F. John-Ferrer

Wo sind sie geblieben


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Schritte verliert sich in der Dunkelheit.

      Klotz lehnt sich an den MG-Tisch und ist plötzlich hoffnungsfroh gestimmt; er möchte am liebsten singen, aber das lässt man besser bleiben.

      Ein feiner Mensch, dieser Hajek, denkt er. Wenn er es schafft, dass ich heimfahren kann, werde ich es ihm nie vergessen. Ich werde Elsa sagen, dass wir den Jungen »Martin« taufen werden. Martin Klotz! Hm … klingt nicht schlecht. Elsa wird damit einverstanden sein.

      Die Dämmerung hat sich in ein nasskaltes Dunkel verwandelt. Das ist die Zeit, in der es drüben in der Stadt zu rumoren anfängt. Verhalten nur, gedämpft. Irgendwo zwischen den Trümmern murrt ein Motor.

      Die Russen haben ihr Störfeuer eingestellt, aber es kann jeden Augenblick wieder einsetzen.

      Von der Ziegelei weg führt ein Trampelpfad zum Stadtrand. Es ist der Verbindungsweg zwischen den bei der Ziegelei liegenden Kompaniezügen und dem Kompaniegefechtsstand. Der Kompaniegefechtsstand ist in einem von MG-Garben und Granatsplittern zerhackten Haus untergebracht. Es kauert zwischen Ruinen und ausgebrannten Häusern. Die Haustür hängt schief in den Angeln, die Fensterlöcher sind mit Zeltbahnen verhängt. Neben dem Hauseingang steht ein langer Schatten, der manchmal hustet und ausspuckt.

      Grenadier Otto Friemelt vom Nachrichtenzug ist heute zur Wache eingeteilt und steht seine zwei Stunden ab. Als in der Dunkelheit Schritte laut werden und aus dem Trümmerfeld herankommen, lässt er den Karabiner von der Schulter rutschen.

      »Halt! Parole?«

      »Sommernachtstraum«, erwidert eine bekannte Stimme.

      »Ach, Sie sind’s, Herr Feldwebel«, sagt Friemelt und schultert den Karabiner.

      »Ist der Leutnant da?«, fragt Hajek.

      »Jawohl. Er hat sich hingelegt und schläft.«

      »Wieder voll?«

      »Nicht zu knapp«, sagt Friemelt. »Hat ’n Kochgeschirr voll Kartoffelschnaps getrunken.«

      Leutnant Albert Warnicke, sechsundzwanzig Jahre alt, Sohn des Studienrats Alexander Warnicke, trinkt.

      Er trinkt, seit er seinen Bruder, den Hauptmann Egon Warnicke, bei Charkow verlor. Hauptmann Warnicke fiel bei einem Stoßtruppunternehmen Partisanen in die Hände. Man fand ihn und ein paar seiner Leute als massakrierte, zur Unkenntlichkeit verstümmelte Leichen. Und seither trinkt Leutnant Warnicke. Alle drei Wochen passiert es, dass er die Landser um Schnaps angeht oder verlangt, ihm welchen zu beschaffen. Ein hohlwangiges Gespenst läuft dann umher, mit dem man nicht reden darf. Dann übernimmt der Kompaniespieß Wastl Wohler die Befehlsgewalt und überlässt den Leutnant sich selber.

      Hat Leutnant Albert Warnicke, im Juni 1943 mit dem Ritterkreuz dekoriert, die Flasche Kognak oder das Kochgeschirr voll Kartoffelschnaps ausgetrunken, sich hingelegt und genau zwei Stunden geschlafen, dann steht ein neuer Warnicke auf: straff, sicher, soldatisch. Er ist das, was man im Kameradenkreis ein »armes Schwein« und einen »feinen Kerl« nennt. Jeder weiß, warum er zum Quartalstrinker geworden ist, und jeder versucht, ihm dann das Betäubungsmittel zu beschaffen. Das Ritterkreuz erhielt er, als er während der Kämpfe im Donezraum mit seiner Kompanie einen Stützpunkt hielt und somit die Absetzbewegungen der ganzen Division ermöglichte. Über hundert Tote lagen vor den Stellungen, elf verkohlte Sowjetpanzer; die Höhe, die er tagelang hielt, räumte er erst als der Befehl dazu kam.

      Im Gefechtsstand brennt ein Hindenburglicht auf dem wackeligen Tisch. Höhn, der Funker, bastelt eine neue Batterie in das Gerät, die beiden Melder liegen in der Ecke auf muffigem Stroh und schlafen. Am Tisch sitzt Spieß Wastl Wohler, ein bulliger Bayer, und schreibt eine Liste.

      In der hintersten Ecke des trüb erhellten Raumes liegt eine Gestalt auf dem Feldbett und schnarcht. Der Raum riecht nach Spiritus oder so etwas Ähnlichem.

