, kann ich gar nicht be­schrei­ben. Aber ich be­hielt mei­nen Schmerz für mich und ver­rich­te­te mei­ne Ar­beit.

      Ich fühl­te gleich am An­fang, dass ich mich vor Ge­ring­schät­zung nicht wür­de schüt­zen kön­nen, wenn ich mei­ne Ar­beit nicht so gut mach­te wie die üb­ri­gen. Ich wur­de bald so ge­schickt und flink wie die bei­den an­de­ren Jun­gen. Ob­gleich auf bes­tem Fuß mit ih­nen, un­ter­schie­den sich doch mein Be­neh­men und mei­ne gan­ze Art und Wei­se von ih­res­glei­chen, und es blieb im­mer eine Kluft zwi­schen uns be­ste­hen. Sie und die er­wach­se­nen Ar­bei­ter nann­ten mich meist den »klei­nen Gent­le­man« oder den »jun­gen Suf­fol­ker.«

      Der Vor­meis­ter un­ter den Pa­ckern, na­mens Gre­go­ry, und ein an­de­rer, der Kärr­ner na­mens Tipp, der eine rote Ja­cke an­hat­te, nann­ten mich zu­wei­len Da­vid, aber es ge­sch­ah nur, wenn ge­ra­de eine sehr ver­trau­li­che Stim­mung herrsch­te und ich mich be­müht hat­te, sie wäh­rend der Ar­beit mit ei­ni­gen Über­res­ten aus mei­ner Le­se­zeit, die im­mer mehr aus mei­nem Ge­dächt­nis schwan­den, zu un­ter­hal­ten. Mehl­kar­tof­fel lehn­te sich ein­mal da­ge­gen auf, dass ich so aus­ge­zeich­net wur­de, aber Mick Wal­ker brach­te ihn so­fort zum Schwei­gen.

      Die Hoff­nung auf eine Er­lö­sung aus die­sem Da­sein hat­te ich ganz ent­schie­den auf­ge­ge­ben. Ich fand mich nie in mei­ner Stel­lung zu­recht und fühl­te mich höchst un­glück­lich, aber ich er­trug es, und selbst Peg­got­ty ent­deck­te ich teils aus Lie­be, teils aus Scham in kei­nem Brief, ob­gleich ich ihr vie­le schrieb, die Wahr­heit.

      Mr. Mi­ca­w­bers Be­dräng­nis­se ver­mehr­ten noch die Last, die ich in­ner­lich zu tra­gen hat­te. In mei­ner Ver­las­sen­heit war ich der Fa­mi­lie sehr an­häng­lich ge­wor­den und ging im­mer her­um, be­schäf­tigt mit Mr. Mi­ca­w­bers Sor­gen und be­schwert von der Last sei­ner Schul­den.

      Je­den Sams­tag­abend, der im­mer ein Fest für mich be­deu­te­te, teils, weil es et­was Gro­ßes war, mit sechs oder sie­ben Schil­lin­gen nach Hau­se zu ge­hen, in die Lä­den zu bli­cken und zu den­ken, was man sich da al­les kau­fen könn­te, teils, weil das Ge­schäft zeit­li­cher ge­schlos­sen wur­de, mach­te mir Mrs. Mi­ca­w­ber die herz­zer­rei­ßends­ten Mit­tei­lun­gen. Auch Sonn­tag früh, wo ich die Por­ti­on Tee oder Kaf­fee, die ich mir am Abend zu­vor ge­kauft hat­te, in ei­nem klei­nen Ra­sier­topf wärm­te und lan­ge beim Früh­stück schwelg­te.

      Durchaus nicht un­ge­wöhn­lich war es, dass Mr. Mi­ca­w­ber bei Be­ginn un­se­rer Sams­tags­abend-Un­ter­hal­tung noch hef­tig schluchz­te und ge­gen Ende ein lus­ti­ges Ma­tro­sen­lied sang. Ich habe ihn zum Abendes­sen nach Hau­se kom­men se­hen mit ei­ner Flut von Trä­nen und der Er­klä­rung, es blie­be nichts mehr üb­rig als das Schuld­ge­fäng­nis, und dann schla­fen ge­hen mit ei­ner Be­rech­nung be­schäf­tigt, was es kos­ten wür­de, das Haus mit Bo­gen­fens­tern zu ver­se­hen, im Fal­le »eine glück­li­che Wen­dung ein­tre­ten« soll­te, wie sein Lieb­lings­aus­druck lau­te­te. Und Mrs. Mi­ca­w­ber war ge­nau­so.

      Ich ge­noss eine merk­wür­di­ge freund­schaft­li­che Gleich­stel­lung, die, wie ich ver­mu­te, eine Fol­ge un­se­rer in ge­wis­ser Be­zie­hung ähn­li­chen Ver­hält­nis­se war, bei die­sen Leu­ten, trotz un­se­res lä­cher­li­chen Al­ters­un­ter­schie­des, ließ mich aber nie be­we­gen, eine der vie­len Ein­la­dun­gen, mit ih­nen zu es­sen und zu trin­ken, an­zu­neh­men, denn ich wuss­te recht gut, wie schlecht sie mit Bä­cker und Flei­scher stan­den, und dass sie oft nicht ge­nug für sich selbst hat­ten, bis Mrs. Mi­ca­w­ber mich ei­nes Tags ganz ins Ver­trau­en zog. Das tat sie in fol­gen­der Wei­se.

      »Mas­ter Cop­per­field«, sag­te sie, »ich be­trach­te Sie nicht wie einen Frem­den und zö­ge­re da­her nicht, Ih­nen zu ge­ste­hen, dass Mr. Mi­ca­w­bers Be­dräng­nis­se sich zu ei­ner Kri­sis zu­spit­zen.«

      Das be­trüb­te mich sehr, und ich sah Mrs. Mi­ca­w­bers ver­wein­te Au­gen mit größ­ter Teil­nah­me an.

      »Mit Aus­nah­me der Krus­te von ei­nem Hol­län­der Käse, die den Be­dräng­nis­sen ei­ner jun­gen Fa­mi­lie nicht an­ge­mes­sen ist«, sag­te Mrs. Mi­ca­w­ber, »ist auch nicht ein Bis­sen mehr in der Spei­se­kam­mer. Als ich noch bei Papa und Mama war, hat­te ich noch die Ge­wohn­heit, von ei­ner Spei­se­kam­mer zu spre­chen. Jetzt ge­brau­che ich das Wort ei­gent­lich ganz ge­dan­ken­los. Was ich sa­gen will, ist, dass wir nichts mehr zu es­sen im Hau­se ha­ben.«

      »O Gott!« rief ich sehr be­un­ru­higt.

      Ich be­saß noch zwei oder drei Schil­lin­ge von mei­nem Wo­chen­lohn, es muss also wohl Mitt­woch ge­we­sen sein, und ich zog sie eil­fer­tig aus der Ta­sche und bat Mrs. Mi­ca­w­ber mit auf­rich­ti­ger Rüh­rung, sie als ein Dar­le­hen an­zu­neh­men. Aber sie küss­te mich nur und sag­te, dass dar­an gar nicht zu den­ken sei.

      »Nein, lie­ber Mas­ter Cop­per­field! Das sei fer­ne von mir! Aber Sie sind sehr dis­kret für Ihre Jah­re und kön­nen mir einen an­de­ren Dienst er­wei­sen, wenn Sie wol­len, den ich mit Dank an­neh­men wür­de.«

      Ich bat Mrs. Mi­ca­w­ber, ihn mir zu nen­nen.

      »Das Sil­ber­zeug habe ich selbst fort­ge­schafft«,