Charles Dickens

David Copperfield


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Trä­nen, als sie ant­wor­te­te:

      »Ich wer­de Mr. Mi­ca­w­ber nie ver­las­sen! Mr. Mi­ca­w­ber hat mir viel­leicht zu An­fang sei­ne Be­dräng­nis­se ver­heim­licht, aber sein san­gui­ni­sches Tem­pe­ra­ment mag ihn zu der An­sicht ver­lei­tet ha­ben, er wer­de sie bald über­win­den kön­nen. Das Per­len­hals­band und die Arm­bän­der, die ich von Mama ge­erbt habe, sind um den hal­b­en Wert ver­schleu­dert wor­den. Und der Koral­len­schmuck, den mir Papa zur Hoch­zeit schenk­te, fast für nichts. Aber ich wer­de Mr. Mi­ca­w­ber nie ver­las­sen! Nein!« rief Mrs. Mi­ca­w­ber mit noch grö­ße­rer Rüh­rung als vor­her, »ich wer­de das nie tun. Ich las­se mich nicht über­re­den!«

      Ich fühl­te mich sehr un­be­hag­lich, da Mrs. Mi­ca­w­ber zu glau­ben schi­en, ich hät­te sie zu ei­nem sol­chen Schritt ver­lei­ten wol­len, und sah sie sehr be­un­ru­higt an.

      »Mr. Mi­ca­w­ber hat sei­ne Feh­ler, ich leug­ne nicht, dass er un­be­dacht ist. Auch nicht, dass er mit Geld nicht um­zu­ge­hen weiß und mich über sei­ne Mit­tel und sei­ne Schul­den in Un­kennt­nis ge­las­sen hat«, fuhr sie, den Blick an die Wand ge­rich­tet, fort, »aber ich wer­de nie­mals Mr. Mi­ca­w­ber ver­las­sen!«

      Da sich ihre Stim­me jetzt zu lau­tem Krei­schen ge­stei­gert hat­te, war ich so er­schreckt, dass ich ins Klub­zim­mer da­von­lief und Mr. Mi­ca­w­ber, der an ei­nem lan­gen Tisch prä­si­dier­te, in dem Chor­ge­sang:

      *

       »Hühü, Dob­bin,

       Hüho, Dob­bin,

       Hühü, Dob­bin,

       Hühü und hüho-o-«

      *

      den er eben lei­te­te, mit der Nach­richt stör­te, dass sich Mrs. Mi­ca­w­ber in ei­nem sehr be­ängs­ti­gen­den Zu­stand be­fän­de, wor­auf er so­fort in Trä­nen aus­brach und mit mir for­teil­te, die Wes­ten­ta­sche voll Kre­vet­ten, mit de­nen er sich ge­ra­de be­schäf­tigt hat­te.

      »Emma, mein En­gel«, rief er, als er ins Zim­mer stürz­te, »was ist ge­sche­hen?«

      »Ich wer­de dich nie­mals ver­las­sen, Mi­ca­w­ber!« rief sie aus.

      »Mein Le­ben«, sag­te Mr. Mi­ca­w­ber und schloss sie in die Arme. »Da­von bin ich voll­stän­dig über­zeugt.«

      »Er ist der Va­ter mei­ner Kin­der, der Er­zeu­ger mei­ner Zwil­lin­ge, er ist der Gat­te mei­nes lie­ben­den Her­zens«, rief Mrs. Mi­ca­w­ber schluch­zend, »ich wer­de Mr. Mi­ca­w­ber nie-mals ver-las-sen.«

      Mr. Mi­ca­w­ber war so tief ge­rührt durch die­sen Be­weis von An­häng­lich­keit, – ich zer­floss selbst­ver­ständ­lich in Trä­nen –, dass er sich lei­den­schaft­lich über sei­ne Gat­tin beug­te und sie an­fleh­te, auf­zu­se­hen und sich zu be­ru­hi­gen. Je mehr er sie aber an­fleh­te, auf­zu­bli­cken, umso mehr starr­ten ihre Au­gen ins Lee­re, und je mehr er sie an­fleh­te, sich zu fas­sen, de­sto we­ni­ger tat sie es. Schließ­lich war Mr. Mi­ca­w­ber selbst so er­schüt­tert, dass er sei­ne Trä­nen mit ih­ren und mei­nen misch­te und mich bat, mir einen Stuhl auf die Trep­pe hin­aus­zu­neh­men, wäh­rend er sie zu Bett bräch­te. Ich woll­te mich für den Abend ver­ab­schie­den, aber er moch­te da­von nichts hö­ren, ehe nicht die Frem­den­glo­cke ge­läu­tet habe. So saß ich denn an ei­nem Trep­pen­fens­ter, bis er mit dem zwei­ten Stuhl nach­kam und mir Ge­sell­schaft leis­te­te.

      »Wie be­fin­det sich jetzt Mrs. Mi­ca­w­ber, Sir?« frag­te ich.