      Als Hajek hereinkommt, schaut Wastl Wohler auf, grinst und sagt halblaut: »Servus, Martin. Was gibt’s?«

      Hajek wirft einen Blick zu dem Feldbett, sieht Wohler an, vollführt stumm die Geste des Trinkens, worauf Wohler nickt.

      »Wie schaut’s bei euch aus?«, fragt Wohler gedämpft. »Vorläufig herrscht noch Pause«, erwidert Hajek und setzt sich auf eine Kiste. Er deutet mit dem Kopf in Richtung des schnarchenden Kompaniechefs: »Wollte mit ihm was bereden, aber das wird wohl noch ’ne Weile dauern, wie?«

      Wohler schaut auf die Armbanduhr. »Er wird bald aufwachen. Schläft jetzt schon fast zwei Stunden.«

      »Nachrichten eingetroffen?«, fragt Hajek.

      »Ja. Das zweite Bataillon meldet verstärkte Feindtätigkeit. Bei der Furt sind Übersetzversuche abgeschlagen worden. Der Iwan macht sich wieder mausig.« Wohler grinst stoppelbärtig. »Es kommt mir vor, als gäbe es in den nächsten Tagen wieder eine Mordsschweinerei.«

      Einer der beiden schlafenden Melder lallt etwas im Traum und dreht sich auf die andere Seite. Höhn klappert mit seinem Gerät, worauf Wohler »Psssst …« zischelt.

      »Du, Urlaubsmöglichkeiten gibt es wohl keine?«, fängt Hajek nach einer Weile an.

      »Du spinnst wohl!«, erwidert Wohler. »Oder wolltest etwa du selber …?«

      »Ich nicht, nein!« Hajek schüttelt den Kopf und holt das Päckchen Feinschnitt und das Zigarettenpapier unter dem nassen, lehmverschmierten Mantel hervor. »Klotz hat von daheim Nachricht gekriegt. Er ist Vater geworden. Ein Junge ist es. Acht Pfund und hundertzwanzig Gramm schwer.«

      Der Spieß verzieht sein rundes Holzschnittgesicht. »Respekt«, grinst er. »Acht Pfund sind ein schönes Gewicht. Als ich zur Welt gekommen bin, hab ich bloß sechs Pfund gewogen.«

      In diesem Augenblick ertönt ein hohles Rauschen. Fast gleichzeitig wummst es, und dann ein fürcherlicher Knall, ein Luftstoß löscht das Licht. Dreck rieselt von der Zimmerdecke herab. Die Granate muss ganz in der Nähe eingeschlagen haben.

      Die Dunkelheit riecht nach Pulvergestank und Staub. Irgendwo prasselt etwas, als würfe man eine Handvoll Kies gegen die Hauswand.

      Dann folgt Stille.

      »Hallo!«, ertönt eine heisere Stimme. »Hallo, Jungs, ist was passiert?«

      »Nix passiert, Herr Leutnant«, sagt Wastl Wohlers tiefes Organ.

      Ein Streichholz flammt auf. Staub wirbelt im kargen Lichtschimmer. Der Funker zündet das Hindenburglicht wieder an und geht dann hinaus. Vor dem Feldbett steht eine lange, hagere Gestalt im zerknitterten Mantel, einen grauen Wollschal um den Hals gewürgt. Aus einem knochigen, stoppelbärtigen Gesicht schauen ein Paar helle, auffallend klare Augen. Vor zwei Stunden stierten sie noch. Jetzt sind diese Augen wach. Sie schauen unter dichten, schwarzen Brauen hervor.

      »Liegt was Besonderes vor, Wohler?«, fragt Warnicke und geht zu dem winzigen Holzkohlenofen, den der Funker Höhn aus einem Marmeladeneimer gebastelt hat, und hält die knochigen Hände darüber.

      »Nichts Neues, Herr Leutnant«, sagt Wastl Wohler.

      An der Tür ertönt Gepolter. Der Funker Höhn kommt herein, klappt lasch die Hacken zusammen und meldet, dass die Granate schräg gegenüber in die Trümmer eingeschlagen habe. Mit einem kurzen Blick auf den Leutnant geht Höhn in die Ecke, wo ein zweiter Tisch steht, und gießt Tee in einen Trinkbecher.

      »Bitte, Herr Leutnant«, sagt der Funker freundlich.

      Warnicke nimmt den Trinkbecher, murmelt ein »danke« und schüttet den kalten, dünnen Tee in sich hinein.

      »Aaaah …« macht er dann und wischt sich mit dem Handrücken über den stoppelbärtigen Mund.

      Warnicke scheint erst jetzt Hajek zu bemerken. Er nickt ihm zu und sagt:

      »Ach, Sie sind ja da, Hajek. Was ist los bei euch drüben?«

      Hajek steht auf. »Nichts Ungewöhnliches, Herr Leutnant.«

      Der Leutnant reibt sich die Hände und starrt in die Glut des kleinen Holzkohlenfeuers.

      Soll Hajek jetzt