      »Sehr ge­schwächt«, sag­te Mr. Mi­ca­w­ber und schüt­tel­te den Kopf. »Re­ak­ti­on! O, was war das für ein schreck­li­cher Tag! Wir ste­hen jetzt al­lein, al­les ist von uns ge­gan­gen.«

      Er drück­te mir die Hand, stöhn­te und ver­goss Trä­nen. Ich war sehr er­grif­fen und auch ent­täuscht, denn ich hat­te er­war­tet, dass wir bei die­ser glück­li­chen lan­ger­sehn­ten Ge­le­gen­heit recht hei­ter sein wür­den. Mr. und Mrs. Mi­ca­w­ber hat­ten sich an ihre al­ten Be­dräng­nis­se so ge­wöhnt, glau­be ich, dass sie sich ganz schiff­brü­chig vor­ka­men, als sie jetzt von ih­nen er­löst wa­ren. Die gan­ze Elas­ti­zi­tät war von ih­nen ge­nom­men, und ich hat­te sie nie auch nur halb so elend wie an je­nem Abend ge­se­hen. Als die Glo­cke läu­te­te und Mr. Mi­ca­w­ber mich bis zum Tür­schlie­ßer be­glei­te­te und dort mit ei­nem Se­gens­spruch von mir Ab­schied nahm, bang­te mir fast, ihn al­lein zu las­sen, so un­glück­lich sah er aus.

      Aber trotz all der Ver­wir­rung und Be­drückt­heit, die sich un­se­rer Ge­mü­ter so un­er­war­tet be­mäch­tigt hat­te, fühl­te ich deut­lich, dass mir ein Ab­schied von den Mi­ca­w­bers be­vor­stand. Auf mei­nem Nach­hau­se­weg in je­ner Nacht und den schlaflo­sen Stun­den, die dar­auf folg­ten, kam mir zu­erst der Ge­dan­ke, der spä­ter zu ei­nem fes­ten Ent­schluss wer­den soll­te.

      Ich hat­te mich so an die Mi­ca­w­bers ge­wöhnt und war mit ih­ren Be­dräng­nis­sen so ver­traut ge­wor­den und stand so ohne je­den Freund da, wenn sie mir fehl­ten, dass mir die Aus­sicht, aber­mals un­ter frem­de Leu­te ge­hen zu müs­sen, un­er­träg­lich schi­en. Der Ge­dan­ke an all die Scham und das Elend, das in mei­ner Brust leb­te, wur­de mir bei dem Ge­dan­ken dar­an noch pei­ni­gen­der, und ich sah kei­ne Hoff­nung an Ent­rin­nen, wenn ich nicht aus eig­nem Ent­schluss einen Ver­such wag­te.

      Ich hat­te sel­ten von Miss Murd­sto­ne ge­hört und nie­mals mehr von ih­rem Bru­der, au­ßer, dass hie und da ein Pa­ket neu­er oder aus­ge­bes­ser­ter Klei­der für mich an Mr. Qui­ni­on ge­kom­men war, im­mer mit ei­nem Zet­tel da­bei, auf dem J. M. hoff­te, dass D. C. in sei­nem neu­en Be­ruf flei­ßig und ge­hor­sam sei. Nie die ge­rings­te An­deu­tung, dass ich auf eine Än­de­rung in mei­nem Schick­sal hof­fen dürf­te und je et­was an­de­res als ein ge­wöhn­li­cher Ta­ge­löh­ner wer­den wür­de, zu wel­cher Stu­fe ich im­mer mehr her­ab­sank.

      Schon der nächs­te Tag zeig­te mir, dass Mrs. Mi­ca­w­ber nicht ohne gu­ten Grund von ih­rem Weg­ge­hen ge­spro­chen hat­te. Die Fa­mi­lie mie­te­te sich in dem Hau­se, wo ich wohn­te, für eine Wo­che ein, um sich nach Ablauf die­ser Zeit nach Ply­mouth zu be­ge­ben. Mr. Mi­ca­w­ber kam nach­mit­tags aufs Kon­tor, um Mr. Qui­ni­on zu sa­gen, dass er mich vom Tage sei­ner Abrei­se an ver­las­sen müs­se, und zoll­te mir ein ho­hes Lob, das ich ge­wiss auch ver­dien­te. Mr. Qui­ni­on rief Tipp, den Kärr­ner, der ver­hei­ra­tet war und ein Zim­mer zu ver­mie­ten hat­te, her­ein und quar­tier­te mich im Voraus bei ihm ein. Aber mein Ent­schluss stand fest.

      Ich ver­leb­te mei­ne Aben­de mit Mr. und Mrs. Mi­ca­w­ber, so­lan­ge wir noch un­ter ei­nem Da­che wohn­ten, und wir ge­wan­nen ein­an­der noch lie­ber, je mehr die Zeit ver­ging.

      Am letz­ten Sonn­tag lu­den sie mich zum Mit­ta­ges­sen ein und wir be­ka­men Schweins­bra­ten, Ap­fel­mus und Pud­ding. Ich hat­te den Abend vor­her ein ge­scheck­tes Holz­pferd als Ab­schieds­ge­schenk für den klei­nen Wil­kins Mi­ca­w­ber und eine klei­ne Pup­pe für die klei­ne Emma ge­kauft.

      Ich schenk­te auch einen Schil­ling dem Wais­ling, der jetzt ent­las­sen wer­den soll­te.

      Wir ver­leb­ten einen recht ver­gnüg­ten Tag, wenn wir auch we­gen un­se­rer nahe be­vor­ste­hen­den Tren­nung sehr weich ge­stimmt wa­ren.

      »Ich wer­de nie an die Zeit von Mr. Mi­ca­w­bers Be­dräng­nis zu­rück­den­ken, Mas­ter Cop­per­field«, sag­te